Montag, 6. März 2017

Günter Seuren: Der Abdecker (1970)

Mit diesem Roman entfernt sich Günter Seuren von Dieter Wellershoffs Kölner Schule des Neuen Realismus, der er anfänglich zugeordnet wurde. Der Abdecker – in der Neuauflage von 1983 nur noch Abdecker – ist ein Psychothriller, in dem Wirklichkeit und Wahn zusehends verwischen. Ein deutsches Konkubinats-Pärchen, das mit einer Aufenthaltsbewilligung B nach Zürich kommt, weil sie eine wichtige Anstellung als Fliegenforscherin an der ETH erhielt, gelangt bei zwei alten (und – lustig – reichlich bärtigen) Schwestern zur Untermiete: Der 78jährigen Frau Bjarsch, die mit einem einflussreichen „Boss“ verheiratet war, und der 74jährigen Elly, die in dem asymmetrischen Geschwisterverhältnis als eine Art Dienstmagd agiert.

Beide leben im paranoiden Irrglauben, dass sie nächtens von „Australiern“ (weshalb ausgerechnet Australier?) heimgesucht werden, einer „Rifze“ und ihrem „Schwanz“, welche das Haus regelmässig verunstalten und Unzucht treiben sollen. Der zeithistorische Hintergrund, der allerdings nur vorsichtig angetupft wird, markiert der damalige Diskurs zur „Überfremdung“ in der Schweiz. Stehen die Aus-tralier vielleicht für den Aus-länder schlechthin? Wie auch immer, jedenfalls passt sich das deutsche Pärchen aus Furcht, die eigene Aufenthaltsbewilligung zu verlieren (die durch das in Zürich in den 1970er Jahren noch unerlaubte Konkubinat zusätzlich gefährdet ist), den Wahnvorstellungen der Schwestern an, auch wenn sie mehrmals versuchen diese zur Raison zu rufen.

Mehr noch haben sie sogar die Schwestern im Verdacht, selbst die Spuren des nächtlichen Treibens zu legen, das sie anderntags den imaginierten Australieren unterschieben. Doch je mehr sie den senilen Schwestern die Realität vor Augen führen wollen, desto stärker richtet sich deren aggressive Paranoia gegen sie selbst. Sie fühlen sich beobachtet, bedrängt und nicht zuletzt auch bedroht und behext – einen längerer Exkurs handelt über die sogenannte Lachsnerei: über magischen Schadenszauber. Auf diese Weise zieht sich das Wahnsystem immer enger um das Pärchen zusammen, die aufgrund ihrer sozialen Situation zwar tapfer ausharren, obwohl die Wohnumstände längst nicht mehr auszuhalten sind.

Durch die diffusive Erzählweise wird der Leser selbst in permanenter Unsicherheit gelassen, was von den geschilderten Ereignissen wirklich vorgefallen, dem kranken Hirn der Schwestern entsprungen oder reine Erfindung des Erzählers ist. Erzählt wird aus der Perspektive des Mannes, von dem man weder weiß wie er heißt noch was er arbeitet, oft unmarkiert durchmischt mit personaler Rollenprosa, Dialogen, Nachrichten und anderen Informationspassagen, so dass eigentlich nie ganz klar ist, wessen Stimme man wie vermittelt vernimmt.

Ohnehin erweist sich das erzählende Ich als äußerst unzuverlässige, am Ende sogar dubiose Gestalt, die (trotz oder gerade wegen vehementer Beteuerung des Gegenteils: „ich habe nichts, gar nichts mit der Sache zu tun“) nicht frei vom Verdacht bleibt, am brutalen Überfall auf die Schwestern mitbeteiligt zu sein, bei dem sie blutüberströmt in ihrem Haus aufgefunden werden. Immerhin hat sich das entnervte Pärchen, das im Besitz einer Handfeuerwaffe ist, den Tod der Schwestern insgeheim mehrfach gewünscht und profitiert letztlich von ihrer dauerhaften Unterbringung im Pflegeheim: Sie richten sich heimisch im Haus der Schwestern ein.

Auch der Titel des Romans bleibt diesbezüglich andeutungsreich. Abdecker – so nannte man früher die Person, die für die Beseitigung von Tierkadavern zuständig war. Ganz zum Schluss taucht der „Abdecker“ auf und schläfert gemeinsam mit dem Erzähler den Hund der Schwestern ein. Daneben eröffnet der Text noch eine übertragene Lesart des Begriffs, wenn es ebenfalls gegen Ende heißt: „keine Blöße zeigen, zudecken, alles zudecken, so kommen wir durch“. Das war lange Zeit die vorsichtige (Zurück-)Haltung, um weiterhin unbemerkt bei den debilen Schwestern zu wohnen. Doch offenbar war das Zudecken auf die Dauer nicht ertragbar. Da wurde die Strategie geändert und – endlich abgedeckt.

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