Auch
wenn das Lesefrüchtchen der bedingungslosen Walser-Verehrung, die
jede Mikrogramm-Kapriole als neuen Geniestreich feiert, mit
bedenklicher Skepsis begegnet – eines muss man lassen: Jakob von
Gunten (1909) ist ein grandioser Roman, der in einer Linie steht
mit Klassikern der Moderne wie Melvilles Bartleby, dem Buch
der Unruhe von Pessoa oder Flauberts Bouvard & Pecuchet.
Alle diese Bücher warten mit
scheiternden, sich verweigernden oder zurückziehenden Antihelden
auf, von denen vordergründig auch Jakob einer ist. Erklärt er doch
gleich zu Beginn, er wolle im Leben nichts anderes als „eine zierliche, kugelrunde Null“ werden. Die fast schon provokative Nonchalance,
mit der dieser invertierte Karrierewunsch geäußert wird, lässt
aber bereits erahnen, dass es mit Jakobs Bescheidenheit nicht weit
her ist, und sich vielmehr ein ausgewaschenes Grossmaul hinter der
Parole der Selbstverkleinerung verbirgt.
Der
im Untertitel als „Tagebuch“ deklarierte Roman schildert aus der
Sicht von Jakob seinen Eintritt und Aufenthalt im Institut
Benjamenta, einer merkwürdigen und ziemlich maroden Knabenschule,
die ihre Glanzzeiten längst hinter sich hat. Jedenfalls erfährt der
Leser mit der ersten Zeile, dass die Zöglinge dieses Instituts fast
nichts lernen, weil alle Lehrer entweder fort, tot oder am Schlafen
sind. Der Unterricht, der aufgrund der absenten Lehrerschaft von der
Schwester des Vorstehers gehalten wird, beläuft sich auf
inhaltsleere Exerzitien, die entfernt an monastische
Meditationsrituale erinnern. Mit Eintritt von Jakob gerät die
Organisation gänzlich aus den Fugen und das Institut geht seinem
Untergang entgegen: „Du
bist der letzte Schüler gewesen. Ich nehme keine Zöglinge mehr an“,
sagt der Vorsteher, bevor er am Ende die Pforten schließt.
Wenn
nicht unbedingt eine apokalyptische, so ist Jakob doch eine ganz und
gar subversive Figur, die sich lustvoll über die gesellschaftlichen
und institutionellen Schranken hinwegsetzt. Für Irritationen sorgt
bereits, dass er sich, obwohl (wie er mehrfach betont) aus
vornehmen Hause stammend, in der Knabenschule zum Diener ausbilden
will. Er wählt also vorsätzlich, doch nur vordergründig einen sozialen Abstieg auf subalterne Stufe, denn insgeheim kokettiert
er mit einer mondänen Existenz, wie sie sein Dandy-Bruder, der
Künstler Johann, in der Großstadt verwirklicht. So legt Jakob auch
im Institut öfters ein hochmütiges, ja freches Gebaren zu Tage,
eigens um den Vorsteher zu provozieren. Doch anstatt zum Konflikt
kommt es schließlich zu einer Art Verbrüderung zwischen ihm und seinem
Schüler. Das Buch endet mit dem Bild, wie beide gemeinsam in die Wüste
ziehen: „Ich war immer der Knappe, und der Vorsteher war der
Ritter.“ Unverkennbar zeichnet sich da die Silhouette von Don
Quijote mit seinem Begleiter Sancho Pansa ab. So liest sich der Roman
rückwärts auch als eine moderne Donquijotiade.
Jakob
von Gunten
ist Robert Walsers dritter und – im Vergleich mit den beiden
Vorgängern – merklich surrealster Roman. Nicht allein, weil er
sich einer konventionellen Handlungsführung relativ konsequent
verweigert. Mit dem Institut Benjamenta scheint man auch eine
Parallel- oder Traumwelt zu betreten, in der die gewohnte
Alltagslogik außer Kraft gesetzt wird. Tatsächlich hintersinnt sich
Jakob mehrmals, ob er nicht etwa alles nur träume, mehr noch kommt
ihm sein „ganzer hiesiger Aufenthalt wie ein unverständlicher
Traum“ vor. Unverständlich ist vieles, aber zugleich alles auch
ungeheuer bedeutungsschwanger. Allein die zahlreichen biblischen Sub-
und Intertexte rufen geradezu nach einer Interpretation. Doch
vielleicht ist man am besten beraten, wenn man es wie Jakob mit
seinen Träumen hält: „Ah bah, laß das Deuten.“ Auf der anderen
Seite ist der Roman wieder so durchtrieben komponiert, dass wohl
tatsächlich nichts unbedeutend ist und selbst dem scheinbar
belanglosen Detail ein Sinn abzugewinnen wäre. Wie auch immer: Auf
jeden Fall handelt es sich um jene Kategorie von Romanen, die nie
ausgelesen werden können, weil sie bei jeder Lektüre wieder neue
Einsichten eröffnen.
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