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Donnerstag, 6. November 2025

Mary Shelly: Frankenstein (1818)

Eine passende Lektüre für Halloween: Frankenstein - neben Bram Stokers Dracula ist das der Horrorklassiker schlechtweg. Und oft wird das Monster mit seinem Schöpfer verwechselt. Denn im Unterschied zu Dracula ist Frankenstein nicht der Name der schaurigen Kreatur, sondern ihres Erschaffers: des jungen Schweizer Naturwissenschaftlers Victor Frankenstein aus Genf. Aus dessen Perspektive wird, vermittelt durch den Abenteurer Robert Wilson, die Geschichte mit epischem Atem erzählt: Wie er aus faustischem Erkenntnisdrang die Grenzen des zulässigen Wissens überschreitet, mit dem Geheimnis des Lebens experimentiert und schliesslich Opfer seiner eigenen Schöpfung wird, nachdem er sich angewidert von ihr abgewandt hatte. Nur wenige Minuten, nachdem sein Wesen, belebt durch den "Funken des Seins", "das trübe gelbe Auge" öffnet, erfüllen "Abscheu und atemloses Grauen" Frankensteins Herz, als er die missgebildete Kreatur erblickt: "Unfähig, den Anblick des Wesen zu ertragen, das ich erschaffen hatte, floh ich aus dem Labor." (53) Doch das Monster wird ihn in einem erbitterten Kampf bis ans Ende der Welt verfolgen, um sich an ihm für seine unglückliche Existenz zu rächen.

Während Frankenstein über Monate hinweg seelenruhig "in Grüften und Beinkammern" (46) Leichen untersucht, ohne dabei auch nur den geringsten Schauer zu empfinden, schlägt sein Erfinderstolz beim Anblick seines Geschöpfs augenblicklich in abgrundtiefe Abscheu um: "aber nun, da mein Werk vollbracht war, verblasste der schöne Traum, und Abscheu und atemloses Grauen erfüllte mein Herz" (53). Während er Leichen als bloss "leblose Körper" (46) betrachtet, hat er es nun mit einer lebendigen, ja gar mit einer "dämonischen Leiche", nämlich einer "erneut zum Leben erwachten Mumie" (54) zu tun. Rühmte er sich zuvor, dass nie ein "übernatürlicher Schrecken" (46) seinen Verstand getrübt habe, verlässt ihn angesichts seines Geschöpfs jedwede rationale Fassungskraft, die ihn überhaupt erst jene Erfindung machen liess. Das Produkt naturwissenschaftlicher Spitzenleistung wird in einem Atemzug zu einer Ausgeburt der Hölle. Dieser drastische Gesinnungsänderung mag übertrieben und psychologisch unplausibel wirken. Diegetisch erklärt sie aber, weshalb sich das Geschöpf von Anbeginn verstossen und ungeliebt empfindet. Anders als Viktor kann es auf keine behütete Kindheit und "liebevollere Eltern" (28) hoffen, da es von seinem Schöpfer von Anbeginn nicht akzeptiert wird, nicht als "Adam", sondern als "gefallener Engel" behandelt wird (103).

Gerade diese harsche Zurückweisung lässt die künstlich aus Leichenteilen zusammengesetzte Gestalt böse werden (und schliesslich Frankensteins jüngerer Bruder Wilhelm ermorden) - zumindest der eigenen Darstellung zufolge, die im zweiten Teil des Romans ausführlich geschildert wird. Wie das Monster seine eigene Hässlichkeit erkennt, wie er sich deshalb vor den Menschen verbirgt, sie heimlich aber beobachtet und dadurch nicht nur Sprechen, sondern auch Lesen lernt. Zufällig findet er ein Büchlein mit Die Leiden des jungen Werthers, dessen Lektüre ihm die eigene tragische Situation vor Augen führt: Ihm fehlt eine Partnerin, mit der er glücklich sein könnte, weshalb er von Frankenstein fordert, "eine Kreatur des anderen Geschlechts" zu erschaffen: "so monströs wie ich selbst" (158), um nicht länger gesellschaftlich isoliert zu sein: "Überall sehe ich Glückseligkeit, von der ich unwiderruflich ausgeschlossen bin. Ich war gütig und gut. Nur das Elend liess mich böse werden. Mach mich glücklich und ich werde erneut tugendhaft sein." (103)

Das alles erfährt der Leser in dritter Instanz: Es gehört zum erzähltechnischen Kniff des Romans (aber auch zu seiner besonders verschachtelten Architektur), dass er im Bericht von Wilson einen Binnenbericht enthält: Wilson gibt wieder, was Frankenstein ihm erzählte, darunter auch, was das Monster diesem wiederum erzählte - alles in direkter Rede, als würden die Betroffenen selbst sprechen. Dadurch gewinnt die Erzählung an unmittelbarer Lebensnähe und manchmal unterläuft der Autorin tatsächlich, dass sie die komplexe Erzählanlage vergisst und direkt in eine Ich-Perspektive kippt. Zugleich steht durch diese Erzählanlage andererseits die Verlässlichkeit dieser Berichte fortlaufend in Frage. Frankenstein erzählt Wilson seine Geschichte, als er schon halbwegs im Wahnsinn liegt, während er zugleich die Redlichkeit seiner Kreatur in Zweifel zieht, ihn als Lügner und Schönredner bezichtigt und ihm deshalb auch seinen Wunsch verweigert, ein weibliches Pendant zu erschaffen.

Nach dieser erneuten Abfuhr schwört ihm das Monster Rache und droht, bei seiner Hochzeitsnacht zu erscheinen, um ihn im Gegenzug an seinem eigenen Glück zu hindern (186). Diese Drohung hallt in Frankenstein nach (210, 213), weshalb er die Heirat zum Unverständnis seiner Verlobten Elisabeth hinauszögern will. Frankenstein erkennt, dass er zum "Sklaven seiner Schöpfung" (168) geworden ist, sich mit dem missglückten Menschenexperiment eine persönliche Nemesis geschaffen hat, ein "Unhold", ein "Dämon" (75), ein "Teufel" (221), der nicht ruhen wird, bis er selbst ins Unglück stürzt. Als schliesslich die Hochzeit herannaht, ist das Monster auch zur Stelle und erwürgt Frankensteins Verlobte. An diesem Punkt folgt der dialektische Umschlag: In seiner Verzweiflung startet nun Frankenstein einen blindwütigen Rachefeldzug gegen sein Geschöpf und verfolgt es zunächst entlang der Rhône bis hinauf in die Polargegend. Mit einer Besessenheit, wie sie später nur Kapitän Ahab kennt, jagt Frankenstein seinen "Feind" (230) durch die Eismeere - und zweifellos liess sich Herman Melville durch die Schilderung dieser schrecklichen Schneewüste zu seinem "Weissen Wal" inspirieren.

Gemessen an heutigen Sehgewohnheiten kann der Roman nur bedingt als Horror-Roman gelten. Wer ihn unter dieser Erwartung liegt, wird aufgrund seines langen epischen Atems zwangsläufig enttäuscht. Auch wenn die Idee eines lebendigen Leichnams, eines Zombies avant la lettre, damals schockierend gewesen sein musste und die Schilderung des mordenden Monsters furchteinflössend und Frankensteins Grabschändungen durchaus gruselig, dominieren im Roman nicht die Schockmomente, sondern die psychologische Situation, die durch die personale Erzählweise umso dringlicher erscheint. Spürbar ist das insbesondere dort, wo der Überschwall emotionaler Rede sich disproportional zur relativ simplen Plotstruktur verhält. In dieser sprachlichen Weitschweifigkeit handelt es sich letztlich auch um einen rhetorischen Roman. Von Frankensteins Beichte bis hin zum Schlussmonolog des Monsters als Märtyrer stehen grosse, emotionsgeladene Reden im Vordergrund, die - dem Drama nicht unverwandt - der Erzählung letztlich ihre Dramatik verleihen.

Der Roman erlebte eine leicht überarbeitete Neuauflage 1832. Doch den anhaltenden Weltruhm bescherte ihm ein Jahrhundert später die Verfilmung mit Boris Karloff in der Rolle des Monsters. Seine Maske mit dem kantigen Kopf und der Narbe an der Schädeldecke sowie den Elektroden am Hals hat sich tief ins kulturelle Gedächtnis eingegraben. Doch mit der Romanvorlage hat der Film und alle weiteren Sequels wie Frankensteins Braut (1935), Frankensteins Sohn (1939), Frankensteins Haus (1944) usw. nur noch sehr wenig zu tun. Der gravierendste Unterschied besteht darin, dass im Film dem künstlichen Menschen unwissentlich das Hirn eines Massenmörders eingepflanzt wurde, er also ab ovo zum Gewaltverbrecher bestimmt ist, während der Reiz des Romans gerade in der moralischen Frage liegt: Ist die Kreatur genuin böse oder ist sie es durch seine Lebensumstände und die soziale Ausgrenzung erst geworden. Das Monster selbst stellt sich auf den zweiten Standpunkt, allein seine Aufrichtigkeit wird von Frankenstein mehrmals in Zweifel gezogen. Mehr noch attestiert er seinem Geschöpf eine Persuasionskraft und stempelt es also zum unzuverlässigen Erzähler. Doch wie zuverlässig ist Frankenstein selbst, der seine Geschichte bereits halb im Wahnsinn mitteilt? Aus diesen Unschärfen seiner komplexen Erzählsituation zieht der im Grunde simpel gestrickte Roman seine Stärken.

Die Entstehungsgeschichte ist ebenso legendär wie das von der nur knapp 19jährigen Mary verfasste Buch selber. Gemeinsam mit ihrem späteren Gemahl Percy Shelley, ihrer Stiefschwester Claire Clairmont und deren Liebhaber, dem notorischen Dandy-Dichter Lord Byron, sowie seinem Leibarzt John Polidori verbrachte sie die Sommermonate 1816 in der Villa Diodati in Genf, die heute noch existiert, sich aber in Privatbesitz befindet. Das Jahr 1816 ging als Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein, da die klimatischen Verhältnisse durch einen Vulkanausbruch in Indonesien erheblich gestört waren. Die Atmosphäre verdüsterte sich, die Temperaturen sanken und viele heftige Gewitter gingen über dem Genfer See nieder, so dass die englische Gruppe mehrheitlich gezwungen war, sich im Innern aufzuhalten, wo sie zur Zerstreuung eine französischsprachige Sammlung deutscher Gespenstergeschichten lasen: die Fantasmagoriana, in Deutschland unter dem Titel Gespensterbuch von Johann August Apel und Friedrich Laun herausgegeben. Der Regisseur Ken Russell hat die Begebenheit in seinem Film Gothic (1986) in schwülstigen Bildern imaginiert, die sich mancher verbürgter Versatzstücke bedienen, aber insgesamt wenig mit der historischen Realität zu tun haben.

Auf einen Vorschlag von Byron sollen alle eine eigne Gruselgeschichte verfassen: Polidori schreibt in der Folge die Erzählung The Vampyre, die Bram Stoker später zu seinem Dracula inspirieren wird, und Mary legt einen ersten Entwurf zu Frankenstein vor, der zwei Jahre später in Buchform erscheinen wird: mit einer Widmung an ihren Vater William Godwin, doch anonym, ohne Angabe der Verfasserin, da ihr der Stoff wohl zu kühn erschien und es für Frauen um 1800 ohnedies nicht einfach war als Autorinnen akzeptiert zu werden. Tatsächlich äussert sich ein Kritiker der Quarterly Review entsetzt über das "Wirrwarr aus grauenvollen und abscheulichen Absurditäten" und fragt sich am Ende, "ob das Hirn oder das Herz des Autors das kränkere" sei. In der zweiten, überarbeiteten Auflage von 1831, die dann unter ihrem vollen Namen Mary Wollstonecraft Shelley erschien, schildert die Autorin in der Vorrede ausführlich die Entstehungsgeschichte des Romans im Juni 1816, die seither mit zu seinem Renommee massgeblich beigetragen hat. 

Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Die Urfassung. Aus dem Englischen neu übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. Düsseldorf: Artemis & Winkler Verlag, 2006.