Der
brasilianische Nationaldichter Machado de Assis hat über 170
(teilweise ganz kurze) Erzählungen geschrieben. Darunter gilt die
längere Novelle Der Irrenarzt als ein besonderes Glanzstück.
Sie handelt von Dr. Simão Bacamarte, einem Arzt und Wissenschaftler,
der sich auf dem zerebralpathologischen „Gebiet
der Psyche“ einen Namen machen will. Zu diesem Zweck lässt er in
seinem Heimatstädtchen Itaguaí ein Irrenhaus (genannt
das Grüne Haus)
bauen, in dem er alle Wahnsinnigen internieren
will, um sie zu studieren. Eine Idee, die bei den Einwohnern bloß Kopfschütteln hervorruft und sie an der mentalen Gesundheit des
Arztes zweifeln lässt: «Schon der Einfall, die Geisteskranken alle
zusammen in einem Haus unterbringen zu wollen, wurde als Anzeichen
von Geistesgestörtheit angesehen». Diese schon früh in der
Erzählung geäußerte Vermutung über den zweifelhaften
Geisteszustandes des Irrenarztes ist dann tatsächlich die Pointe der
ganzen Geschichte.
Doch
bevor es zu dieser (Selbst-)Erkenntnis kommt, sperrt Bacamarte der
Reihe nach alle Einwohner ins Grüne Haus, die bei ihm den Eindruck
von Geistesgestörtheit hinterlassen. Und das sind nicht wenige. Denn
die leitende Theorie des Arztes bestimmt die Vernunft als «das
vollkommenste Gleichgewicht aller Fähigkeiten»; alles was dem
widerspricht, deutet auf Wahnsinn hin. Nur die kleinste Inkonsequenz
in der Handlung, die kleinste emotionale Laune reicht deshalb schon,
die Betroffenen als wahnsinnig zu erklären und wegzusperren, bis am
Ende «vier Fünftel der Bevölkerung» im Grünen Haus interniert
ist, das deshalb auch ständig erweitert werden muss. Angesichts
dieses Missverhältnisses gelangt der Arzt zu einer diametral anderen
Einsicht: Geistig krank ist offenbar, wessen Geisteskräfte stets im
Einklang sind, während es als völlig normal zu erachten ist, wenn
«verschiedene geistige Fähigkeiten nicht vollkommen ausgeglichen
sind».
Neu
bevölkern das Irrenhaus, das mehr und mehr zu einer verkehrten Welt
wird, folgende Klassen von Geisteskranken: die Bescheidenen, die
Toleranten, die Großmütigen, die Scharfsinnigen und die
Aufrichtigen – kurz alle, die sich durch eine vollkommenen
seelische Ausgeglichenheit auszeichnen. Bacamarte bemüht sich jedoch
ernsthaft, die Patienten zu kurieren, wobei die Therapie vorsieht,
sie von ihren guten Eigenschaften zu befreien. Dem Bescheidenen wird
die Eitelkeit entlockt, der Aufrichtige zum Lügen gebracht usw.
usf., bis alle Insassen geheilt sind. Diese Leistung führt Bacamarte schließlich zur finalen Erkenntnis, «zu der allerletzten Wahrheit»,
dass es keine Geisteskranken in Itaguaí gebe, weil alle irgendeinen
Fehler haben. Außer bei sich kann der Irrenarzt keinen Fehler, kein
einziges Laster feststellen, was ihm von seinem Umfeld auch bestätigt
wird und ihn schließlich zur konsequenten Einsicht führt, dass er
offenbar selbst wahnsinnig sein muss.
Er
begibt sich deshalb freiwillig ins Grüne Haus, als einziges Exemplum
seiner Theorie. Was also alle geahnt haben, hat Bacamarte letztlich
selber erkannt: Er ist kein Irrenarzt, sondern ein irrer Arzt. Seine
Selbsterkenntnis ist jedoch trügerisch, denn sie kommt nicht durch
eine vernünftige Diagnose, sondern durch eine verquere Theorie
zustande, welche die geistige Ausgeglichenheit gerade zum Wahnsinn
erklärt. Einerseits hält sich Bacamarte also für geistig völlig
gesund, was für ihn aber ein pathologischer Zustand darstellt,
weshalb er sich selbst ins Irrenhaus bringt, was für die geistig
Gesunden nichts anderes als eine Wahnsinnstat erscheinen muss. So
macht ihn eigentlich erst dieser von außen unverständliche Schritt,
sein freiwilliger Eintritt ins Grüne Haus, offiziell zum Irren. Hier
zeigt sich die subtile Konstruktion von Machados Erzählung, die
mehrfach dreht und wendet, was als normal und was als verrückt zu
gelten hat.
Typisch
für Machado de Assis ist der nüchterne, fast spröde Stil, wie ihn
später auch die Prosa von Jorge Luis Borges auszeichnet. Im
Kontrast zur Absurdität der Geschichte schafft diese nüchterne
Erzählhaltung eine gewisse Komik. Etwa wenn Bacamarte
durchwegs als bedeutendster Arzt Brasiliens
vorgestellt wird, obwohl ihn die Handlung
fortlaufend als weltfremden Mad
Scientist vorführt, der aufgrund seiner
obsessiven Beschäftigung mit der Zerebralpathologie selbst
wahnsinnig wird. Zwischen den Zeilen zeigt
sich zudem eine trockene Ironie, die nicht ohne spöttischen Unterton
auskommt: «Eine Perücke bedeckte den gewaltigen noblen Kahlkopf,
den er in langjähriger wissenschaftlicher Denkarbeit erworben
hatte.»