Sonntag, 17. August 2025
J. M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K. (1983)
Mittwoch, 8. Januar 2025
Neal Stephenson: Cryptonomicon (1999)
Im berühmten Kapitel "Cetology" aus Moby Dick vergleicht Herman Melville Walfische mit Buchformaten, wobei man das Verfahren freilich auch umkehren kann. Dann wäre Moby Dick selbstredend ein riesiger Pottwal unter den Büchern. Treffender für Neal Stephensons Cryptonomicon hingegen wäre ein Vergleich mit U-Booten, da die submarinen Manöver während dem Zweiten Weltkrieg im Zentrum des voluminösen Romans stehen. Er würde - damals - mindestens zur japanischen I-400-Klasse der Unterseeboote gehören oder zum Typ XXI der Deutschen. Technologisch aufgerüstete Stahlmonster, aber schwerfällig und daher letztlich wirkungslos. Das gilt ein wenig auch für Stephensons Roman.
Wie U-Boote haben auch dicke Bücher oft die Schwierigkeit, dass sie nur langsam Fahrt aufnehmen. In Cryptonomicon dauert es fast bis in die Hälfte des Buches, bis die vielen Handlungsstränge erkennbar zusammenlaufen und erste Spannung aufkommt - also nach gut 600 Seiten, nachdem die meisten Bücher ohnehin längst beendet sind. Sergeant Shaftoe, einer der Hauptfiguren des Romans, trifft einmal die Unterscheidung zwischen Männern, die durch Reden etwas erreichen wollen, und Männern, die Reden für reine Zeitverschwendung halten und lieber zur Tat schreiten. Er entdeckt dann noch eine dritte Kategorie von Männern, die "einfach nur Lust" haben, "über Worte zu reden", also unnötig, ja verschwenderisch viele Worte verwenden. Zu dieser Kategorie gehört auch der Schriftsteller Neal Stephenson. Ganz offensichtlich liebt er es, sich möglichst wortreich zu verbreiten.
Neal Stephenson gilt als SF-Autor und wird mitunter der Cyberpunk-Bewegung zugeordnet. Diese Kategorisierung trifft für Cryptonomicon nur bedingt zu. Im Kern handelt es sich um einen zuweilen überzeichneten historischen Spionage-Thriller mit comicartigen Zügen. Ein gewisser, wohl intendierter Trash-Faktor ist dem Roman jedenfalls nicht abzusprechen. Er besteht aus zwei parallel geführten Handlungsebenen, die in alternierenden Kapiteln sukzessive entfaltet und miteinander verknüpft werden. Die erste Handlungsebene spielt während dem Zweiten Weltkrieg. Zwischen den Deutschen und den Alliierten toben nicht nur Kampfeinsätze, sondern auch ein kryptologischer Informationskrieg. Auf der Seite der Alliierten operiert die historisch verbürgte Figur des Mathegenies Alan Turing, dem es gelang, den deutschen ENIGMA-Code zu knacken, und sein (erfundener) Kompagnon Lawrence Waterhouse, auf Seite der Wehrmacht steht Rudolf von Hacklheber. Alle drei kennen sich von früher aus ihrem Studium in Cambridge.
Die andere Handlungsebene spielt am Ende des 20. Jahrhunderts, als amerikanische Jungunternehmer und Programmierer in einem fingierten philippinischen Inselstaat, dem Sulfanat Kinakuta, einen freien Datenhafen errichten wollen und bei der Verlegung von Tiefseekabeln auf das Wrack eines mysteriösen Nazi-U-Bootes stossen, das die Hintergründe einer Schmuggelkomplottes von Goldreserven enthüllt, in die das Figurenarsenal aus der historischen Handlungsebene verstrickt war. Dabei geht auch hervor, dass zwei Figuren der Gegenwart, der Programmierer Randy Waterhouse und die Tiefseetaucherin Amy Shaftoe, mit zwei Figuren aus der Vergangenheit, mit dem bereits erwähnten Mathematiker Waterhouse wie dem Sergeant Shaftoe verwandt sind. Auch narratologisch bewegen sich beide Zeit- und Erzählebenen aufeinander zu: in dem Masse, wie in der Gegenwart die Verschwörung aufgedeckt wird, erfahren wir aus der Vergangenheit, wie sie zustande kam.
Der grosse Plot zerfällt dabei in unzählige Einzelepisoden, die für sich durchaus amüsant zu lesen sind, nicht zuletzt aufgrund des oft parodistischen Schreibstils des Autors, die Lektüre insgesamt aber zerfasern und schwerfällig gestalten. Es scheint fast so, als habe Stephenson die Technik der im Roman beschriebenen Sondereinheit 2702 auf das Buch selbst angewendet, um die vielleicht allzu durchschaubare Story zu kaschieren. Diese erfundene Sondereinheit, der im Roman auch Alan Turing angehört, wurde von den Alliierten ins Leben gerufen, um statistische Ausreisser wieder auszugleichen, die durch ihr kryptologisch erworbenes Geheimwissen über die Pläne der deutschen Gegner entstanden sind. Dadurch sollte verhindert werden, dass die Nazis Verdacht schöpfen. Die Einheit 2702 konstruiert also alternative Gründe, woher das Wissen stammen könnte, indem sie bspw. künstlich Pfade austrampeln, um einen bereits länger existierenden Horchposten vorzutäuschen. Manche der Episoden in dem Roman gleichen solchen falschen Trampelpfaden.
Fazit: Eine - nur bedingt lohnenswerte - Schwarte. Vom Ansatz her vielversprechend, in der Länge jedoch zeitraubend.
Sonntag, 17. November 2024
Dino Buzzati: Die Mauern der Stadt Anagoor. Erzählungen (1987)
Das Grauen nimmt kein Ende. Nachdem das Lesefrüchtchen zu Hanns Heinz Ewers und H.P. Lovecraft griff, zieht es nun Dino Buzzati aus dem Regal, der freilich eine ganz andere Art von Schauergeschichten verfasste, die weniger dem blanken Horror, sondern - wenn man so will - eher einem metaphysischen Gruseln verpflichtet sind. Meistens fungieren die Erzählung zwar ebenfalls nach dem Prinzip, dass etwas Unerklärliches oder Übersinnliches in den Alltag tritt und die Geschehnisse fortan schicksalhaft bestimmt, Buzzati im Unterschied zu Ewers und Lovecraft jedoch mehr an der psychologischen Seite solcher Phänomene interessiert ist, weshalb seine Erzählungen oft ins Allegorische und Parabelhafte driften. Die mitunter phantastischen Geschehnisse wollen sich als Gleichnisse verstanden wissen. Nicht völlig zu Unrecht ist der 1906 in Belluno bei St. Pellegrino geborene Autor und Journalist daher schon zum 'italienischen Kafka' erklärt worden.
Die Titelgeschichte des vorliegenden Bandes Die Mauern der Stadt Anagoor mit Erzählungen aus den 1940er und 1950er Jahren liesse etwa sich leicht als Variante von Kafkas Türhüter-Parabel begreifen. Ein namenloser Ich-Erzähler wird in der Sahara an einen Ort geführt, der auf keiner Landkarte verzeichnet ist: eine mit hohen Mauern umgebene Stadt mitten in der Wüste. Dort lagern unzählige Menschen und warten bereits seit Jahren darauf, dass sich das Tor öffnet, um eingelassen zu werden. Dabei steht nicht einmal fest, ob die Stadt auch wirklich bewohnt ist. Es kursiert lediglich die Legende, dass einst ein "einziger Mensch", ein Pilger der sich zufällig vor den Toren aufhielt und nicht einmal wusste, dass es sich um die begehrte Stadt Anagoor handelt, Einlass erhielt. Das allein verschafft den Wartenden ein den Glauben einer "nahen Glückseligkeit". Dem Erzähler jedoch reisst nach 25 Jahren der Geduldsfaden und er bricht sein Lager ab, was von den anderen mit der Bemerkung quittiert wird: "Du verlangst zuviel vom Leben".
Die Anspielung auf Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" ist zu offensichtlich, auf deren Folie sich auch die Schlusspointe der Erzählung erschliesst: Der Mann vom Lande bei Kafka wurde erst bei seinem Tod eingelassen. Das Warten vor dem Tor ist ein existentielles Gleichnis. Auch sonst scheint Buzzati intertextuell eng mit einigen Klassikern der phantastischen Moderne verknüpft. Ein übermütiger Mensch präsentiert eine Art Bartleby-Figur, in Der Hund, der Gott gesehen hatte stirbt ein Eremit ausgestreckt wie Robert Walser im Schnee (der Text erschien allerdings zwei Jahre vor Walser Tod) und eine Erzählung trägt mit Der Mantel denselben Titel wie Gogols berühmte Novelle. Auch Jorge Luis Borges liesse sich als literarischer Anverwandter nennen, weisen seine dichten, paradoxen Kurzgeschichten doch etliche Parallelen mit Buzzatis Prosa auf. Ohne dass damit eine bewusste Bezugnahme auf die genannten Autoren behauptet werden soll, lässt sich Buzzatis Prosa motivgeschichtlich in diesem Kontext verorten, auch wenn sein Name im Vergleich weniger bekannt sein dürfte. Als Entdeckung lohnt sich Buzzati aber allemal.
Wie Borges geht auch Buzzati meist von einer abstraktem, metaphysischem Problem aus, das er zu einer parabolischen, gleichnishaften Erzählung ausgestaltet. So etwa in der Eingangserzählung Wenn es dunkelt. Ein erfolgreicher Mann in seinen besten Jahren wird auf dem Dachboden mit seinem kindlichen Alter Ego konfrontiert. Während er von seinem früheren Ich Bewunderung und Achtung vor seiner Lebensleistung erwartet, zeigt sich das Kind eher enttäuscht von seinem späteren Selbst. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, das Streben nach einem erfüllten Dasein, aber auch die sich wandelnde Selbstwahrnehmung im Laufe der Zeit wird hier in eine spannungsreiche Konstellation gebracht. Ebenfalls auf einem Dachboden spielt die mitunter längste Erzählung Die Bodenkammer. Hier taucht plötzlich eine Kiste mit Äpfeln auf, so verlockend, dass ein Maler nicht widerstehend kann und durch den Biss in den Apfel in ekstatische Rauschzustände gerät, die er fortan stets wieder aufsuchen will. Was folgt ist - unter dem Motiv des biblischen Sündenfalls - das drastische Gleichnis einer Sucht, die den Betroffenen selbstquälerisch zwischen auferlegten Verboten und permanenter Selbstüberlistung oszillieren lässt.
Das Einbrechen des Irrationalen oder Übersinnlichen in das Leben eines Menschen bildet ein wiederkehrendes Motiv bei Buzzati. Aus dieser Grundkonstellation entwickelt er in einer präzisen, schnörkellosen Sprache die Psychogramme seiner Figuren. Das kann eine Kiste Äpfel sein, aber auch der Tod, eine unheilbare Krankheit wie Aussatz oder ein Tier wie ein gigantischer Igel oder - wie in der zweiten längeren Erzählung - ein herumstreunender Hund, von dem die gesamte Bevölkerung annimmt, es handle sich um den Vierbeiner des kürzlich verstorbenen Heiligen auf dem Hügel. Sie verfallen deshalb auf die fixe Idee, dass Gott höchstpersönlich sie durch dieses Tier observiere, weshalb sie in seiner Gegenwart ein gänzlich anderes Verhalten an den Tag legen und auf ihre heimlichen Sünden verzichten. Sie steigern sich sogar richtiggehend in einen Kult des Hundes hinein und verehren ihn wie ein Totemtier, bis sie auf das Grab des Heiligen pilgern und dort ein Hundeskelett erblicken, das ihnen schlagartig vor Augen führt, dass sie einem falschen Glauben aufgesessen sind: Das angebetete Tier war irgendein Strassenköter, der Hund des Heiligen ist längst mit seinem Herrn verschieden.
Der Band erschien in der "Reihe religiöser Erzählungen", weshalb die Herausgeberin Elisabeth Antkowak ihre Auswahl auf Texte stützte, in denen Fragen nach Gott und Tod, Gut und Böse, Gnade und Schicksal im Zentrum stehen. Im eigentlichen Sinne religiös können die Erzählungen dennoch nicht genannt werden, da sie einerseits keine spezifischen Glaubensinhalte transportieren, zum anderen auch in keinster Weise erbaulich sind, wie das die Herausgeberin gern suggerieren möchte, wenn sie insbesondere auf den Aspekt der Hoffnung abhebt. Doch sind die allermeisten Erzählungen alles andere als hoffnungsvoll, im Gegenteil enden sie oft auf die fatalste Weise, ohne Aussicht auf Trost, Rettung oder Umkehr. Der Verlauf jeder Erzählung steuert unerbittlich immer in Richtung Verdammnis zu. Wo die Herausgeberin da noch Hoffnungsschimmer aufblitzen sieht, bleibt ein Rätsel, heisst es an einer Stelle doch vielmehr unmissverständlich explizit: "Keine Hoffnung!" und "kein Heilmittel".
Der Mensch, so sehr er sich nach Transzendenz sehnt und sein Wunsch nach göttlicher Gnade zum Ausdruck kommt - bei Buzzati wird sie ihm fast durchwegs verwehrt. Sie sind von Anbeginn Verdammte, die sich ihrem Schicksal schliesslich widerstandslos ergeben. Alles andere wäre literarisch auch wenig erspriesslich.