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Montag, 1. Dezember 2025

Martina Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen (2025)

"Das hier ist kein Krimi" (88), sagt die 'Alte' relativ zu Beginn des Romans. Später aber muss sie ihre Aussage revidieren: "mittlerweile bin ich mir da selbst nicht mehr sicher" (230). Am Ende angekommen darf man bilanzieren: Es ist durchaus ein Krimi, sogar ein tatortwürdiger, besitzt er doch alle Ingredienzen, die es dafür braucht: Eine Leiche, die das Geschehen ins Rollen bringt, zwei schrullige und diametral verschiedene Ermittlerfiguren, Lokalkolorit, historische und sozialpolitische Kontexte, eine unglückliche Beziehungsgeschichte, prekäre Jugendliche, falsche Verdächtige, ein Komplott und last but not least eine grosse Drahtzieherin im Hintergrund. Kein Wunder heisst die - als schräge Miss Marple im Hippie-Look auftretende - Privatschnüfflerin bei Clavadetscher schlicht "die Alte": eine Hommage an die beliebte Krimi-Serie Der Alte.

Manche Rezensenten erkannten eher in Dürrenmatt als in Fernsehkrimis das Vorbild für Clavadetschers neustem Roman. Doch man soll sich vom vorangestellten (oder vielmehr: aufgesetzten?) Motto aus Dürrenmatts Stoffen nicht in die Irre führen lassen: mit seiner Dekonstruktion des Krimigenres hat Die Schrecken der Anderen kaum etwas gemein. Klar, die bei Dürrenmatt dominante Labyrinth-Metapher wird hier zwar aufgerufen (42, 93, 236) und am Ende erscheint mit der amputierten und "uralten Frau" Mutter (59) ein grandioser Verschnitt zwischen der Prothesenfrau Claire Zachanassian aus Der Besuch der alten Dame und der Zwergin Monika Steiermann aus Justiz. Als weitere Parallele liesse sich noch anführen, dass es wie in Dürrenmatts Der Verdacht um eine Nazi-Vergangenheit geht, die wieder "an die Oberfläche" (88) gerät. Damit enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten.

Denn im Unterschied zu Dürrenmatts Antikrimis, handelt es sich hier tatsächlich um einen veritablen Krimi, der technisch einwandfrei mit allen Mitteln der Suspense arbeitet und die Spannung durch zwei parallel laufende Handlungsstränge kontinuierlich aufrecht erhält, bis sie im furiosen Finale zusammenlaufen, das fast schon plakativ mit poetischer Gerechtigkeit aufwartet: Die Bösen sind bestraft, die Guten gehen moralisch gestärkt als Sieger hervor. Das entspricht mehr einem TV-Narrativ als der Dürrenmatt'schen Formel von der schlimmstmöglichen Wendung. Dass sich Clavadetscher vielmehr an einer cineastischen Erzählweise orientiert, belegt der Name der Leiche: "McGuffin" (111). So nannte Hitchcock ein vorantreibendes, spannungssteigerndes Element der Filmhandlung, das an sich aber bedeutungslos ist.

Tatsächlich stösst auch die Leiche bei Clavadetscher Enthüllungen an, mit denen sie letztlich nur in sehr losem Zusammenhang steht. Vielmehr stellt sie eine Art Metapher für den Auflösevorgang dar, ein Symbol für eine eingefrorene Vergangenheit, die durch das Tauwetter stückweise wieder zum Vorschein kommt. Wie subtil diese Metaphorik den Text durchzieht, zeigt sich etwa darin, wenn die Mutter, die sich als zähe Nazi-Vettel entpuppt, anfänglich mit "dreckigem Restschnee" verglichen wird, "der in gewissen Tälern bis Mai liegen bleibt" (58), was bereits auf ihr verstümmeltes Ende vorverweist, wo sie nurmehr als Grippe mit "bräunlich fleckiger Haut" neben einer ebenso braunen NSDAP-Uniform liegt (313). Sie erscheint als Schreckgespenst aus der Vergangenheit oder vielmehr als Ungeheuer aus der Urzeit und steht so wiederum in Zusammenhang mit der Drachensage von der "tödlichen Riesenechse" (151), die im Roman erzählt wird und ironisch als im Titel einer TV-Serie widerhallt: "Mother of Dragons" (117).

Auf diese Weise zieht die Autorin ein dichtes Bedeutungsgeflecht. Auch sonst ist der Roman raffiniert aufgebaut und motivisch verwoben. Alle Fäden laufen auf dem Schauplatz des Ödwilerfeldes am Fusse des als "Drachenstein" (152) bekannten Frakmont-Gebirges zusammen, wo die Leiche gefunden wurde, ein Holocaust-Mahnmal errichtet werden soll, was der "Jungen Aktion", die dort ihr Unwesen treibt, ebenso ein Dorn im Auge ist wie der männerbündnerischen Ortsgruppe, die in ein Bauprojekt auf dem Feld investieren will. Ihr Fanatismus macht sie blind gegenüber der Geschichte oder versperrt ihnen die Sicht auf das Vergangene: "Weil niemand jemals etwas aus den Schrecken der anderen lernt." (183) Die Aufgabe der Alten, die als mythologische Rächerin, als "Furie" (223) bezeichnet wird, sieht ihre Aufgabe darin, "die vergessenen Fäden" der Geschichte "ins Sichtbare zu ziehen" (183).

Clavadetscher, die in ihren neusten Roman weitgehend auf formale Experimente verzichtet, erzählt souverän, handlungsnah, zuweilen etwas schablonenhaft, aber stets mit kleinen auktorialen Kommentaren oder sentenzenhaften Nebensätzen, die sich zwischen die straffe Narration schieben und augenblicklich einen Reflexionshorizont eröffnen: "Das Leben produziert unablässig Archivmaterial, denkt Schibig, Mappen des organisierten Vergessens." (205) Nach der Lektüre wünscht sich das Lesefrüchtchen jedenfalls, Clavadetscher möge das Drehbuch zum nächsten Schweizer Tatort verfassen, um ihm endlich aus der Misere zu helfen. Denn wie es an einer Stelle heisst: "Es geht nicht nur darum, wer die Geschichte erzählt. Es geht darum, wer die Geschichte besser erzählt." (129) Und Clavadetscher kann es definitiv besser. Ihr Roman jedenfalls bietet sich für eine Verfilmung geradezu an.

Martina Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen. Roman. München: C.H. Beck, 2025.

Donnerstag, 25. September 2025

Stanislaw Lem: Herr F. (1976)

Es handelt sich weniger um eine eigentliche Erzählung als vielmehr um einen Bericht oder eine Meta-Erzählung über eine nicht-geschriebene Erzählung, deren Handlung in groben Zügen skizziert wird. Wie das Initial F. andeuten soll, ging es Lem darum, den Fauststoff neu zu schreiben. In die Rolle des Mephisto tritt eine ominöse Firma, ein "Dienstleistungsunternehmen" (90), das dem Herrn F. vertraglich die Erfüllung und Befriedigung aller Wünsche zusichert. Dieser geht den merkwürdigen Deal ein - und tatsächlich fügt sich alles so, wie er es vorstellt. Dabei kommen ihm aber Zweifel, ob alles nur auf Zufällen und Koinzidenzen beruht oder ob er doch an Wunder der Firma glauben soll. Es stellt sich, anders formuliert, eine Glaubensfrage ein: "Herr F. kommt zum Bewusstsein, dass sein Verhältnis zu der Firma an das Verhältnis zu Gott erinnert." (94)

Von der Anlage her also mehr Gedankenexperiment, das eine metaphysische Frage aufwirft. Das mag ein Grund sein, weshalb die Erzählung literarisch unausgeführt blieb. Darin ist sie Friedrich Dürrenmatts Stoffen nicht unähnlich, der in seinem Spätwerk ebenfalls seine ungeschriebenen Geschichten aufgreift, in denen häufig ein abstraktes Problem verhandelt wird, und sie - begleitet von ausführlichen Metakommentaren - indirekt zur Darstellung zu bringen versucht. Lem hingegen weicht rasch von seiner Nacherzählung ab und lenkt den Text auf allgemeine gesellschaftliche Betrachtungen, die einigen politischen Zündstoff aufweisen. Es erweckt daher den Eindruck, als hätte Lem seine nicht umgesetzte Idee bloss als Vorwand gewählt, um unter diesem Deckmantel ein paar höchst brisante Gedanken einzukleiden.

Ausgehend von Karl Poppers Konzept einer offenen Gesellschaft holt Lem zu einer Gegenwartsdiagnose aus, die heute kaum an Gültigkeit eingebüsst hat, ja mehr denn je ins Schwarze trifft. Lem sieht die "Menschheit am Scheidewege" und erkennt im heutigen Faust die verführte Masse: "der einzige Faust der Gegenwart" ist "der kollektive Faust" (105). Im schleichenden Übergang von einer offenen zu einer geschlossenen Gesellschaft, wie schon im Faschismus, liege der mephistophelische Pakt, der letztlich zu einer Versklavung des Individuums führe, da die Selbstverantwortung an den Staat abgetreten und die Zufälligkeit aus der Zivilisation zugunsten einer starren Reglementierung verbannt werde. So schafft sich die Menschheit "ein Paradies der völligen Entmündigung" (109), weil die Freiheit einer scheinbaren Unbeschwertheit geopfert wird.

Lem erkennt im Wohlfahrtstaat somit nicht nur Vorteile, sondern sieht darin eine gefährliche Abhängigkeit: "Unsere Zeit ist eine Zeit der Übertragung individueller Schicksale an Institutionen. [...] In diesem Sinne ist die Zivilisation eine Einrichtung mit dem Zweck, die Zufälligkeit aus dem menschlichen Leben zu verbannen" (108). Lem denkt diesen Trend weiter und findet, dass er nur in einem totalitären System enden kann, selbst wenn die Absichten noch so wohlmeinend sind. Denn auf den Weg in die geschlossene Gesellschaft kann auch "die 'allestolerierende' Gesellschaft (permissive society) geraten. Der Übergang zur geschlossenen Gesellschaft kann hier so sanft und allmählich vor sich gehen, dass er überhaupt nicht bemerkt wird" (107).

Wenn wir auf unsere Gegenwart blicken, stellt sich die berechtigte Frage, ob wir erneut an diesem Wendepunkt stehen und unbemerkt in eine geschlossene Gesellschaft schlittern, da nicht wenige der heute geführten Debatten zwar die "schönsten humanistischen Werte" hochhalten, aber oft auf "eine apodiktische und nicht zu korrigierende" (106) Weise, die eine Diskussion a priori verunmöglicht. Gerade aber eine solche "hermetische Abkapselung" (106) und starre Ideologisierung - und keineswegs in erster Linie Gewalt und Antihumanismus - seien Anzeichen für eine geschlossene Gesellschaft.

Stanislaw Lem: Herr F., übers. von Jens Reuter, in: Die Maske / Herr F. Zwei Erzählungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977.

Freitag, 19. September 2025

Stanislaw Lem: Die Untersuchung (1959)

Ein - eher untypisches - Frühwerk des später als Sciene-Fiction-Autor bekannten Schriftstellers. Gemäss Untertitel ein "Kriminalroman", wobei es sich eher um eine Parodie auf den Kriminalroman bzw. einen Meta-Kriminalroman handelt in der Art eines Gedankenexperiments à la Friedrich Dürrenmatt, zuweilen mit längeren pseudowissenschaftlichen Exkursen über das Verhältnis von Intuition und Statistik. Letztlich wirft der Roman die Frage nach der Sichtweise auf bestimmte Ereignisse und deren Interpretation auf. Es ist damit bereits klar, dass es am Ende keine Auflösung des Falls wie im klassischen Krimi gibt (es ist sogar unklar, ob es jemals überhaupt einen 'Fall' gab), sondern offen bleibt, ob die ganze "Untersuchung" bloss in die Irre ging. Was als mysteriöse Serie eines scheinbar intellektuell überragenden Verbrechers beginnt, der mit der Polizei Katz und Maus spielt, kippt rasch auf die Metaebene, in der die Frage nach den epistemischen Bedingungen im Vordergrund stehen.

Leutnant Gregory von Scotland Yard wird ein scheinbar aussichtsloser Fall zugewiesen, den er - von "Kühnheit" und "Trotz" gepackt - aber unbedingt lösen will. Leichen verschwinden der Reihe nach aus Leichenhäusern oder werden über Nacht "bewegt", offenbar nach einem geheimen Muster, das Professor Seiss mit statistischen Methoden ermitteln will, dabei allerdings abstruse Hypothesen entwickelt und sogar die Temperatorunterschiede an den Tatorten als Faktor miteinbezieht. Schliesslich gelangt er zum Schluss, dass der Fall "nichts mit Kriminologie zu tun" habe, sondern letztlich lediglich "etwas ganz Normales", ein "im alltäglichen Verständnis" lediglich noch unbekanntes "Phänomen" vorliege (135). Da der Professor, wie Gregory im Lauf seiner Untersuchung feststellen muss, offensichtlich aber nekrophile Neigungen hegt, gerät er selbst in den Kreis der Verdächtigen. Doch je mehr sich der Verdacht bestätigt, desto stärker zweifelt Gregory an der Richtigkeit. Die Paradoxie kulminiert in Seiss' offenem Geständnis, das Gregory "endgültig" dazu bringt, seinen Verdacht "aufzugeben" (224). So kann der seltsame Fall letztlich nicht gelöst, sondern bloss ad acta gelegt werden.

Der Roman gipfelt in der Erkenntnis, "dass ein Täter gar nicht existiert" (55), er aber dennoch für Gregorys Selbstverständnis notwendig ist: "Die Existenz eines Täters, ob gefasst oder nicht, ist für Sie keine Frage von Erfolg oder Niederlange, sondern von Sinn oder Sinnlosigkeit des Handelns." (180) Und weiter wird der junge, ehrgeizige Leutnant belehrt: "Niemals werden Sie auf einen Täter verzichten, weil seine Existenz die Ihrige impliziert." (181) Der Täter nichts anderes als die Projektion des Polizisten, gewissermassen eine déformation professionelle? Tatsächlich neigt Gregory zu einer paranoiden Wahrnehmung. Er lässt sich rasch und gerne täuschen, was durch das ostentativ eingesetzt Spiegel- und Puppenmotiv unterstrichen wird. Hinter allem glaubt Gregory "eine deutliche, wenn auch verborgene Bedeutung" zu erblicken", sogar die Klopfgeräusche in seinem Zimmer evozieren bei ihm die wildesten Spekulationen: "Schliesslich war es schwierig, alles auf den Zufall zu schieben." (190) Denn bereits in seiner Jugend stellte für Gregory der Zufall ein Ärgernis dar, dessen "Geheimnis" (19) er ergründen wollte. Am Ende seiner Ermittlung muss er jedoch konstatieren, dass alle Erklärungsversuche "in Wirklichkeit partikulär und zufällig sind" (229) und "nur der blinde Zufall" (231) waltet.

Ein ernüchternde Bilanz, allerdings mit viel auktorialer Ironie unterfüttert. Es bleibt in der Schwebe, ob Leutnant Gregory sich alles nur falsch zusammenreimt oder ob ihn sein Vorgesetzter, der ominöse, scheinbar allwissende Inspektor Sheppard, der mit Professor Seiss überdies gut befreundet ist, ihn lediglich an der Nase herumführt, um ihn auf die Probe zu stellen. Die bittere Pointe des gesamten Romans, die aus dem Arbeitsleben bestens bekannt ist, besteht darin, dass sich Gregory mit der offiziellen Sichtweise des Vorgesetzen, zufrieden geben und sich "an die Richtlinien für die Zukunft" (241) halten muss. Der Inspektor mahnt ihn sogar, als er mit Hinweis auf eine Studie über den angeblichen Wahnsinn von Jesus die Debatte erneut aufrollen will, von "biblischen Analogien" abzusehen und sich an das Wahrscheinliche zu halten: "ich bin überzeugt, dass sie nicht der einsame Rufer in der Wüste spielen wollen" (241). - Ironischerweise drückt sich der Inspektor mit der Redewendung vom "Rufer in der Wüste" just in einer biblischen Analogie aus.

Stanislaw Lem: Die Untersuchung. Kriminalroman. Aus dem Polnischen von Jens Reuter und Hans Jürgen Mayer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978.