Umberto Eco schrieb dicke historische Wälzer bevorzugt zu Themen, mit denen sich der 2016 verstorbene Semiotiker und Philosophieprofessor aus Bologna auch wissenschaftlich auseinandersetzte. In einem seinem letzten umfangreichen Roman sind dies die notorischen «Protokolle der Weisen von Zion», ein aus verschiedenen literarischen Vorlagen zusammengeschustertes antisemitisches Machwerk, das um 1900 zu Propagandazwecken entstanden ist, aber bis heute als vermeintlich glaubwürdiges Dokument einer jüdischen Weltverschwörung zirkuliert, obschon es bereits seit 1922 erwiesenermassen als Fälschung entlarvt wurde. Auch Eco hat zu den Protokollen geforscht und ihre betrügerische Machart offengelegt und ist dabei auf vorher unbeachtete Quellen aus dem französischen Roman feuilleton des 19. Jahrhunderts gestossen, die indirekt in die Protokolle eingeflossen sind. Zum einen eine Szene aus Eugène Sues Roman Le juif errant, der in den Jahren 1844 bis 1845 in der linksgerichteten Zeitung Le Constitutionnel erschienen ist, sowie eine Verschwörungsszene aus Alexandre Dumas’ Cagliostro-Roman Joseph Balsamo von 1849. Die dort geschilderte Geheimversammlung auf dem Donnerberg im Vorfeld der französischen Revolution übernimmt der deutsche Schriftsteller Hermann Gödsche relativ unverstellt für seinen Historienschinken Biarritz, der 1868 unter dem Pseudonym Sir John Ratcliffe erscheint. Der einzige Unterschied: Der Treffpunkt der Verschwörung wird in den Friedhof nach Prag beim Grab von Rabbi Löw verlagert und die Gruppe der Konspiranten konstituiert sich nunmehr durch die zwölf Stämme Israels. Diese Schilderung wiederum bildete die Steilvorlage für die Protokolle, welche die fiktionale Darstellung als real vorgeben.
Und dieselbe Friedhofs-Szene gibt schliesslich nicht nur Ecos Roman den Titel, sondern figuriert dort auch als Schlüsselstelle, die in beliebiger Variation Verwendung für ein konspiratives Rahmennarrativ finden kann. Sie ist quasi die Mutter aller Verschwörungstheorien. In epischer Breite erzählt Eco die Entstehungsgeschichte der «Protokolle der Weisen von Zion», wobei die meisten Ereignisse den historischen Tatsachen entsprechen und auch die auftretenden Figuren hauptsächlich auf realen Vorbildern beruhen. Es ist ein Stelldichein einschlägiger Namen aus Politik, Literatur und Religion des 19. Jahrhunderts. Neben den schon erwähnten Alexandre Dumas und Hermann Gödsche treten weitere Figuren auf wie der Pamphletist Maurice Joly, der Kriminalist Eugène François Vidocq, dem Fake-Journalisten Leo Taxil, der einem Komplott zum Opfer gefallenen Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus, der britische Staatsmann Benjamin Disraeli, der italienische Freiheitskämpfer Guiseppe Garibaldi und nicht zuletzt ein gewisser, kokainabhängiger Dr. Froïde, hinter dem unschwer Sigmund Freud erkennbar ist. In einem Punkt jedoch weicht Ecos historisch fundierter und detailreich ausgemalter Roman eklatant von der geschichtlichen Ebene ab: die Hauptfigur, Simon Simonini, ist komplett erfunden. Mit ihr installiert Eco gewissermassen eine Universalcharakter aller Fälscher und Intriganten – und die Pointe ist tatsächlich, dass Simonini bei allen nennenswerten Rankünen im Europa des 19. Jahrhunderts seine Finger mit im Spiel hatte und nicht zuletzt auch auf die Entstehung der «Protokolle» seinen entscheidenden Einfluss ausübte. Simonini dient Eco als literarischer Erklärungsversuch, wie sich eine unheilvolle Idee in verschiedenen Kontexten ausbreiten und sich schliesslich als vermeintliche Wahrheit in den Köpfen festsetzen konnte.
Dieser Simonini ist eine besonders ruch- und skrupel- und
darüber hinaus auch empathielose Figur, die sich durch Betrug und Verrat seinen
Wohlstand erwirtschaftet hat. Ein Opportunist, der für seinen Vorteil über
Leichen geht. Seine Enthaltsamkeit in venerischen Freuden kompensiert er durch
lukullische Genüsse – immer wieder sind entlang des Romans verlockende Rezeptbeschreibung
eingestreut. Eine einzige Frau entzückte ihn in seinem Leben, allerdings nur in
der Phantasie, aber immerhin so sehr, dass sie er ihr nacheifern wollte: In
jungen Jahren hörte er von Babette von Interlaken*, eine mit allen Wassern
gewaschene kommunistische Agentin, die vor keiner Schandtat zurückschreckte.
Sie erschein ihm sodann «als Modell zur Nachahmung» in seinen Träumen. Als Kind
wuchs Simonini hauptsächlich bei seinem Grossvater auf, der sich mit seinem
abgrundtiefen Antisemitismus nicht hinter dem Berg hält. Im Gegenteil machte dieser
die Juden bereits für all das verantwortlich, was ihnen später auch in den «Protokollen»
angelastet wird. Aus einem anonymen Brief, den sein Vater einem Abbé Barruel
schreibt, um ihn vor den «perfiden Plänen des jüdischen Volkes» zu warnen, die
er angeblich im Turner Ghetto «mit eigenen Ohren gehört habe», und den Kolportageromanen
seiner Jugendlektüre entnimmt Simonini später die Versatzstücke für sein konspiratives
Paradenarrativ auf dem Prager Friedhof, das er je nach Bedarf auf unterschiedliche
Bereiche und Personen anwenden kann, wie es gerade in die politische Agenda
passt. Und auf diese Erfindung ist er mächtig stolz, so dass er es am Ende es
fast bedauert, sie an die Russen verkauft zu haben: «Seit meiner Jugend habe
ich mir gleichsam Stein für Stein meinen Prager Friedhof aufgebaut, und nun ist
es, als hätte Golowinsky ihn mir geraubt. Wer weiß, was die in Moskau daraus
machen.» Heute wissen wir es: Die Protokolle der Weisen von Zion.
Eco hat hier zweifellos einen Stoff literarisch umgesetzt,
der nicht arm an Faszinationskraft ist: Verschwörungen, politische Intrigen und
Morde, Fälscher, Geheimgesellschaften und schwarze Messen. Und hier liegt
vielleicht das Problem des Romans: Die Geschichte an sich wäre spannend genug,
so dass eine Literarisierung reichlich aufgesetzt wirkt und man sich in der Tat
einige langatmige Passagen, die die Ereignisse mit narrativem Firlefanz
ausstatten, gerne sparen würde. Vor allem aber überzeugt die Rahmenhandlung am
wenigsten: Eco kleidet seinen Roman in eine Art Dr. Jeckyll und Mister Hyde-Setting.
Simonini, der sich zeitlebens gerne verkleidete und in fremde Rollen schlüpfte,
leidet an einer akuten schizoiden Spaltung, hervorgerufen durch einen Doppelmord,
den sein Bewusstsein zu verdrängen sucht. Nach dem Modell von Freuds talking
cure versucht er sich einer Art writing cure, um mittels
Tagebuchschreiben den im Gedächtnis verschütteten Ereignissen und seiner
Identität wieder auf die Spur zu kommen. Wechselweise greifen Simonini und sein
Alter Ego, der mysteriöse Abbé Dalla Piccola, ohne voneinander zu wissen zur
Feder. Von Anbeginn ist jedoch absehbar, dass es sich um ein und dieselbe
Person handelt. Die Rahmenfiktion trägt also nicht wesentlich zur Spannung bei,
ganz abgesehen davon wirkt sie auch reichlich konstruiert und kaum plausibel. Solche
Mätzchen hätte der Roman auch gar nicht nötig, der vielmehr durch die episch breite
Schilderung der dunkeln Seite des 19. Jahrhunderts besticht, das besonders geprägt
war durch Obskurantismus und Okkultismus – man denke nur an Joris-Karl Huysman,
Madame Blavatsky oder Eliphas Lévi, die allesamt auch Erwähnung finden. Erst
ganz zum Schluss des Romans blitzt durch die Nennung von Marcel Proust und
Eduard Monet kurz der Horizont der Moderne auf, der von Simonini freilich noch
nicht als solcher erkannt wird, wenn er Proust schlicht als «fünfundzwanzigjährigen
Päderasten» und Monet als «Farbenkleckser» herabwürdigt.
Nach dem 28. August 1846 aber, wo Ochsenbein, Funk, Stockmar und Consorten zu Magistraten des Cantons Bern gewählt wurden, ward Babette der treueste Herold zwischen ihnen und die geheimen Gesellschaften, der Agathodämon aller Ränke, Schliche und Umtriebe der geheimnisvollen Clubs; sie erschien unversehens überall, und verschwand ebenso rasch, gleich einem Kobold; sie kannte undurchdringliche Geheimnisse, stahl diplomatische Depeschen ohne die Siegel zu verletzen, drang wie eine Natter in das Innerste der Cabinette von Wien, Berlin und selbst von Petersburg. Sie machte Wechsel nach, fälschte Pässe und schon als Mädchen, wo sie in die Schule ging, kannte sie die Kunst der Gifte und wußte sie zu mischen, je nachdem der Geheimbund es anordnete; sie fluchte wie ein Radicaler, trank wie ein Aargauer, rauchte wie ein Türke, handhabte die Büchse wie ein Schütze und den Dolch wie ein Fechtmeister; es war als wäre sie vom Teufel besessen, so stark waren ihre Fibern und so kräftig ihr Arm, ihr Blick hatte etwas zauberartig Fesselndes und in ihren Zügen lag, wenn sie zornig wurde oder Einem drohte, Kühnheit, Verwegenheit und Stolz.“ (Der Jude von Verona. Historischer Roman aus den Jahren 1846 bis 1849. 2. verb. Aufl. Schaffhausen: Hurter’sche Buchhandlung 1957, Bd. 1, S, 171 f.)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen