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Mittwoch, 17. Juli 2024

Ferienlektüre

Das Lesefrüchtchen macht, was denn sonst, Leseferien. Anstelle von Strandliteratur und aktuellen Bestsellern deckt es sich mit einem Koffer voller Bücher ein, die schon lange herumstehen, Wandschränke und Regale verstopfen, um sie endlich los zu werden. Jetzt oder nie. Die Devise ist, alle Bücher in den Ferien wenigstens an- und wenn sie etwas taugen sogar auszulesen. Auf alle Fälle werden sie am Urlaubsort zurückgelassen für andere Lesefreudige oder die nächste Putzequipe, die sie ins Altpapier befördert. Denn um Altpapier handelt es sich bei den in die Jahre gekommen, stark abgenutzten, zerfledderten, irgendwo auf einem Flohmarkt oder bei einem Billighändler erworbenen Schmöker durchaus. Klassisches Lesefutter also, das rasch konsumiert und noch schneller vergessen und entsorgt werden kann. Ein paar kleine Reminiszenzen seien hier gleichwohl festgehalten:

Jack London, der "amerikanische Balzac", ein Vielschreiber und früher bei vielen Jugendlichen bekannt für seine Abenteuerromane. Er setzte sich ein Pensum von mindestens 1500 Wörtern pro Tag und schuf innerhalb von 16 Jahren mehrere hundert Erzählungen und über 40 Bücher. Bevor Adam kam ist die Geschichte eines Mannes mit gespaltenem Bewusstsein. Am Tag lebt er als moderner Mensch, nachts kehrt er im Traum in das prähistorische Dasein seiner tierischen Urahnen zurück. Diese "Traumpersönlichkeit" entwickelte der Ich-Erzähler schon früh als Kind, als er von wilden Tieren träumte, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Erklärt wird diese "Halb-Bewusstseins-Spaltung" durch eine "Anomalie". Der Protagonist präsentiert sich als "Wesen mit abnormen Erbgut", das heisst, seine "rassischen Erinnerungen" an die Urzeit sind bei ihm viel ausgeprägter als bei anderen Menschen. So durchlebt er im Traum nochmals die Abenteuer seines früheren Affen-Ichs namens Langzahn, zusammen mit seinem Freund Schlapport und der Flinken, mit der er später den Nachwuchs zeugen wird. Sie zählen zu einer schon etwas weiterentwickelten Spezies im Unterschied zum furchteinflössenden "Rotauge", ein wilder Uraffe, der als reiner "Atavismus" geschildert wird. Auf der anderen Seite existieren bereits Feuermenschen, die ihnen technisch überlegen sind.

Eine Zeitreise nicht im Traum, sondern mit einer Maschine erzählt H.G. Wells in seinem SF-Klassiker Die Zeitmaschine. Die Reise führt auch nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Ein namenloser Zeitreisender schildert einer Abendgesellschaft, nachdem er ein Modell seiner Zeitmaschine demonstrierte, seine Erlebnisse in der Zukunft. Und die sind alles andere als ermutigend. Er gelangt zwar in ein goldenes Zeitalter, in dem alle sozialen Probleme beseitigt sind und keine Gefahren mehr drohen und alle Menschen in Glückseligkeit leben - die allerdings um den Preis vollkommener Antriebslosigkeit. Die Eloi, das Volk, das er antrifft, befindet sich bereit auf einer degenerierten Stufe der Menschheit. Die ätherischen Wesen, die stets fröhlich, aber unbedarft sind, besitzen keine Kultur und keine Individualität; die herdenartige Schar von Menschen vegetiert mehr oder weniger nur vor sich hin. Daneben gibt es die bedrohlichen Morlocken, glitsche molchartige Wesen mit Glupschaugen, die unter der Erde leben. Zunächst vermutet der Zeitreisende, es handle sich um Untermenschen, die von den Eloi versklavt im Untergrund arbeiten müssen. Doch wie er bald feststellen muss, ist gerade das Gegenteil der Fall: Die Morlocken halten sich die naiven Eloi quasi als menschliches Mastvieh, das sie in regelmässigen Origen genüsslich verspeisen. Keine besonders verlockende Zukunftsvision. Doch es kommt noch schlimmer. Nachdem sich der Zeitreisende aus den Fängen der Morlocken befreien und auch die von ihnen beschlagnahmte Maschine zurückerobern kann, reist er weiter in die Zukunft, wo ein Schreckensszenario, das nächste ablöst: zunächst ist die Welt nur noch mit Monsterkrebsen bevölkert, danach folgt eine Eiszeit und schliesslich herrscht nur noch eine beklemmende Stille, weil alles Leben ausgelöscht ist. 

Und noch eine Zeitreise: Das Fenster zum Sommer von Hannelore Valencak, 1967 ursprünglich unter dem Titel Zuflucht hinter der Zeit erschienen. Der Titel, so dachte das Lesefrüchtchen, sei ideal für die eine Sommerferienlektüre. Doch weit gefehlt, denn es verhält sich gerade anders. Die icherzählende Protagonistin, die eigentlich mit ihrem jungvermählten Mann in die Sommerferien nach Camargue fahren will, wider Erwarten aber nicht an einem Julimorgen in seinen Armen aufwacht, sondern ein knappes halbes Jahr früher, mitten im Winter, in der Wohnung ihrer Tanta Priska, die sie seit dem siebten Lebensjahr grossgezogen hatte, weil die leibliche Mutter nach ihrer Scheidung nach Kanada auszog und ihr Kind zurückliess. Seither befand sich Ursula, so heisst die Protagonistin, in einem Interimszustand, in einer Warteposition, die sie am richtigen Leben hindert: "sehr selten hatte ich den Mut zu fühlen: Ich bin da. Ich bind auf der Welt. Viel öfter sagte ich mir: Das ist jemand anderer, der das erlebt. Meine Stunde ist noch nicht da. Ich muss warten lernen. Und manchmal erschrak ich, wenn etwas in mir sagte: Da kannst du lange warten. Deine Zeit kommt nie." Doch dann geschieht das (Un-)Erwartete und ihr Leben, springt "in ein neues Geleise". Die Metapher ist gut gewählt, denn der Moment ereignet sich in der Strassenbahn, als sie mit einem Mann (Joachim) zusammenstösst. Sie verlieben sich Hals über Kopf, heiraten rasch, kaufen sich gleich darauf ein Haus und sind glücklich. Doch dann wird Ursula nolens volens in die Vergangenheit zurückkatapultiert und auf eine harte Probe gestellt. Vorbei der schöne Traum. Sie ist wieder Single. Natürlich will sie den "Rückweg zu Joachim" finden, der zeitlich besehen eher ein Vorwärtsweg ist, weil die Begegnung mit ihm noch in der Zukunft liegt. Sie begibt sich in seine Nähe und macht sich bemerkbar, um ihn wieder für sich zu gewinnen. Doch sie entdeckt ihn bloss mit seiner bildhübschen Verlobten. Als Zeitreisende in die eigene Vergangenheit lernt Ursula ihr Umfeld mit anderen Augen zu betrachten. Vor allem realisiert sie, dass sie nicht in die Vergangenheit nicht beeinflussen darf, wenn sie die wieder gewünschte (alte) Zukunft münden soll. Sie lässt deshalb von ihren Manipulationsversuchen ab und wartet nur noch auf den Augenblick, in dem sich der zukünftige Zusammenstoss mit Joachim nochmals einstellen wird. Sie durchlebt alles zweimal und sie präkognitiv auch voraus, was jeweils geschehen wird, was sich aber als grosse Schwierigkeit herausstellt. Denn wie Joachim einmal zu ihr sagte: "Wir kennen vielleicht unsere Zukunft nicht, damit wir sie uns nicht selber verderben können." Buchstäblich in einem Wettlauf gegen die Zeit versucht Ursula die ihr bekannte Zukunft doch noch zu erreichen, doch die Strassenbahn, in dem sich der Zusammenstoss mit Joachim ereignen sollte, fährt ihr vor der Nase davon. Sie kann ihrem neuen Leben nur noch hinterhersehen und ihr altes wieder aufnehmen. Einige Zeit später erfährt sie allerdings, dass Joachim in der Nacht, als sie in die Vergangenheit zurückfiel, an einem Herzinfarkt gestorben ist. Ihr Sommer mit ihm, so folgert sie, "war irrtümlich in der Welt. Er war nichts als eine Möglichkeit unter vielen tausend anderen Möglichkeiten gewesen, und Joachim hat nie gewusst, dass er sie versäumt hat." Ursula erscheint nun das Schnippchen, das ihr die Zeit geschlagen hat, als Gnadenakt, da es ihr erlaubte, den Verlust von Joachim im Vorfeld zu verarbeiten, so dass sein Tod schliesslich keine Katastrophe mehr darstellt. Mehr noch lernte sie in dieser Zeit, als ihr die Zukunft quasi vorbestimmt schien, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Die Paradoxie von freiem Willen und Determination speilt der Roman so anschaulich durch. Wie H.G. Wells so versucht auch die Autorin, die eine studierte Physikerin ist, im Nachwort die Zeitreise mit Theorien über die vierte Dimension zu plausibilisieren.

Es ist Sonntag und Zeit für einen Krimi: Wie die Tiere von Wolf Haas, der mit seinem Ermittler Brenner ein Garant für gute und gewitzte Unterhaltung ist. Und interessant: der Roman beginnt just auch mit der Frage nach der Reversibilität der Zeit: "der Mensch kann nichts ungeschehen machen, das ist von seiner ganzen philosophischen dings her nicht möglich". Diesmal ist Brenner einem Hundemörder auf der der Spur, der im Wiener Augarten mit Nadeln versehene Hundekekse ausstreut. Beauftragt hat ihn der Zuhälter Schmalzel vom "White Dog", in dessen Etablissement Brenner auch residieren darf, in einer Wohnung, die er sich mit einer spanischen Prostituierten wie ein altes Ehepärchen teilt. Da Schamlzel beruflich umsatteln und sich ein neues Image zulegen will, engagiert er sich mit der Kampagne "Tierfamilie" fürs Gemeindewohl. Als dann ausgerechnet die attraktive Mitarbeiterin, die beim Unterschriftenfang jedem Mann den Kopf verdreht, von einem Argentino totgebissen wird, nimmt der Fall so richtig Fahrt auf. Brenner fürchtet jedoch, es könne ein "Frauenfall" werden, die "immer wahnsinnig kompliziert" sind im Vergleich zu Männerfällen. Dort gibt es schlicht "einen schönen Mord", jemand "drückt einmal ab und aus, und dann musst als Detektiv den Burschen eben finden". Und tatsächlich muss sich Brenner dann hauptsächlich mit Frauen und einer wildgewordenen Meute von "Kampfmüttern" herumschlagen, weil er sich unvorsichtig über den Wert von Ohrfeigen geäussert hat. Am Ende ist dann aber doch ein Mann der Bösewicht und es kommt zu einem spektakulären Showdown auf dem alten Flakturm im Augarten. Dem Täter wird vom Rotorblatt eines Helikopters der Kopf abgesäbelt und vom Föhn-Wind über die Dächer der Stadt getragen, bis er in einem Kinderbecken landet. Die ganze Groteske wird im typischen Brenner-Stil erzählt, was wesentlich zur Sprachkomik beiträgt, eine zugleich altkluge, wie jargonlastige Diktion im Secondo-Stil. Und musst du wissen: Es gibt den wohl längsten Cliffhänger der Krimigeschichte. Ein Witz relativ zu Beginn wird erst ganz am Ende aufgelöst.

Brenner wohnt im Rotlicht und auch der Roman Im Stein von Clemens Meyer spielt in diesem Milieu. Er bietet ein Panorama (oder vielmehr ein Purgatorium) der Prostitution in Ostdeutschland nach der Wende, multiperspektivisch erzählt aus der Sicht verschiedener Personen: Sexarbeiterinnen, Zuhälter, Polizisten etc. Von der Harz IV-Empfängerin über die junge Studentin bis zu schmierigen Paschas, die Zonen-Gabys ebenso wie die Ruhrpott-Uschis - alle wollen sie mit Sex das grosse Geld verdienen. Es gibt den Alten vom Berg, Arnold Kraushaar (als Jugendlicher mit "Schamhaar" verspottet), der Wohnungen für käuflichen Sex vermietet, und sein Konkurrent, genannt der "Graf" oder der "Bielefelder", obschon er gar nicht aus Bielefeld stammt, der in der "Burg" ein Edelpuff betreibt. Ein beeindruckend opulenter Roman, technisch gekonnt, doch leider mit dem kapitalen Fehler der Handlungsarmut. Der Roman will nicht so richtig in die Gänge kommen. Zwar passiert ein grausiger Mord: jemand wird mit abgesäbeltem Bein im Moor versenkt, doch insgesamt zerläuft sich der Roman in seiner Gedächtnisstrom-Architektur. Was im ersten Kapitel noch ambitioniert wirkt, ist auf die Länge nur noch redundant und ermüdet rasch. Als narratives Experiment ist die Gedankenflut zwar interessant, verspricht sie doch eine Innensicht ins deutsche Bewusstsein mit seiner Doppelmoral und eine zuweilen grelle Ausleuchtung von Tabuzonen. Literarisch bleibt es aber enttäuschend. Eine richtige Sozialreportage wäre wohl ergiebiger gewesen, ein echter Szenekrimi wiederum packender. An einer Stelle denkt sich ein Polizist, der für die Tatort-Serie im Fernsehen als Berater angefragt wurde, um die Filme realistischer zu gestalten: "Dann lieber die Dramen, die dramatischen Seifenopern, Schimmis Faust, Cognac und Zigaretten für Haferkamp." Diese Einsicht lässt sich mühelos auf den Roman selbst anwenden, der zu viel wollte und daran gescheitert ist. Ein Szeneapplaus gebührt dem Autor indes für das Kapitel über den Radiomoderator Ecki Edelkirsch, der von Sex-Kalauern nur so strotzt. Die beiden besten gehen aufs Konto von Goethe: "Wanderers Nach-Glied" und "der ewige alte Reinstecke Fuchs". Auch gut: "it's blowtime!". In eine ähnliche Richtung geht folgender Dialog: "Weisst du eigentlich, woher der Begriff Rotlicht kommt?" "Nein." "Im Mittelalter mussten die Frauen als Zeichen dieser Zunft rote Kappen tragen." "Rotkäppchen war also eine Hure?" - Deshalb wird im Roman symbolischer Weise auch pausenlos Rotkäppchen-Sekt getrunken.

Ein Buch, das das Lesefrüchtchen eher auch enttäuscht hat, obschon es den Autor besonders schätzt, ist Blaubarts letzte Liebe aus dem Nachlass von Hans Natonek. Manchmal erweist man Schriftstellern mit postumen Editionen einen Bärendienst. So auch hier. Der gebürtige Prager Autor flüchtete mit Hilfe von Varian Fry über Portugal ins Exil in den U.S.A. Auch Thomas Mann, den Natonek zusammen mit Walter Mehring und Ernst Weiss von Paris per Telegramm anschrieb, unterstützte die Einreise nach Amerika. Im Gepäck auf dem Flüchtlingsdampfer 'Manhattan' hatte Natonek eine alte Aktentasche dabei mit dem kaum mehr entzifferbaren Manuskript des Romans. Obschon es ein historischer Stoff ist, der die Geschichte der Freiheitskämpferin Jeanne d'Arc und dem als Kindermörder verrufenen Gilles de Rais mit vielen poetischen Lizenzen erzählt, lässt er sich doch als Allegorie auf die Schrecken des Faschismus lesen. Jeanne und Gilles, beide als Ketzer verurteilt, erscheinen als Opfer eines repressiven Regimes. In zentralen Stellen des Romans wird das Wesen des Bösen als Grundlage für Machtausübung reflektiert. Vom Ansatz her interessant, in der Ausführung aber doch zu dünn und für einen historischen Roman zu wenig plastisch.

Im Ferienhäuschen lagen einige Schmöker herum, was das Lesefrüchtchen als willkommene Gelegenheit auffasste, sich wieder einmal einen internationalen Beststeller zu Gemüte zu führen, den alle Welt kennt, bloss das Lesefrüchtchen nicht, und zwar Der Schatten des Windes von Carlos Ruiz Zafón. Die Story beginnt wie eine Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges: eine labyrinthische Bibliothek, ein vergessenes Buch, ein mysteriöser verschollener Autor, eine blinde Leserin und ein gesichtsloser Mann, der auf Bücherjagd geht. Alle Ingredienzen für eine bibliophile Abenteuergeschichte sind beisammen, nur leider schlittert der Roman immer mehr in ein klebriges Liebesmelodram. Der junge Daniel Sempere macht sich auf die Suche nach den biographischen Spuren des Autors Julián Carax, dessen einzig überliefertes Exemplar von Der Schatten des Windes er in der Bibliothek der vergessenen Bücher aufgestöbert hat, in die ihn sein Vater geführt hat. Mit dem Besitz des Buches beginnen jedoch die Probleme: Ein unheimlicher Mann ohne Gesicht und mit verbrannter Lederhaut will das Buch vernichten. Er scheint direkt aus dem Buch selbst entstiegen zu sein, in dem mit der teuflischen Gestalt von Laín Coubert eine nahezu identische Figur vorkommt. Doch weshalb ist er so erpicht darauf, das Buch zu zerstören? Und weshalb zieht das Buch den jungen Daniel dermassen in den Bann, obschon es sich um einen Schundroman handelt? Es beginnt eine Schnitzeljagd, auf der - Hinweis um Hinweis - das Schicksal von Carax rekonstruiert wird, der aus zunächst unerfindlichen Gründen von Barcelona fort nach Paris ging und dort als Dachstubenpoet in einem Pariser Bordell hauste, wo er sich als Pianospieler über Wasser hielt. Das Buch operiert mit einer simplen Rätseltechnik: Man liest zwei Drittel mit allerlei offenen Fragen und losen Enden, begegnet einer Vielzahl von Figuren aus der Vergangenheit des Dichters, um dann im letzten Drittel auf dem Serviertablett die nicht mehr allzu überraschen Auflösung zu erhalten - die vollständige Lebensgeschichte des ominösen Autors Julian Carax, die natürlich mit einer tragischen Liebesgeschichte verknüpft ist. Nach Jahren im Pariser Exil muss Carax erfahren, dass seine ewige Geliebte, auf die er stets sehnsüchtig gewartet hat, nicht nur tot ist, sondern auch ihr gemeinsames Kind, das bei der Geburt gestorben war und kurz darauf auch sie, weil der Vater, der gegen diese Verbindung war, sie verbluten liess. (Was Julián nie erfährt, nur die Leser: Er ist ein uneheliches Kind, aus einem Seitensprung des Vaters, und seine Geliebte eigentlich seine Stiefschwester.) Nach der schockartigen Erkenntnis vom Doppeltod von Frau und Kind will er nur noch seine Existenz auslöschen - und dazu gehören auch seine Bücher als Kinder des Geistes. Er brennt das Lager seines Verlags nieder, erleidet dabei Verbrennungen, die ihn für immer entstellen und verwandelt sich dabei in die Figur aus seinem Roman Der Schatten des Windes: in den diabolischen Laín Coubert. In dieser Gestalt vernichtet er weiterhin seine Bücher, stöbert sie auch in Privathaushalten und in Buchhandlungen auf und entwendet sie. Das letzte Exemplar bleibt jedoch im Besitz des jungen Daniel. Denn Carax erkennt in ihm sich selber wieder und will, dass Daniel jenes Leben mit einer glücklichen Liebe führen kann, das ihm versagt geblieben ist. Das Buch wartet also mit reichlich Pathos und einem sentimentalistischen Ende auf, das arg auf die Tränendüse drückt. Für reichlich Humor sorgt hingegen die skurrile Figur Fermín, ein Art Ritter von der hageren Gestalt, der Daniel bei seiner Spurensuche unterstützt und ihm zudem mit Liebesratschlägen zur Seite steht. Auch er besitzt eine düstere Vergangenheit als Geheimdienstmitarbeiter, der von den Franco-Schergen während des Spanischen Bürgerkriegs grausam gefoltert wurde. In Gestalt des korrupten Polizeiinspektors Fumero, der nicht nur Fermín, sondern auch Carax jagt und etliche Personen auf dem Gewissen hat, dringt diese Vergangenheit zuweilen mit äusserster Brutalität in das Geschehen der Gegenwart. Die Suche nach Carax bringt auch die Schrecken der Franco-Diktatur zum Vorschein. Dem Roman ist somit neben der Familientragödie und dem Liebesskanal auch eine politische Dimension eingeschrieben, die im Grunde aber etwas aufgesetzt wirkt, da der Roman auch ohne sie verlustfrei als Mystery-Thriller funktionieren würde.

Sonntag, 16. April 2017

Martin Kessel: Die Schwester des Don Quijote (1938)

Vom kulinarischen Verhalten entspricht das Lesefrüchtchen denjenigen, die sich vom Gemüse allmählich zum Filet hinfressen. Diese Eigenart bringt leider mit sich, dass die wirklich schmackhaften Stücke oft zugunsten leichter Kost liegen bleiben. Eben kürzlich hat das Lesefrüchtchen einen Stapel entdeckt, auf dem sich längst vergessene Leckerbissen sedimentiert haben: Samuel Beckett, Albert Drach, H.P. Lovercraft, Harry Mathews oder auch Thomas Kapieleskis Volumenroman Je dickens, destojewski. Statt sich aber endlich ans Eingemachte zu wagen, futtert sich das Lesefrüchtchen weiterhin durch Gelegenheitslektüren. So auch geschehen im jüngsten Fall: Obwohl der Großroman Herrn Brechers Fiasko von Martin Kessel im Visier war, wich es auf die viel schmalere Erzählung Die Schwester des Don Quijote aus. Aber immerhin: eine weitere Don Quijotiade.

Im Unterschied zur offenbar weitaus opulenteren Romanprosa Kessels handelt es sich bei der Geschichte um eine Künstlernovelle von fast klassischem Zuschnitt und formvollendeter Erzählkunst. Literarische Vorbilder sind unverkennbar Fontane und Thomas Mann, über den Kessel auch promoviert hatte. Wie Lothar Müller in seinem glänzenden Nachwort betont, fällt die Novelle merkwürdig aus der Zeit. Obwohl im modernen, motorisierten und elektrifizierten, Berlin spielend, verhandelt die Geschichte unter Ausschluss jeglicher zeithistorischer Bezüge den romantischen Konflikt des Künstlers zwischen Lebenswirklichkeit und Werkideal. Reminiszenzen an den Maler Frenhofer bei Balzac oder E.T.A Hoffmanns Johannes Kreisler werden wach, die auf existentielle Weise mit ihrem Kunstwerk verstrickt sind.

Im Zentrum der Erzählung steht denn auch ein Gemälde, dessen Sujet, wie es gleich zu Beginn heisst, „über den Rahmen hinausweist“ auf das dahinter liegende Schicksal. Das Bild trägt den Titel Die Schwester des Don Quijote und zeigt einen Frauenakt vor dem Spiegel, aus dem zwei markante Augen entgegenblicken. Sie gehören der neurasthenischen Salonschönheit Saskia Sorell, die für den Maler Schratt zum Inbegriff dessen wird, was er „die Dame“ nennt: eine im mondänen Verblendungszusammenhang lebende Gesellschaftsdame, die zum „Vexierbild ihrer Spiegelnatur“ wird. Kurz: Ein weiblicher Don Quijote der High Society. Die Antipode zur diesem Frauentypus ist die Haushälterin Agnes Veitzuch, ein neugieriges, linkisches Weibsbild, bei dem der Maler zur Untermiete wohnt. Zu beiden Frauen gerät der Maler in eine verhängnisvolle Abhängigkeit, die sich auch auf dem Gemälde manifestiert. Das Konterfrei der Veitzuch schleicht sich schemenhaft in den Hintergrund des Spiegelporträts und verdoppelt so die Spiegelung nochmals. Auch das natürlich ein zutiefst romantisches Motiv.

Lange Zeit scheint der Maler an diesem Gemälde zu scheitern. Zum einen hindert ihn die leidenschaftliche Zuneigung zu seinem koketten Modell an der Vollendung, zum anderen die vormundschaftliche Art der Haushälterin, die heimlich bereits Besitzansprüche an dem Bild anmeldet, in der Hoffnung, dass der baldige Erfolg des Künstlers sie für ihre Umtriebe entschädigen könne. So ist Schratt zwischen Begehren auf der einen und häuslicher Observation auf der anderen Seite gefangen. In einem dramatischen Akt entlädt sich sein Konflikt auf dem Gemälde, das ihm nicht gelingen will: Er zieht einen roten Querstrich mitten durch das gemalte Gesicht der Haushälterin im Hintergrund, die sich von der Exekution in effigie auch persönlich getroffen fühlt. Schliesslich triumphiert die Kunst aber über das Leben. Während die porträtierte Sorell in einer Nervenheilanstallt in Italien landet, verfällt die Veitzuch dem letalen Wahnsinn und haucht ihren letzten Odem in den Armen des konsternierten Künstlers aus.

Die Krise kündigte sich schon lange vorher an durch den Gestank von verbrannter Milch, der wie ein „milchig brenzliche[r] Trauer- und Begräbinisgeruch“ das ganze Haus durchströmte und „unvertreibbar“ schien. Von diesem unheilvollen Vorzeichen drängt das Geschehen immer stärker zum finalen Ereignis in der Silvesternacht, das für den Künstler zum Sieg der Kunst, für die beiden Porträtieren allerdings zum Verhängnis wird. Auf diese dramatische Weise ist seit den Konjunkturen der Romantik nicht mehr um die Kunst gerungen und gelitten worden. Wohl unfreiwillig bekommt die Erzählung dadurch einen fast parodistischen Zug. Mit dem Maler Theo Schratt aufersteht nochmals eine romantische Künstlerfigur, die sich im Kontext der Moderne und ihren zahlreichen Ismen (in der Erzählung durch die Kunstrichtung des „Trilogismus“ kurz anzitiert) bloß mit erheblichen Kollateralschäden behaupten kann. Selbst die geplante Italienfahrt, der klassische Topos der künstlerischen Bildungsreise, endet mit einer typischen Erfahrung der Moderne: mit einem Autounfall.

In dieser seiner ersten Autofahrt erlebt Schratt gewissermaßen auch die Ästhetik der Moderne, wie sie Tommaso Marinetti paradigmatisch im Manifest des Futurismus beschreibt – und zwar nicht zufällig auch am Beispiel einer rasanten Autofahrt. Der Rausch der Geschwindigkeit, wie sie die moderne Technik ermöglicht, soll auch in der Kunst zu neuen Wahrnehmungs- und Darstellungsformen führen. Mehr noch inszeniert Marinetti den Autounfall zu einem natalen Akt, aus dem der neue Mensch und seine radikal neue Ästhetik hervorgeht. Während der Fahrt lernt Schratt zwar auch den Rausch der Geschwindigkeit kennen, der ihn sogar in eine Art „Wachtraum“ versetzt. Er zieht daraus aber ebenso wenig ästhetische Konsequenzen wie aus der darauffolgenden Carambolage. Vielmehr wertet er ihn als geradezu schicksalhaftes Zeichen, das ihn wieder in die Fänge der Haushälterin zurückwirft.

Wohl auch deshalb, weil der Unfall just in dem Moment erfolgt, als ihm die Bedeutung des Hintergrundes generell, insbesondere aber die Hintergründigkeit seines Gemäldes klar wird. So setzt eben der romantische Künstler nicht sein eigenes Leben aufs Spiel, sondern ergötzt sich an der abstrakten Schönheit des Todes. Dieses romantische Ideal der schönen Leiche ist jedenfalls die Erkenntnis, die Schratt am Ende ereilt: „Leichnam und Schönheit“. Darin erblickt er die „Größe der Kunst“: „Denn nur, wer die Schönheit von Grund auf errichtet, aus Finsternis, Wollust und Sterngeäder der Nacht, nur der ist ihr Schöpfer.“ Besser hätte es auch Detlev Spinell, der große Verehrer der Todesschönheit, nicht formulieren können.

Mittwoch, 5. April 2017

Georges Manolescu: Gescheitert (1905)

Diese Memoiren des rumänischen Gentleman-Verbrechers und Hochstaplers Georges Manolescu haben Thomas Mann zu seinem Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull inspiriert. Manolescu schildert mit Lakonie und entwaffnendem Ehrgefühl seine Karriere als Betrüger. Wie bei allen Hochstaplern so sind auch Manolescus Betrügereien bloß Mittel zum Zweck. Sein designiertes Ziel ist der soziale Aufstieg in die bessere Gesellschaft. Umsetzen will er diesen „Wunsch nach Luxus und Glanz“ durch eine reiche Heirat, wozu er sich aber erst ein Startkapital erwirtschaften muss. Bevor er als Heiratsschwindler in Erscheinung treten kann, betätigt er sich zunächst als Juweliers- und Hoteldieb quer durch Europa, um „endlich die spröde Fortuna in [s]eine Arme zu schließen“. Auch im Casino versucht er sein Glück mehrmals, verliert dort aber sein Geld schneller, als er es sich durch weitere krumme Touren wieder beschaffen kann.

Ohnehin ist der Betrüger öfters auch der Betrogene. Er wird von Frauen hintergangen und landet für kurze Zeit mehrfach im Gefängnis. Zuletzt wird er von der Polizei bei einer Großfahndung geschnappt und zu einem langjährigen Strafaufenthalt verdonnert. Er versucht durch simulierten Wahnsinn dem Kerker zu entgehen, gerät dabei aber vom Regen in die Traufe, nämlich in die geschlossene Berliner Irrenanstalt Herzberge, aus der es angeblich kein Entrinnen gibt. Manolescu – der seit seiner „zartesten Jugend“ das Wort „unmöglich“ aus seinem „Wörterbuch“ gestrichen hat – gelingt jedoch die Flucht aus der Anstalt, begeht seinen letzten Coup in Dresden, um sich mit der Beute über die Landesgrenze in Freiheit zu setzen. Über diverse Umwege trifft er schließlich in New York ein, wo er sich mit ehrlicher Arbeit eine neue Existenz aufbaut.

Manolescu erzählt keine Erfolgsgeschichte, sondern den sukzessiven Niedergang seiner Hochstapelei – trotz erheblichem Geschick in List und Trug. Das erklärt den Titel „Gescheitert“ und macht Manolescu als Antihelden sympathisch. Er agiert nicht aus Schadenfreude oder Niedertracht betrügerisch, sondern weil sich in der modernen Gesellschaft genug blauäugige Bauernopfer finden. Sein Motto lautet: „Mundus vult decipi, oder deutsch: Die Dummen werden nicht alle.“ Die Welt will betrogen sein – so lautete bereits die Maxime im barocken Schelmenroman Die drei ärgsten Erznarren (1672) von Christian Weise. Tatsächlich besitzt der Hochstapler mit der Frivolität, wie er sich über soziale Konventionen hinwegsetzt, gewisse Charakterzüge des Pikaro. Er ist schlau, gewandt und weiß sich zu seinem Vorteil in der Welt zu behaupten. Insofern ist er auch eine sozialkritische Figur, weil er durch seine trügerische Mimikry den falschen Schein der Gesellschaft entlarvt.

Der eigentliche Witz dieser Memoiren besteht aber darin, dass sie nur bedingt der Wahrheit entsprechen. Vielmehr setzt Manolescu seine Hochstapelei auch als Autor fort. Ja mehr noch: Er bescheinigt sich eine Genialität als Langfinger und sozialer Blender, die er in Tat und Wahrheit gar nicht besaß. Wie der Kriminalpsychologe Erich Wulffen nachgeprüft hat, war Manolescu ein höchst mittelmäßiger Scharlatan, der kein besonderes Renommee besaß. Den Ruf des genialen Meisterdiebs erschrieb er sich also förmlich bzw. erschwindelte sie mit den Mitteln der Literatur. Erst durch die in Deutschland äußerst erfolgreiche Buchpublikation wurde er zu dem „Jahrhunderthochstapler“, als der er heute noch bekannt ist. Dabei hatte sein Verleger, der den auf Französisch diktierten Text rasch und relativ frei auf Deutsch übersetzen ließ, ein hohes kommerzielles Interesse an den Memoiren, die gut dem damaligen Publikumsinteresse nach dem Typus des Edelverbrechers (wie Raffles in England oder Arsène Lupin in Frankreich) entsprachen. Der Verkaufserfolg gab ihm recht und verschaffte Manolescu, so paradox es klingen mag, eine bloß angetäuschte Karriere als Hochstapler.

Samstag, 4. März 2017

Thomas Mann: Tristan (1903)

Diese Erzählung gehört mit zu den bekanntesten von Thomas Mann; eine ausführliche Inhaltsangabe erübrigt sich deshalb. Das Lesefrüchtchen möchte nur auf eine grossartige Szene inmitten der zentralen Passage hinweisen, die der Erzählung ihren Titel verleiht: als der Dichter Detlev Spinell und die anämische Klöterjahn am Klavier des Sanatoriums Einfried gemeinsam das „Sehnsuchtsmotiv“ aus Richard Wagners Tristan und Isolde anstimmen. Die gegenseitige Zuneigung, die sie sich nicht offen eingestehen können, findet ihren Ausdruck sublimiert im Medium der Musik, und zwar auf solch leidenschaftliche Weise, als würde ein ganzes Orchester mit ihnen erklingen.

Mitten im erhabensten Moment jedoch, geschieht etwas gänzlich Unerwartetes. Es öffnet sich die Tür und die marode Pastorin Höhlenrauch schlurft durch den dunklen Raum. Leise und unheimlich, ein Schreckgespenst, eine Todesbotin und Schicksalsgöttin. Denn in der Kranken, „die neunzehn Kinder zur Welt gebracht hatte und keines Gedankens mehr fähig war“, erkennt die Klöterjahn ihr eigenes trauriges Los. Auch sie hat eine postnatale Auszehrung ins Sanatorium gebracht, während ihr neugeborener Sohn, ganz zur Freude des Vaters, vor Vitalität nur so strotzt.

Der exzentrische Spinell insinuiert seiner Angebeteten zudem, dass letztlich auch die Ehe mit dem unsensiblen Unternehmer Klöterjahn an ihrem bedauernswerten Zustand schuld sei, der ihr Talent und ihre musische Ader vollkommen erstickt habe. Spinell geht letztlich so weit, dass er Klöterjahn in einem Brief offen vorwirft, seine Frau, die erhabene "Todesschönheit", zu Unrecht für profane eheliche Pflichten missbraucht zu haben. Darauf folgt der lustigste Teil der Erzählung: Wie Klöterjahn, fassungslos vor Wut, den Dichterling verbal zusammenstaucht, der es feigerweise wagte, ihn auf diese niederträchtige Art zu beleidigen.

Bester Spruch: "ich habe das Herz auf dem rechten Fleck, während sie das Ihre wohl meistens in den Hosen haben". Köstlich!