Posts mit dem Label Marcel Proust werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Marcel Proust werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Donnerstag, 4. April 2024

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag (2010)

Umberto Eco schrieb dicke historische Wälzer bevorzugt zu Themen, mit denen sich der 2016 verstorbene Semiotiker und Philosophieprofessor aus Bologna auch wissenschaftlich auseinandersetzte. In einem seinem letzten umfangreichen Roman sind dies die notorischen «Protokolle der Weisen von Zion», ein aus verschiedenen literarischen Vorlagen zusammengeschustertes antisemitisches Machwerk, das um 1900 zu Propagandazwecken entstanden ist, aber bis heute als vermeintlich glaubwürdiges Dokument einer jüdischen Weltverschwörung zirkuliert, obschon es bereits seit 1922 erwiesenermassen als Fälschung entlarvt wurde. Auch Eco hat zu den Protokollen geforscht und ihre betrügerische Machart offengelegt und ist dabei auf vorher unbeachtete Quellen aus dem französischen Roman feuilleton des 19. Jahrhunderts gestossen, die indirekt in die Protokolle eingeflossen sind. Zum einen eine Szene aus Eugène Sues Roman Le juif errant, der in den Jahren 1844 bis 1845 in der linksgerichteten Zeitung Le Constitutionnel erschienen ist, sowie eine Verschwörungsszene aus Alexandre Dumas’ Cagliostro-Roman Joseph Balsamo von 1849. Die dort geschilderte Geheimversammlung auf dem Donnerberg im Vorfeld der französischen Revolution übernimmt der deutsche Schriftsteller Hermann Gödsche relativ unverstellt für seinen Historienschinken Biarritz, der 1868 unter dem Pseudonym Sir John Ratcliffe erscheint. Der einzige Unterschied: Der Treffpunkt der Verschwörung wird in den Friedhof nach Prag beim Grab von Rabbi Löw verlagert und die Gruppe der Konspiranten konstituiert sich nunmehr durch die zwölf Stämme Israels. Diese Schilderung wiederum bildete die Steilvorlage für die Protokolle, welche die fiktionale Darstellung als real vorgeben.

Und dieselbe Friedhofs-Szene gibt schliesslich nicht nur Ecos Roman den Titel, sondern figuriert dort auch als Schlüsselstelle, die in beliebiger Variation Verwendung für ein konspiratives Rahmennarrativ finden kann. Sie ist quasi die Mutter aller Verschwörungstheorien. In epischer Breite erzählt Eco die Entstehungsgeschichte der «Protokolle der Weisen von Zion», wobei die meisten Ereignisse den historischen Tatsachen entsprechen und auch die auftretenden Figuren hauptsächlich auf realen Vorbildern beruhen. Es ist ein Stelldichein einschlägiger Namen aus Politik, Literatur und Religion des 19. Jahrhunderts. Neben den schon erwähnten Alexandre Dumas und Hermann Gödsche treten weitere Figuren auf wie der Pamphletist Maurice Joly, der Kriminalist Eugène François Vidocq, dem Fake-Journalisten Leo Taxil, der einem Komplott zum Opfer gefallenen Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus, der britische Staatsmann Benjamin Disraeli, der italienische Freiheitskämpfer Guiseppe Garibaldi und nicht zuletzt ein gewisser, kokainabhängiger Dr. Froïde, hinter dem unschwer Sigmund Freud erkennbar ist. In einem Punkt jedoch weicht Ecos historisch fundierter und detailreich ausgemalter Roman eklatant von der geschichtlichen Ebene ab: die Hauptfigur, Simon Simonini, ist komplett erfunden. Mit ihr installiert Eco gewissermassen eine Universalcharakter aller Fälscher und Intriganten – und die Pointe ist tatsächlich, dass Simonini bei allen nennenswerten Rankünen im Europa des 19. Jahrhunderts seine Finger mit im Spiel hatte und nicht zuletzt auch auf die Entstehung der «Protokolle» seinen entscheidenden Einfluss ausübte. Simonini dient Eco als literarischer Erklärungsversuch, wie sich eine unheilvolle Idee in verschiedenen Kontexten ausbreiten und sich schliesslich als vermeintliche Wahrheit in den Köpfen festsetzen konnte.

Dieser Simonini ist eine besonders ruch- und skrupel- und darüber hinaus auch empathielose Figur, die sich durch Betrug und Verrat seinen Wohlstand erwirtschaftet hat. Ein Opportunist, der für seinen Vorteil über Leichen geht. Seine Enthaltsamkeit in venerischen Freuden kompensiert er durch lukullische Genüsse – immer wieder sind entlang des Romans verlockende Rezeptbeschreibung eingestreut. Eine einzige Frau entzückte ihn in seinem Leben, allerdings nur in der Phantasie, aber immerhin so sehr, dass sie er ihr nacheifern wollte: In jungen Jahren hörte er von Babette von Interlaken*, eine mit allen Wassern gewaschene kommunistische Agentin, die vor keiner Schandtat zurückschreckte. Sie erschein ihm sodann «als Modell zur Nachahmung» in seinen Träumen. Als Kind wuchs Simonini hauptsächlich bei seinem Grossvater auf, der sich mit seinem abgrundtiefen Antisemitismus nicht hinter dem Berg hält. Im Gegenteil machte dieser die Juden bereits für all das verantwortlich, was ihnen später auch in den «Protokollen» angelastet wird. Aus einem anonymen Brief, den sein Vater einem Abbé Barruel schreibt, um ihn vor den «perfiden Plänen des jüdischen Volkes» zu warnen, die er angeblich im Turner Ghetto «mit eigenen Ohren gehört habe», und den Kolportageromanen seiner Jugendlektüre entnimmt Simonini später die Versatzstücke für sein konspiratives Paradenarrativ auf dem Prager Friedhof, das er je nach Bedarf auf unterschiedliche Bereiche und Personen anwenden kann, wie es gerade in die politische Agenda passt. Und auf diese Erfindung ist er mächtig stolz, so dass er es am Ende es fast bedauert, sie an die Russen verkauft zu haben: «Seit meiner Jugend habe ich mir gleichsam Stein für Stein meinen Prager Friedhof aufgebaut, und nun ist es, als hätte Golowinsky ihn mir geraubt. Wer weiß, was die in Moskau daraus machen.» Heute wissen wir es: Die Protokolle der Weisen von Zion.

Eco hat hier zweifellos einen Stoff literarisch umgesetzt, der nicht arm an Faszinationskraft ist: Verschwörungen, politische Intrigen und Morde, Fälscher, Geheimgesellschaften und schwarze Messen. Und hier liegt vielleicht das Problem des Romans: Die Geschichte an sich wäre spannend genug, so dass eine Literarisierung reichlich aufgesetzt wirkt und man sich in der Tat einige langatmige Passagen, die die Ereignisse mit narrativem Firlefanz ausstatten, gerne sparen würde. Vor allem aber überzeugt die Rahmenhandlung am wenigsten: Eco kleidet seinen Roman in eine Art Dr. Jeckyll und Mister Hyde-Setting. Simonini, der sich zeitlebens gerne verkleidete und in fremde Rollen schlüpfte, leidet an einer akuten schizoiden Spaltung, hervorgerufen durch einen Doppelmord, den sein Bewusstsein zu verdrängen sucht. Nach dem Modell von Freuds talking cure versucht er sich einer Art writing cure, um mittels Tagebuchschreiben den im Gedächtnis verschütteten Ereignissen und seiner Identität wieder auf die Spur zu kommen. Wechselweise greifen Simonini und sein Alter Ego, der mysteriöse Abbé Dalla Piccola, ohne voneinander zu wissen zur Feder. Von Anbeginn ist jedoch absehbar, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Die Rahmenfiktion trägt also nicht wesentlich zur Spannung bei, ganz abgesehen davon wirkt sie auch reichlich konstruiert und kaum plausibel. Solche Mätzchen hätte der Roman auch gar nicht nötig, der vielmehr durch die episch breite Schilderung der dunkeln Seite des 19. Jahrhunderts besticht, das besonders geprägt war durch Obskurantismus und Okkultismus – man denke nur an Joris-Karl Huysman, Madame Blavatsky oder Eliphas Lévi, die allesamt auch Erwähnung finden. Erst ganz zum Schluss des Romans blitzt durch die Nennung von Marcel Proust und Eduard Monet kurz der Horizont der Moderne auf, der von Simonini freilich noch nicht als solcher erkannt wird, wenn er Proust schlicht als «fünfundzwanzigjährigen Päderasten» und Monet als «Farbenkleckser» herabwürdigt.


* Wie Simonini selbst ist auch diese Babette eine Erfindung, jedoch keine von Eco, sondern von Antonio Brescani, aus dessen heute zurecht vergessenem Roman Der Jude von Verona (1863) er sie entlehnteMehr noch übernimmt Eco die Beschreibung quasi im Wortlaut vom Original und führt damit performativ die eklektisch-plagiatorischen Techniken der Dokumentenfälscher vor, die sich schamlos bei der Trivialliteratur bedienen, um vermeintlich historische Tatsachen zu belegen. In der deutschen Übersetzung lautet die Stelle, die sich fast identisch bei Eco wiederfindet:
„Es war die berüchtigte Babette von Interlaken, die würdige Urenkelin von Weißhaupt, welche der Pfarrer Weyermann die große Jungfrau des schweizerischen Communismus nannte. Man wußte nicht, woher sie stammte, und von Kindheit an diente sie bei den Freicorps als Kellnerin einer Marketenderin; sie hatte stets Trunkenheit, Diebstahl und Ausschweifung vor Augen, wuchs in dieser Gesellschaft auf und lernte Gott nur durch die Flüche kennen, welche sie fortwährend hörte. In den Scharmützeln bei Luzern, wenn die Freischaaren irgend einen Katholiken aus den Urkantonen getödtet hatten, ließen sie ihm Babette das Herz oder die Augen oder die Eingeweide ausreißen, und im Triumphe dahertragen, wofür sie dann einen Batzen und ein Glas Kirschwascher [sic] bekam.
Nach dem 28. August 1846 aber, wo Ochsenbein, Funk, Stockmar und Consorten zu Magistraten des Cantons Bern gewählt wurden, ward Babette der treueste Herold zwischen ihnen und die geheimen Gesellschaften, der Agathodämon aller Ränke, Schliche und Umtriebe der geheimnisvollen Clubs; sie erschien unversehens überall, und verschwand ebenso rasch, gleich einem Kobold; sie kannte undurchdringliche Geheimnisse, stahl diplomatische Depeschen ohne die Siegel zu verletzen, drang wie eine Natter in das Innerste der Cabinette von Wien, Berlin und selbst von Petersburg. Sie machte Wechsel nach, fälschte Pässe und schon als Mädchen, wo sie in die Schule ging, kannte sie die Kunst der Gifte und wußte sie zu mischen, je nachdem der Geheimbund es anordnete; sie fluchte wie ein Radicaler, trank wie ein Aargauer, rauchte wie ein Türke, handhabte die Büchse wie ein Schütze und den Dolch wie ein Fechtmeister; es war als wäre sie vom Teufel besessen, so stark waren ihre Fibern und so kräftig ihr Arm, ihr Blick hatte etwas zauberartig Fesselndes und in ihren Zügen lag, wenn sie zornig wurde oder Einem drohte, Kühnheit, Verwegenheit und Stolz.“ (Der Jude von Verona. Historischer Roman aus den Jahren 1846 bis 1849. 2. verb. Aufl. Schaffhausen: Hurter’sche Buchhandlung 1957, Bd. 1, S, 171 f.)

Dienstag, 27. Juni 2017

Marcel Schwob: Das Buch Monelle (1894)

Das Livre de Monelle gehört neben den Vies imaginaires (1896) zu den bekanntesten Werken des dem Symbolismus nahe stehenden französischen Schriftstellers und Übersetzers Marcel Schwob. Die Bibel kennt viele Bücher: Buch Mose, Buch Josua, Buch Esra, Buch Esther, Buch Ruth etc. Schwob setzt mit dem Livre de Monelle ein weiteres, apokryphes dazu. Es ist kein kohärentes Werk, sondern wie die biblischen Bücher eine Ansammlung von Sentenzen, Gleichnissen, Parabeln, allegorischen Geschichten, Träumen und Visionen, oft dunkel und rätselhaft – der Auslegung bedürftig.

Im Unterschied zu den biblischen Büchern wird im Buch Monelle jedoch keine Heilsgeschichte verkündet. Was Monelle, die in einer Art Prolog direkt zu ihrem Geliebten spricht, verkündet, ist ein dekadentes Evangelium der reinen Präsenz, der Augenblicksversessenheit, die keine dauerhaften Werte duldet. Erinnerung, Wahrheit und Arbeit sind Tugenden, die sie kategorisch verwirft. Dafür propagiert sie eine Kultur der Flüchtigkeit, des Vergessens und der Lüge. Schöpfung geht nur einher mit Zerstörung, sie ist kein rein kreativer, vielmehr ein destruktiver Zustand. So wird im Stil einer Predigt oder Unterweisung zugleich auch eine typische Ästhetik des Fin de siècle entworfen.

Wer Monelle aber ist, das weiss man nicht. Mal erscheint sie als Geliebte, dann als Prostiuierte, dann als Anführerin kleiner Kinder, die nicht erwachsen werden wollen. Sie ist Kindfrau und Femme fatale, Priesterin und Verführerin, Heilige und Hure zugleich. Peter Krumme vermutet in seinem Nachwort, es handle sich um die personifizierte Literatur selbst. Das scheint ein wenig hoch gegriffen. Und da das Buch neu in der Ullstein-Reihe „Die Frau in der Literatur“ aufgelegt wurde, ist es eigentlich naheliegender, in Monelle den Archetypus des Weiblichen zu sehen. Sie ist das Urweib par exellence, während ihre Schwestern, die in den märchenhaften Geschichten des Mittelteils porträtiert werden, verschiedene feminine Phänotypen darstellen.

Sie werden als die Egoistin, die Wollüstige, die Perverse, die Betrogene, die Wilde, die Getreue, die Auserwählte, die Träumerin, die Erhörte, die Gefühllose und die Geopferte vorgestellt. Morelle selbst aber ist die ewig Flüchtige (man denke an Prousts La Fugitive), diejenige, die sich dem Moment ebenso sehr hingibt, wie sie sich einer festen Bindung entzieht. (Möglich, dass sich ihr Name von gr. mónos herleitet, gleichbedeutend mit allein als auch einzigartig.) Wie dem auch sei - Monelle als das Weibliche schlechthin werden die Herren der Schöpfung niemals begreifen: „denn wenige Männer haben mich gesehen, und keiner hat mich verstanden. Der Ton des Buchs ist ebenso enigmatisch wie prophetisch. Es ist weniger eine Erzählung als ein poème en prose, ein Hohelied auf den Erotisme.

Mittwoch, 29. März 2017

Wolfgang Koeppen: Jugend (1976)

Wolfgang Koeppen (1906-1996) gilt als wichtiger Vertreter der deutschen Nachkriegsliteratur. Anstatt aber der zeittypischen Kahlschlagästhetik zu folgen, hat er neue sprachliche Ausdrucksformen erprobt. Auch der spätere, nach einer längeren Schreibpause vorgelegte Prosatext Jugend (der Text trägt keine konkrete Gattungszuweisung) folgt einer experimentellen Erzählweise. Sie zeigt sich allein schon in der – im Impressum eigens erwähnten und damit besonders markierten – eigenwilligen Interpunktion, welche die mehrfach gebrochenen Gedankenbilder und Erinnerungsschlieren syntaktisch verfugt. Marcel Reich-Ranicki zieht auf dem Klappentext Vergleiche zu Joyce, Dos Passos und Döblin. Man könnte zudem auch Der Tod des Vergils von Hermann Broch nennen – wie Jugend ebenfalls ein gewaltiger innerer Monolog. Bei Koeppen handelt es sich um eine ältere männliche Erzählstimme im Rückblick auf die während dem Ersten Weltkrieg verlebte Jugendzeit, die keine sein durfte: „Jugend galt nicht“.

Beim Titel Jugend erwartet man entweder ein Coming-of-Age-Geschichte oder ein Erinnerungsbuch. Koeppens Jugend gehört also zur zweiten Kategorie. Erinnert wird wie bei Marcel Proust - der mit seiner mémoire involonaire offensichtlich Pate gestanden hat - eine verlorene Zeit. Bereits die ersten Seiten beschwören den Lauf der „sichtbar verrieselnden Zeit“. Und auch am Ende des Buchs wird die verflossene Zeit erwähnt, die sich aber „in dem Gedächtnis in irgendeiner Zelle“ des Erzählers sedimentiert habe und dort reaktiviert werden kann. Diese Vorstellung einer körperlich inkarnierten Zeit entwickelt auch Proust am Ende der Recherche à la temps perdu. Bei Koeppen handelt es sich jedoch nicht nur um eine verlorene Zeit, sondern auch um ein verlorenes Paradies, wie ebenfalls gleich zu Beginn deutlich gemacht wird: „Meine Mutter fürchtete die Schlangen.“ Mit der Präsenz von Schlangen ist auch die Vertreibung aus dem Paradies nicht mehr weit.

Tatsächlich weint die genannte Mutter den verflossenen Glanzzeiten ihrer Familie nach. Eine Nostalgie, die ihr Sohn (der Erzähler) nicht teilen kann, und schon damals als Kind nicht teilen wollte. Im Gegenteil: Vielmehr wünschte er der Stadt seiner Herkunft – die unschwer als Rostock identifizierbar ist – die Schlangen nachgerade auf den Hals. Sein Paradies ist denn auch nicht die durch den ersten Weltkrieg zerrüttete Heimat, sondern das Kino, „das Jugendlichen verbotene, schwarzweiße Paradies“. Doch wie schon Adam im biblischen Paradiese, so gehen dem Erzähler im Kino die Augen auf. Es ist ihm als würde er „die Frucht vom Baum der Erkenntnis essen“. Er entdeckt im Lichtspiel den „Schrein der Wahrheit“ und sieht im Dunkeln des Kinosaals „zum erstenmal die Wirklichkeit“. Was da durch die „Sternenstaubbahn“ des Projektors auf die Leinwand flimmert, besitzt einen höheren Wirklichkeitswert als die verlogene Propaganda, welche die Schrecken des Krieges zugunsten der nationalen Glorie konsequent wegzuleugnen sucht.

Als Knabe erlebt der Erzähler die blinde Verehrung, die Bismarck entgegenschlägt, als er die Lange Strasse von Rostock entlang promeniert. Andererseits kennt er auch die ausgeblendete Wirklichkeit: die Niederlage in Verdun, die Kriegskrüppel, die vielen Toten. Ein starkes Fieber rettet den 14jährigen in der Militärschule davor, selber mit an die Front ziehen zu müssen. In einer Art Delirium auf der Krankenstation in der leeren Kaserne vermischt sich die Kriegsrealität mit dem eigenen inneren Kampf gegen die nationale militärische Vereinnahmung. Auch im Fiebertraum sieht er in einer Art visionärem Rausch eine höhere „Wahrheit“ hinter dem „Trugbild der Welt“.

Vermutlich gibt es keinen Roman, der nicht mit einem kleinen Wink wenigstens auf die Mutter aller Romane, auf Cervantes Don Quijote, anspielt. So bezeichnet sich auch der namenlose Ich-Erzähler bei Koeppen einmal als „Ritter von der traurigen Gestalt“. Fügt jedoch an: „Das war lustig.“ Er spielt den Narren bloß. Anders als Don Quijote lebt er nicht in einer verklärten Phantasiewelt, sondern verlacht im Gegenteil die falschen Illusionen der Nachkriegsgesellschaft: „Ich fand sie komisch, wie sie die Augen zusammenkniffen, die Stirn in strenge Falten legten, die eiserne Zeit des Krieges beschworen und die Toten vergessen hatten.“ Gemeinsam mit einem Hypnotiseur spielt er auch „Jesus“, doch geht daraus freilich kein Heilsversprechen hervor. Geschildert wird eine ganz und gar heillose Welt und eine von Anbeginn hoffnungslose Existenz: ohne Jugend und ohne Zukunft. Zum Schluss heuert der Erzähler auf einem Schiff  an und verschwindet. Was aus ihm wurde, bleibt ungewiss.