Vor hundert Jahren erschien Mrs Dalloway, in der von Virginia Woolf und ihrem Mann Leonard wenige Jahre zuvor gegründeten Hogarth Press. Es ist ein Gesellschaftsroman im doppelten Sinn. Zum einen schildert der Roman verschiedene Charaktere aus der Londoner Upperclass an exakt einem Tag Mitte Juni 1923, zum anderen die Vorbereitungen zu einer Abendgesellschaft, die Clarissa Dalloway noch Ende des selben Tags (und somit auch des Romans) gibt. In ihrer Vernunftehe mit Richard Dalloway flüchtete sich Clarissa in die Rolle der "perfekten Gastgeberin". Der Titel des Romans, der nicht etwa den Eigennamen der Protagonistin, sondern ihren angeheirateten Ehenamen trägt, verweist damit bereits symbolisch auf ein Grundmotiv: auf die Dominanz der gesellschaftlichen Repräsentativität, die nicht immer mit dem inneren Gefühlsleben in Einklang zu bringen ist. Schon früh im Verlauf des Romans wird sich die Titelheldin bewusst, wie sie in ihrer sozialen Rolle gefangen bleibt: "nur dieses Mrs. Dalloway-Sein; nicht einmal mehr Clarissa; nur dieses Mrs. Richard Dalloway-Sein".
Von Mrs. Dalloway erfahren wir, dass es sich um eine 52jährige Frau mit einer vogelartigen Physiognomie handelt, die unlängst von einer Herz-Krankheit genesen ist und sich in einer ambivalenten Gefühlslage wiederfindet. Zum einen begrüsst sie zu Beginn emphatisch das "Leben", das auch allgemeingesellschaftlich nach Kriegsende wieder aufblühte: "Der Krieg war vorbei". Andererseits wird sie den Eindruck nicht los, ein falsches Dasein zu fristen. Gleich zu Beginn des Romans, auf dem Weg zur Blumenhändlerin, denkt sie sich: "Ach, wenn sie nur ihr Leben nochmals leben könnte!" Ihre Gedanken schweifen schon früh am Tag, als sie das Haus verlässt, in die Vergangenheit, in ihre Jugendtage auf dem Landgut in Bourton, als sie mit ihrer Freundin Sally die Möglichkeit lesbischer Liebe erkundete und den geistreichen, aber erfolglosen Peter Walsh für eine bürgerliche Ehe mit dem grundsoliden Langweiler Richard Dalloway sitzen liess. Die unromantische Tragik dieses Entscheids gelangt in einer Szene zum Ausdruck, als dieser seiner Gattin mit einem Strauss Blumen seine Liebe gestehen will, aber den entscheidenden Satz auch nach mehreren Anläufen partout nicht über die Lippen bringt.
In dieser Diskrepanz zwischen Innenleben und Aussenwahrnehmung verfolgt der Roman verschiedene Charaktere entlang ihrer Tagesgeschäfte durch London und lässt sukzessive die Zusammenhänge zwischen ihnen erkennen, bis alle Fäden im grossen Finale der Abendgesellschaft zusammenlaufen. Insbesondere das Schicksal des traumatisierten Kriegsveteranen Septimus Smith verknüpft sich am Ende überraschend drastisch mit demjenigen der Titelheldin. Während zunächst ohne grösseren Zusammenhang die Wahnvorstellungen von Smith geschildert werden wie auch die Therapieversuche der Ärzte, denen er sich schliesslich aber durch einen Sprung aus dem Fenster zu entziehen weiss, wirft die Nachricht dieses Suizids während der Party Clarissa Dalloway auf ihre eigene Situation zurück: "Irgendwie war es ihr eigenes Unheil - ihre eigene Schmach". Sie entfernt sich einen Moment von der Gesellschaft, erkennt die Ähnlichkeit mit dem Selbstmörder, rettet sich aber schliesslich in den Gedanken, dass er sich stellvertretend quasi als kollektives Opfer umgebracht habe: "Sie war froh, dass er es getan hatte; es weggeworfen hatte, während sie alle das Leben weiterlebten."
Der Roman spielt - wie James Joyces Ulysses, mit dem er viel verglichen worden ist - an exakt einem Tag, ansatzweise in einer Gedankenstromtechnik, die aber nicht so radikal durchgeführt ist wie bei Joyce (oder auch bei Arthur Schnitzler in Leutnant Gustl), da sich eine auktoriale Stimme nach wie vor bemerkbar macht, nicht selten mit salopp dahingeworfenen, zynischen Bemerkungen. Wie aber die verschiedenen Stimmen ineinanderfliessen, die Perspektiven gewechselt, äussere Begebenheiten durch innere Denkvorgänge reflektiert werden, führt zu einer komplexen Erzählprosa, hypotaktisch und von Parenthesen durchschossen, so dass zuweilen innerhalb eines einzigartigen Satzes verschiedene Sichtweisen nahezu kubistisch zusammenfinden. Es entsteht dadurch eine unglaublich reiche, dicht verwobenen Prosa von zuweilen ungeheurer Intensität, in der sich die gesamte Befindlichkeit der Nachkriegszeit reflektiert, die hinter dem scheinbaren Wohlstand und Frieden ihre Abgründe verbirgt. Strukturiert wird der wechselnde Gedankenstrom lediglich durch die Glockenschläge von Big Ben, die wie ein mahnendes Memento Mori den Lauf des Geschehens durchziehen.