Posts mit dem Label Richard Huelsenbeck werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Richard Huelsenbeck werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Montag, 27. Oktober 2025

Erwin Blumenfeld: Durch tausendjährige Zeit (1976)

Der grosse Mode- und Porträtfotograf der Nachkriegszeit blickt auf seine Lebensgeschichte zurück - mit Witz, Charme und allerhand Skurrilitäten, so dass sich die Autobiographie streckenweise wie ein ausschweifender, mit zahlreichen Episoden gespickter Schelmenroman liest, der aufgrund seiner humoristischen Selbstdarstellung mit Albert Vigoleis Thelen zu vergleichen ist, aufgrund des kulturellen Horizontes mit der Verlorenen Bibliothek des befreundeten Walter Mehring. Der Titel ist dem Gedicht Im Aquarium in Berlin des mit ihm ebenfalls befreundeten Dichters Joachim Ringelnatz entlehnt: "Aus tiefster Nacht alles Grauen / Im Funkel kindlicher Fernseligkeit. / Deine eigenen Augen schauen / Dich an durch tausendjährige Zeit."

Blumenfeld ein wandernder Zitatenschatz. Seine Memoiren gleichen einer Polyphonie an Sprüchen, Liedern und Versen aus dem Volksmund, die sich vielstimmig in seine Prosa mischen und der Lebensgeschichte das richtige Zeitkolorit verleihen. Auch verdrehte Redewendungen wie "Lange vor Freud und Leid und Jung und Alt" (14), "Schillers Handschuh geht nicht über Goethes Faust" (29), "Herzliches Beinkleid" (55), "Den Tüchtigen gehört die Halbwelt" (233) oder "Die Welt ist tief, aber negativ" (107). Seine Schlagfertigkeit habe er von der Mutter, einer "ausgesprochenen Phrasendrescherin" (23), geerbt, die Wortspielerei von seinem Vater: "Papa zitierte viel und falsch, gruppierte gern verschiedene Zitate zu neuen Effekten" (33)

In dieser heiteren Tonlage, die angesichts der beiden miterlebten Weltkriege nicht selbstverständlich ist, erzählt Blumenfeld seine Lebensgeschichte, die Auf- und Abwege vom "besseren Justemilieuknaben" (128) bis zu seiner Zeit als arrivierter Fotograf für Hochglanz-Zeitschriften wie Life, Vogue und Cosmopolitan. Ein Beruf, den er keineswegs zielstrebig verfolgte, sondern eher zufällig für sich entdeckte, als er von seinem Onkel Carl eine "photographische Klappkamera" (201) geschenkt bekam, nota bene nach einer Blinddarmoperation, der sich der junge Simulant nur deshalb unterziehen musste, weil er - offenbar überzeugend genug - Leibschmerzen vortäuschte, um den Unterricht zu schwänzen. Zumindest die "hinzugezogene Blinddarmautorität Professor Roetter" (101) liess sich hinters Licht führen.

Den Beginn seiner Fotokarriere verdankt sich somit einem Schelmenstreich. Hier zeigt sich der burleske oder vielmehr pikareske Einschlag der Erzählung: Blumenfeld stilisiert sich als Figur, die sich stets, auch in misslichen Lagen, einen Vorteil zu verschaffen weiss, indem er anderen etwas vorgaukelt. So begeht er die "Flucht in die Ehe" (202) primär nur deshalb, um sich bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ins schwedische Exil abzusetzen. Er heiratete, ohne seine Frau vorher jemals gesehen zu haben. Als der dann doch eingezogen wird, unter anderem als "Feldfreudenhausbuchhalter" (238), eine weitere schier unglaubliche Schelmengeschichte, stellt er sich eine falsche Urlaubsbescheinigung aus, um sich vor der Front zu drücken. Dafür wandert er zwar ins Gefängnis, kurz danach fällt aber das Dritte Reich und der Deserteur ist wieder auf freiem Fuss.

Eine Schelmennatur ist für das Metier eines Mode- und Porträtfotografen womöglich nicht die schlechteste Voraussetzung. Wimmelt es in diesem Berufsfeld nur von Aufschneidern, Hochstaplern, Diven, Snobs und anderen eitlen Typen. Blumenfeld fühlte sich in "diesen kunstfeindlichen Eitelkeitsmarkt", wie er den Vogue-Betrieb nennt, zeitlebens nie richtig wohl: "In diesem Ameisenhaufen unbefriedigter Ambitionen [...] blieb ich ungeachtet tausender publizierter Seiten Aussenseiter und Fremdkörper." (307) Als lachender Dritter mischt er nur am Rande mit. Sein Geld verdient er zwar in der High Society, sein Herz schlägt aber für die Bohème und die Avantgarde. Als prägendes Erlebnis schildert er die persönliche Begegnung mit Else Lasker-Schüler und George Grosz, der bei der Erstbegegnung in der "Entleerungsanstalt" am Potsdamerplatz, Blumenfeld Profil "meisterhaft an die Wand" (155) geschifft haben soll.

Eine andere Anekdote betrifft ein in eine veritable Orgie ausgeartetes Saufgelage im Atelier von George Grosz mit dem "legendären Hochzeitsweine" (275) an dem angeblich Walter Mehring, Gottfried Benn, George Grosz, Richard Huelsenbeck, Erwin Piscator und Wieland Herzfelde teilgenommen haben und das der ebenfalls beteiligte Mynona in einer Geschichte verewigt haben soll (276). Vermutlich handelt es sich um eine Sequenz aus dem "Unroman" Die Bank der Spötter (1919), wo die als "Literaturbordell" verschrienen Frivolitäten einer gewissen Geheimrätin K. geschildert werden. - Auf diese Weise liesse sich weiter Episode an Episode reihen. Blumenfeld ist trotz seiner stupenden Sprachmächtigkeit kein Romancier: Er hat nur eine Geschichte zu erzählen: diejenige seines Lebens. Und die könnte er ewig ergänzen, ausschmücken, fortführen. Alles, was ihn als Person ausmacht, trägt er als lebendiger Erzählschatz in und mit sich herum.

Erwin Blumenfeld: Durch tausendjährige Zeit. Frauenfeld: Huber, 1976.

Montag, 29. April 2024

Melchior Vischer: Sekunde durchs Hirn (1920)

Die Dadaisten haben nur wenige Romane geschrieben, Ausnahmen bilden etwa Hugo Balls Tenderenda, der Phantast, der zu Lebzeiten jedoch nie erschienen ist, oder Richard Hueslenbecks Dr. Billig am Ende, der indes noch stark expressionistisch angehaucht ist. Den vielleicht einzig wirklichen Dada-Roman hat der später mit dem Kleistpreis ausgezeichnete böhmische Schriftsteller Melchior Vischer verfasst. 1920 erschien Sekunde durchs Hirn in der renommierten Reihe der Silbergäule im Verlag Paul Steegmann mit der Umschlaggestaltung von Kurt Schwitters, der das Label "dada" quer über die Titelseite zieht. Auf selbstreferentielle Weise preist sich auch der Text als Dada-Produkt an: "Wo doch Melchior Vischers dada-Spiele die Wohlfeilsten sind, was wir derzeit haben." Der Roman endet entsprechend mit einer Apotheose Dadas: "Wir trümmern, trümmern, und da da vom Grund auf, zuerst also kröch lackierte Sprache, daß nur übrig bleibt das einzige große DADA. - Huelsenbeck, Baader und Schwitters seid gegrüßt." 

Der Satz verrät bereits etwas von der besonderen Sprachstruktur des "unheimlich schnell rotierenden Romans", der alle Konventionen des Erzählens aus den Angeln hebt und bewusst grammatikalische Regelverstösse in Kauf nimmt, so dass mitunter ganz neue Satzstellungen und schiefe Sprachbilder entstehen: "Über Italien schnellzugte Jörg nach Südtirol", "Früh nahm ihn D-Zug in seine Arme, fächelte ihn in Budapest auf den Boulevard. Ernst antrat Jörg die Beamtin, boste ihm auf Madjarisch zu" usw. Das sind nur wenige Kostproben, um die originelle, dabei stets souverän gehandhabte Sprachverdrehung zu illustrieren, die dem Text eine eigene, gedrängte Rhythmik und Dynamik verleihen, die sich auch auf der Handlungsebene spiegelt, welche kaum zur Ruhe kommt, weil sich die Ereignisse Knall auf Fall überstürzen. Das 'Sturzhafte' ist sowohl ästhetisches Programm wie auch zentrales Motiv.

Der Roman beschreibt nichts anderes als einen Sturz. Den Sturz von Jörg Schuh vom Baugerüst herunter, weil er einer Frau mit üppigem Ausschnitt nachgesehen hat, und während dem Sturz jene "Sekunde", die ihm dabei "durchs Hirn" schiesst. Es ist eine "in die Ewigkeit" gedehnte Sekunde, als im freien Fall das Leben an Jörg Schuh vorbeirauscht. Bevor er unten auf dem Asphalt aufschlägt, durchfahren ihn nochmals alle Episoden seines "abenteuerlichen Daseins", um einen Ausdruck von Alexander Moritz Frey zu wählen, dessen Buch mit diesem Titel in der Rasanz und Absurdität, wie die Welt durchschritten wird, eine gewisse Gemeinsamkeit mit Vischers Roman aufweist.

Geschildert werden die Erlebnisse besagten Jörg Schuhs, eines "Schalksnarren" und einer Schelmenfigur mit ungeheurer Potenz. Geboren als Kind eines (wie man damals unverfangen sagte) "Negers" und einer Hafenhure ist er ein Mulatte mit einem weissen und einem schwarzen Ohr. Auf dem weissen ist er taub, auf dem schwarzen jedoch "hört er alles Vergangenes und Zukünftiges". Das ist nur eines von vielen absurden (oder bei längerem Nachdenken vielleicht auch bedeutsamen) Details des Romans, der in Windeseile alle Erdteile durchläuft und den Protagonisten von seinen gossenhaften Anfängen über den St. Gotthard nach Lissabon, dann Amerika, zu den Eskimos, den Kannibalen und wieder durch ganz Europa bis nach Japan, rasch auf den Mond und schliesslich wieder auf die Erde führt, in eine rast- und ruhelosen Pilgrimage als hätte er Siebenmeilenstiefel angeschnürt.

Dichtgedrängt und rhapsodisch wird dergestalt eine epische Weltreise zum minimen Zeitintervall jener Sturzsekunde komprimiert, die der Protagonist im freien Fall durchzuckt. Dass der als exotischer Mischling geborene und weltläufige Abenteurer, mehrfach gekürter Präsident und Häuptling, schliesslich als biederer Bauarbeiter endet und auf dem Boden aufschlägt, markiert nur eine der vielen gezielt einkalkulierten Ungereimtheiten, mit denen der Text fortlaufend aufwartet. Eine Nachbemerkung versucht die sich überbordende Handlung durch einen Schluss zu mildern, der wieder mehr "nach dispositionaler Erzählung stinke", um - wie es heisst - die "Kinoseelen" zufrieden zu stellen. Mit dem Kino wird das damals bahnbrechende mediale Paradigma aufgerufen, das Vischers Miniroman offensichtlich konkurrieren will, wenn er weitaus mehr als die üblichen 24 Bilder pro Sekunde vor dem geistigen Auge seiner Leserschaft vorbeiziehen lässt. Vischer, der wie viele Dadaisten ein Verehrer von Chaplin war, versucht als einer der Ersten, die neue cineastische Ästhetik auch für die Literatur fruchtbar zu machen, ja mehr noch: sie literarisch sogar zu überbieten.