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Mittwoch, 30. Oktober 2024

Michelle Steinbeck: Favorita (2024)

Wie reagiert man, wenn man vom Tod der eigenen Mutter erfährt? Mersault bei Albert Camus vergiesst keine Träne, vielmehr nimmt er mit grosser Gleichgültigkeit an der Beerdigung teil. Auch die Ich-Erzählerin von Michelle Steinbecks neuem Roman nickt zuerst emotionlos, als ihr ein anonymer Anruf aus einem italienischen Spital mitteilt, ihre Mutter sei nicht nur verstorben, sondern ermordet worden. "Nun bin ich sie endgültig losgeworden", lautet der erste lapidare Gedanke der Tochter. Schon bald aber begibt sie sich, leidend an ihrer Herkunftslosigkeit, auf die Spuren der Mutter Magdalena, die für sie, da zu Lebzeiten ständig abwesend, nicht mehr als ein Phantom war, und damit auch auf in eine unbekannte Vergangenheit. Während der Reise nach Rom, erfahren wir in verschiedenen Rückblenden, wer Magdalena war und weshalb es zur Entfremdung zwischen ihr und ihrer Tochter Filippa gekommen ist, die hauptsächlich bei der Grossmutter aufgewachsen ist, nachdem der alkoholkranken Mutter das Sorgerecht entzogen wurde.

Wie sich herausstellt war Magdalena nicht nur eine notorische Trinkerin, sondern auch eine Prostituierte, bekannt unter ihrem, wenn man so will, 'Künstlernamen' Favorita. Nachdem Filippa die Ich-Erzählerin, die Asche ihrer Mutter im Spital abgeholt hat, stösst sie in der "Strasse der Frauen" per Zufall zu einer Gruppe von Prostituierten, der früher auch Favorita angehörte. Sie haben sich in einer stillgelegten Salamifabrik einquartiert , um dort als moderne Hexen eine Bastion gegen das Patriachat einzurichten, von dem sie ausgebeutet und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Sorella, eine von ihnen, hat in einem als Diorama umfunktionierten Teleskop ein "Archiv der getöteten Frauen" angelegt, das alle Fälle von Femizid registriert. Der weibliche Körper ist nicht nur Projektionsfläche männlicher Lust, sondern oft auch Zielscheibe der Gewalt. Wie Filippa erfahren muss, wurde auch ihre Mutter offenbar von einem Kerl namens "Coach" ermordet. Sie schliesst sich dem revolutionären Aufbau der prostituierten Widerstandskämpferinnen an, verliert aber bei einer Räumungsaktion der Polizei das Bewusstsein - und wacht im Auto eines gewissen Lorenzo, der sich als Zögling eben jenes "Coach" erweist. 

Hier am Kulminationspunkt des Spannungsbogens schiebt sich als grosse Binnenerzählung die "Geschichte der schönen Sisna" dazwischen: in Form einer Kriminal- und Geistergeschichte. Filippa gelangt mit Lorenzo zu einem Landhaus am Rande eines Bauerndorfes, wo sie zusammen mit ihm alles für die Gesellschaft des Coach vorbereiten soll, eine Gruppe von Faschisten, die in ein paar Tagen erwartet wird. Sie schürt Rachephantasien und plant, am Coach für den Tod ihrer Mutter Vergeltung zu üben, deren sterbliche Überreste sie in der Urne auf Schritt und Tritt begleiten. Zugleich erfährt sie, dass es im Haus spuken soll und sie entdeckt ein Heft mit Zeitungsartikeln über den spektakulären Prozess um Sisina, ein Mädchen, das am Tag vor ihrer Heirat im Wald ermordet, der Täter jedoch nie erfasst wurde. Die Tote erscheint der Ich-Erzählerin mehrfach als Geist, hält mit ihr Zwiesprache und gemeinsam schieden sie ein Rachekomplott. Im Schicksal Sisinas erkennt die Erzählerin etliche Parallelen zum Fall ihrer Mutter und beschliesst, nicht nur ihren Tod, sondern auch den Sisinas zu sühnen. In einem überbordenden Showdown kommen auch die prostituierten Rebellinnen zu Hilfe und sprengen die faschistische Versammlung auseinander. Danach eilen sie mit allen Geistern auf den Friedhof, wo ein frisches Grab für Favorita ausgehoben ist. Als die Urne beigelegt werden soll, erschüttert eine Explosion die Atmosphäre und die Asche verstreut sich in die Lüfte.

Der Roman ist durchgängig aus der Ichperspektive im Präsens erzählt, wovon in epischen Texten häufig abgeraten wird, weil es erzähllogisch kaum aufgeht, hier aber gerade die Grauzone zwischen Erlebtem und Geträumten, zwischen Wirklichkeit und Vision auf besonders eindringliche Weise ausloten kann. Der Roman trägt eindeutig phantastische Züge, zugleich behandelt er auf erfrischend unverkrampfte Weise aktuelle Zeitfragen zur toxischen Männlichkeit, zu neofaschistischen Strömungen, zum komplexen Verhältnis zwischen Begehren, Macht und Gewalt. Gerade in der Figur der als moderne Hexen auftretenden Prostituierten manifestiert sich die Spirale zwischen sexueller Dominanz und sexueller Ausbeutung der Frauen. Semantisch hervorgehoben wird dieser Zusammenhang im Begriff des "fegare", der ursprünglich "fegen" bedeutete, heute im Italienischen aber nur noch im Sinne von "ficken" Verwendung findet, was im Roman zu einem komischen Missverständnis führt, das dann symbolisch potenziert wird. In dieser Vokabel kulminiert die Grundproblematik des Romans: das Kausalverhältnis zwischen Domestizierung zur Hausfrau, Degradierung zum Lustobjekt und Femizid, also der Verachtung und Beseitigung ('Säuberung') der Frau, sobald sie sich gegen den Rollenzwang auflehnt.

Der Autorin ist ein gewaltiger Wurf gelungen, der man ihr nach dem surreal versponnenen Debut in dieser erzählerischen Wucht und dieser epischen Breite auf Anhieb nicht zugetraut hätte. Eine fulminante, handlungsstarke, zuweilen auch - wenn man etwa daran denkt, dass die Protagonisten ständig mit der Urne ihrer Mutter unterwegs ist - absurd komische Abenteuer- und Rache-Geschichte mit gehörig narrativem Drive, der sich ganz in den Dienst der Geschichte stellt, aber nie schablonenhaft oder abgedroschen wirkt - im Gegenteil: eine souveräne Erzählstimme installiert, die zuweilen sogar mit originellen Sprachschöpfungen aufwartet, z. B. "Mein Herz spechtet" (könnte auch von Arno Schmidt stammen), "So karachen wir kiesspritzend zur Villa" oder "Er lächelt, aber seine Augen sind Brunnenlöcher", wobei die Brunnenlöcher nicht nur das Leere und gleichsam Abgründige symbolisieren, sondern faktisch auch den Tatort widerspiegeln. Eine Metapher als äussert verdichtetes Zentrum. Für das Lesefrüchtchen ist Favorita klar die Favoritin für den diesjährigen Schweizer Buchpreis. Der Roman steht auf der Shortlist.

Montag, 17. Juni 2024

Thomas Love Peacock: Nightmare Abbey (1818)

Der Titel dieses Konversations-Romans führt auf eine falsche Fährte. Wer zurecht einen Schauerroman vermutet, fühlt sich mit Sicherheit enttäuscht, auch wenn der Autor - allerdings auf höchst ironische Weise - mit schauerromantischen Elementen spielt oder mehr noch eine veritable Parodie der englischen Gothic Novel mit all ihren Versatzstücken vornimmt. Peacock, zeitlebens ein Gentleman-Writer, der sein Einkommen nicht mit der Schriftstellerei, sondern in leitender Anstellung bei der East Indian Company verdiente, konnte es sich als literarischer Aussenseiter leisten, seiner Feder freien Lauf zu lassen. Dabei gelingt ihm das Kunststück, das grosse Literatur auszeichnet: Das Werk sprüht nur so von intertextuellen und lebensweltlichen Anspielungen. Peacock amalgamiert gekonnt seine weitreichende Belesenheit mit der Begabung, sein Umfeld mit humoristischem Einfühlungsvermögen abzukonterfeien.

Fast das gesamte Romanpersonal lässt sich mit dem Kreis um den englischen Schriftsteller Percy Bysshe Shelley identifizieren, mit dem auch Peacock verkehrte, und zwar just in jener Phase als der bereits verheiratete Shelley eine Beziehung zur 18jährigen Mary Wollstonecraft Godwin einging, die später seine zweite Frau wurde und am Genfersee, damals noch bei einem heimlichen Treffen mit ihrem liierten Geliebten, mit Frankenstein die Mutter aller Gothic Novels verfasste. Der Roman erschien übrigens zeitgleich mit Peacocks Schlüsselroman rund um den Shelley-Kreis und hat auch just den Zwiespalt des Protagonisten zum Thema, der zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen ist. Shelleys Konflikt spiegelt sich unverkennbar in der Romanhandlung, zugleich dient Goethes Drama Stella als intertextuelle Folie.

Der Roman selbst ist mit seinen typographisch abgesetzten Dialogpartien streckenweise wie ein Theaterstück strukturiert, ganz abgesehen davon, dass die Haupthandlung direkt aus einem zweitklassigen Dorfschwank stammen könnte. Scythrop, ein schwermütiger Jüngling, dem die Transzendentalphilosophie den Kopf verdrehte, soll verheiratet werden. Sein Vater Mr. Glowry sieht dafür die Tochter Celinda seines Freundes Mr. Flosky vor, doch weder er noch sie wollen die Partie eingehen. Sie entflieht spurlos aus ihrem Elternhaus und Scythrop umschwärmt stattdessen seine Cousine Marionetta, die ein kokettes Liebesspiel mit ihm treibt. Durch einen Zufall gelangt die geflüchtete Celinda jedoch in die Obhut von Scythrop, der sie allerdings, da er sie nie zuvor gesehen, erkennt, sondern für eine geflüchtete Illuminatin hält, was seiner obskurantistischen Vorliebe nur entgegenkommt, weshalb er sich auch in sie verliebt und sich am Ende nicht zwischen beiden Geliebten entscheiden kann. Aus Not will er à la Werther zur Pistole greifen, entscheidet sich kurzerhand dann aber doch für eine Flasch Madeira.

Das alles spielt sich im Anwesen von Mr. Glowry ab, in der titelgebenden 'Alptraum-Abtei', im Kreise skurriler und höchst exzentrischer Personen, die sich die Zeit mit müssigen ästhetischen und weltanschaulichen Diskussionen vertreiben. Alles diese Typen sind mit ihren Idiosynkrasien treffend geschildert wie Peacock überhaupt über ausreichend Menschenkenntnis und Esprit verfügt. Besonders gut kommt das zum Ausdruck, als alle zusammen ein Glas Wein trinken, was jeder einzelne in seiner eigenen Manier kommentiert. Der verliebte Scythrop nennt den Wein das "einzige blutstillende Mittel für ein blutendes Herz", der abgeschlaffte Hedonist Mr. Listless nennt ihn die "einzige Mühe, welche es sich wirklich lohnt zu machen", der fatalistische Mr. Toobad spricht vom "einzigen Antidoton gegen den grossen Zorn des Teufels", der pessimistische Mr. Larynx hält ihn für das "einzige Stück akademischen Wissens, welches der ausgebildete Studiosus behält" usw.

Der Roman ist zu verspielt und leichtfüssig, als dass er in den literarischen Kanon hätte aufsteigen können. Er ist unverkennbar das Produkt einer Freizeitbeschäftigung, die Ausgeburt eines sprühenden Geistes, der seine Einfälle nicht der Ernsthaftigkeit einer komplexen Konzeption unterordnen will oder kann. Wenn der Roman gleichwohl literaturhistorische Relevanz besitzt, dann vor allem deshalb, weil er gut 150 Jahre später ein opus magnum angeregt hat: Arnos Schmidts Zettels Traum, der die Idee zu seinem Roman einer Stelle entnommen hat, die Coleridges angebliche Inspiration im Opiumschlaf parodiert: "Ich verfasste fünfhundert Zeilen im Schlaf, so dass ich jetzt, nachdem ich einen Traum von einer Ballade gehabt habe, als meine eigener Peter Squenz fungiere und eine Ballade aus meinem Traum mache, uns sie soll 'Zettels Traum' heissen, weil sie so seltsam angezettelt ist."