Sonntag, 28. April 2024

Joachim Ringelnatz. Nervosipopel (1924)

Joachim Ringelnatz war, bevor er Kabarettist und Schriftsteller wurde, ein Seemann. Als Leichtmatrose heuerte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf allen Weltmeeren an. Und ein Matrose erzählt natürlich Seemannsgarn. Nirgendwo tut er das schöner als in dem Erzählband Nervosipopel der 1924, also vor genau hundert Jahren, erschienen ist, damals aber kaum Beachtung fand. Und auch heute dürften es die "11 Angelegenheiten", wie es im Untertitel heisst, schwer haben, obschon oder gerade weil sie in bester Nonsens- und Dada-Tradition stehen.

Ein Rezensent sah darin "blühenden Blödsinn", ein anderer nannte sie "Grotesken", Ringelnatz selbst bezeichnete seine Texte als "Märchen". Tatsächlich tauchen darin Feen, Riesen, sprechende Tiere auf, es gibt auch eine Reverenz an den Meister des romantischen Kunstmärchens, E.T.A. Hoffmann, und Bechsteins Märchen spielen eine Rolle. Doch verweigern sie sich einer nachvollziehbaren Märchenhandlung, wobei man allerdings sagen muss, dass es in der Sammlung der Brüder Grimm durchaus auch Märchen gibt, die ans Unsinnige grenzen, wenn man bspw. an Der süsse Brei oder Die Wassernixe denkt.

Nach ähnlichem Muster sind auch die Märchen bei Ringelnatz gebaut: Sie entwickeln ihre Handlung scheinbar unmotiviert und zusammenhangslos, warten praktisch in jedem Satz mit einer absurden Wendung auf, verlieren sich in phantastische Kapriolen und enden oft gänzlich abrupt und pointenlos. Das allerletzte Wort des Buches lautet: "entschwinden". Im Grunde handelt es sich, wenn man einen gemeinsamen Nenner unter diesen kunterbunten Fabulationen finden möchte, um Geschichten des Entschwindens. Stehts entfliehen, entsteigen, verschallen, sterben, oder verflüchtigen sich die jeweiligen Figuren am Ende einer Geschichte.

Das Märchen vom Armen Pilmartine nimmt darauf poetologisch Bezug: Ein Staatsanwalt fordert den Angeklagten auf: "Das ist recht, so erzählen Sie vernünftig. Fahren Sie fort!", worauf der Angeklagte ein Fahrrad nimmt und mit den Worten "Dann fahre ich fort" wortwörtlich davonfährt. Das Fortfahren im Sinne des Entschwindens markiert hier das Gegenteil des vernünftigen Erzählens, dem sich auch Ringelnatz' Geschichten pausenlos entziehen. So kommt es auch auf der Bedeutungsebene der Texte zu einem ständigen Sinnentzug. Mit der Vernunft jedenfalls sind die Erzählungen kaum zu fassen, sie entgleiten jedem Versuch, ihnen einen erkennbaren Sinn abzugewinnen.

Dazu sind sie viel zu sprunghaft und, wie man mit Blick auf den Titel sagen könnte: zu nervös. Als "ein rechter Nervosipopel" wird in der ersten Geschichte die Fee bezeichnet. Ein Ausdruck so rätselhaft wie die meisten Erzählungen. Doch man kann es sich zusammenreimen: Ein Popel meint eine Puppe, es wird also ein Ausdruck für ein energisches, flatterhaftes kleines Wesen sein, das einem leicht auf die Nerven gehen kann. Weshalb aber steht der Ausdruck titelgebend gleichsam als allegorische Figur auf dem Buchumschlag? Gehen auch Ringelnatz' nervöse Geschichten auf die Nerven? Die Rede vom Märchen Ärgerlich deutet zumindest darauf hin, dass es auch eine Absicht dieser Nonsens-Märchen ist, die Leserin zu ärgern.

(Im Übrigen ist just der Beginn von Das halbe Märchen Ärgerlich ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie ein Text sich selbst in pure Sinnlosigkeit auflöst: "Aber es geschah nicht, obwohl von gar keiner bestimmten Zeit die Rede, auch kein eigentlicher Ort dabei eine Rolle spielt. Nur entzog sich der Kenntnis was - ohne in Existenz zu verharren - auch nicht annähernd von jemand erdacht werden konnte." usw.)



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen