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Mittwoch, 26. Februar 2025

Virigina Woolf: Mrs Dalloway (1925)

Vor hundert Jahren erschien Mrs Dalloway, in der von Virginia Woolf und ihrem Mann Leonard wenige Jahre zuvor gegründeten Hogarth Press. Es ist ein Gesellschaftsroman im doppelten Sinn. Zum einen schildert der Roman verschiedene Charaktere aus der Londoner Upperclass an exakt einem Tag Mitte Juni 1923, zum anderen die Vorbereitungen zu einer Abendgesellschaft, die Clarissa Dalloway noch Ende des selben Tags (und somit auch des Romans) gibt. In ihrer Vernunftehe mit Richard Dalloway flüchtete sich Clarissa in die Rolle der "perfekten Gastgeberin". Der Titel des Romans, der nicht etwa den Eigennamen der Protagonistin, sondern ihren angeheirateten Ehenamen trägt, verweist damit bereits symbolisch auf ein Grundmotiv: auf die Dominanz der gesellschaftlichen Repräsentativität, die nicht immer mit dem inneren Gefühlsleben in Einklang zu bringen ist. Schon früh im Verlauf des Romans wird sich die Titelheldin bewusst, wie sie in ihrer sozialen Rolle gefangen bleibt: "nur dieses Mrs. Dalloway-Sein; nicht einmal mehr Clarissa; nur dieses Mrs. Richard Dalloway-Sein".

Von Mrs. Dalloway erfahren wir, dass es sich um eine 52jährige Frau mit einer vogelartigen Physiognomie handelt, die unlängst von einer Herz-Krankheit genesen ist und sich in einer ambivalenten Gefühlslage wiederfindet. Zum einen begrüsst sie zu Beginn emphatisch das "Leben", das auch allgemeingesellschaftlich nach Kriegsende wieder aufblühte: "Der Krieg war vorbei". Andererseits wird sie den Eindruck nicht los, ein falsches Dasein zu fristen. Gleich zu Beginn des Romans, auf dem Weg zur Blumenhändlerin, denkt sie sich: "Ach, wenn sie nur ihr Leben nochmals leben könnte!" Ihre Gedanken schweifen schon früh am Tag, als sie das Haus verlässt, in die Vergangenheit, in ihre Jugendtage auf dem Landgut in Bourton, als sie mit ihrer Freundin Sally die Möglichkeit lesbischer Liebe erkundete und den geistreichen, aber erfolglosen Peter Walsh für eine bürgerliche Ehe mit dem grundsoliden Langweiler Richard Dalloway sitzen liess. Die unromantische Tragik dieses Entscheids gelangt in einer Szene zum Ausdruck, als dieser seiner Gattin mit einem Strauss Blumen seine Liebe gestehen will, aber den entscheidenden Satz auch nach mehreren Anläufen partout nicht über die Lippen bringt.

In dieser Diskrepanz zwischen Innenleben und Aussenwahrnehmung verfolgt der Roman verschiedene Charaktere entlang ihrer Tagesgeschäfte durch London und lässt sukzessive die Zusammenhänge zwischen ihnen erkennen, bis alle Fäden im grossen Finale der Abendgesellschaft zusammenlaufen. Insbesondere das Schicksal des traumatisierten Kriegsveteranen Septimus Smith verknüpft sich am Ende überraschend drastisch mit demjenigen der Titelheldin. Während zunächst ohne grösseren Zusammenhang die Wahnvorstellungen von Smith geschildert werden wie auch die Therapieversuche der Ärzte, denen er sich schliesslich aber durch einen Sprung aus dem Fenster zu entziehen weiss, wirft die Nachricht dieses Suizids während der Party Clarissa Dalloway auf ihre eigene Situation zurück: "Irgendwie war es ihr eigenes Unheil - ihre eigene Schmach". Sie entfernt sich einen Moment von der Gesellschaft, erkennt die Ähnlichkeit mit dem Selbstmörder, rettet sich aber schliesslich in den Gedanken, dass er sich stellvertretend quasi als kollektives Opfer umgebracht habe: "Sie war froh, dass er es getan hatte; es weggeworfen hatte, während sie alle das Leben weiterlebten."

Der Roman spielt - wie James Joyces Ulysses, mit dem er viel verglichen worden ist - an exakt einem Tag, ansatzweise in einer Gedankenstromtechnik, die aber nicht so radikal durchgeführt ist wie bei Joyce (oder auch bei Arthur Schnitzler in Leutnant Gustl), da sich eine auktoriale Stimme nach wie vor bemerkbar macht, nicht selten mit salopp dahingeworfenen, zynischen Bemerkungen. Wie aber die verschiedenen Stimmen ineinanderfliessen, die Perspektiven gewechselt, äussere Begebenheiten durch innere Denkvorgänge reflektiert werden, führt zu einer komplexen Erzählprosa, hypotaktisch und von Parenthesen durchschossen, so dass zuweilen innerhalb eines einzigartigen Satzes verschiedene Sichtweisen nahezu kubistisch zusammenfinden. Es entsteht dadurch eine unglaublich reiche, dicht verwobenen Prosa von zuweilen ungeheurer Intensität, in der sich die gesamte Befindlichkeit der Nachkriegszeit reflektiert, die hinter dem scheinbaren Wohlstand und Frieden ihre Abgründe verbirgt. Strukturiert wird der wechselnde Gedankenstrom lediglich durch die Glockenschläge von Big Ben, die wie ein mahnendes Memento Mori den Lauf des Geschehens durchziehen.

Montag, 27. Januar 2025

Jeanette Winterson: Frankissstein (2019)

Ein Roman für die Gegenwart, der aktuelle Fragen rund um KI, VR, Transhumanismus, Genderfluidität miteinander verquirlt und an die Franksteingeschichte zurückbindet, der Schauergeschichte um die Erschaffung eines künstlichen Menschen. Eine Idee, die die Autorin bereits in ihrem Roman Das Power-Book von 1998 anwandte, wo sie Ovids Metamorphosen und Virigina Woolfs Orlando mit dem Cyberspace in Verbindung bringt. Orlando wird auch in Frankissstein kurz als "erster Trans-Roman" erwähnt. Und auch dort wechseln sich zwei zeitliche Ebenen, eine historische und eine gegenwärtig-erfundene, alternierend ab und überblenden sich punktuell: Die historische Ebene rund um Mary Shelley, wie die Achtzehnjährige 1816 in Gesellschaft ihres Gemahls Percy Shelley, Lord Byron und dem Arzt John Polidori an einem verregneten Tag oberhalb des Genfer Sees die Geschichte von Frankenstein erfindet, die zwei Jahre später für Aufsehen sorgen wird. Der andere Erzählstrang spielt in einer leicht zukünftigen Gegenwart: Auch hier steht eine Mary Shelley im Zentrum, die sich aber Ry nennt, weil sie sich zum Mann umwandeln liess. Das heisst: Sie nimmt Hormone, verzichtete aber auf einen operativen Eingriff, so dass sie halb Frau, halb Mann ein Zwitterwesen darstellt.

Ry Shelley ist Arzt und versorgt einen gewissen Victor Stein regelmässig mit frischen Leichen für seine Experimente bei Alcor - einer real existierenden Organisation für sogenannte Kryokonservierung. In einem geheimen Labor in Tunnels unterhalb von Manchester konstruiert er intelligente Prothesen und versucht das Gehirn von Jack Good wieder zu reaktivieren, einem genialen Mitarbeiter Alan Turings, der in Bletchley Park während dem Zweiten Weltkrieg an der Dechiffrierung der Enigma beteiligt war (und später Stanley Kubrick für seinen Film Space Odyssey beraten hat.) Victor Stein tritt somit als postmoderner Wiedergänger Frankensteins auf, der mit seinem Monster ebenfalls künstliches (und damit ewiges) Leben schaffen wollte. Zwischen Stein und Ry Shelly entspannt sich eine "Liebesgeschichte" - so auch der Untertitel des Romans. Die Frage, wie Liebe im transhumanen Zeitalter beschaffen sein wird, wenn der Mensch nur noch mit Sexbots interagiert oder lediglich als Gehirn-Upload - als "iHead" - auf einer Cloud existiert, durchzieht den Text leitmotivisch, neben der ebenfalls leitenden Frage nach der Realität. Antworten auf diese Fragen finden sich jedoch keine, auch nicht in der Kontrastierung mit dem romantischen Zeitalter Shelleys, das in der Fiktion zumindest den künstlichen Menschen vorwegnahm.

Zumindest gelangt die Erzählung nicht über das Offensichtlichste hinaus, nämlich, dass der Mensch sich von der Maschine durch sein Seelen- und Gefühlsleben unterscheidet, auch wenn diese Erkenntnis in einem originellen Vergleich mitgeteilt wird: mit dem Herz einerseits als körperliches Organ, andererseits als emotive Metapher, wobei die Konnotation nicht gegensätzlicher sein könnte, wie eine träfe Bemerkung der beiden Mary Shelleys (in Gegenwart und Vergangenheit) belegt: "Jeder Metzger verkauft einem eines. [...] Das, was am Menschen am meisten geschätzt wird, ist das billigste Fleisch: das Herz." Während der Herzmuskel zum Wertlosen gerechnet wird, steht das Herz als Sprachmarke desto höher in Kurs, wie durch eine Wortspielerei demonstriert wird: "Niemand sagt, ich liebe dich von ganzer Niere. Ich liebe dich mit ganzer Leber. Niemand sagt, meine Gallenblase gehört nur dir. Niemand sagt, sie hat mir den Blinddarm gebrochen." Der Mensch lässt sich weder auf seine Körperlichkeit noch allein auf seinen Geist reduzieren: Seine Existenz entfaltet sich just in der Leib-Seele-Dualität, die durch die künstliche Trennung beider Sphären gerade nicht realisieren bzw. technisch simulieren lässt.

Irgendetwas stört das Lesefrüchtchen an diesem Buch, obschon es ein interessantes Thema aufgreift, fachkundig historisches und technisches Wissen mit Fiktion vermischt, mit witzigen bis kalauerhaften Dialogen aufwartet (siehe eben zitierte Kostprobe) und die Dinge immer wieder durch markante Sätze auf den Punkt bringt. Trotzdem wirkt alles allzu glatt und routiniert, als hätte eine Journalistin den Roman verfasst. Die Geschichte bleibt mehrheitlich an der Oberfläche haften und lässt es trotz vieler historischer Bezüge und Zitate an Tiefe vermissen, die gerade bei dieser philosophisch relevanten Thematik einen weniger plakativen Zugang gefordert hätte. Letztlich bleibt von der ohnehin dünnen Story, die sich hauptsächlich in Sachdiskursen und einer fatiganten Obsession für Sexbots erschöpft, auch nicht viel übrig, sie verpufft am Ende ganz einfach. Auch die Charaktere sind allzu platt und stereotyp geraten. Transgender hin oder her. So vielversprechend und aktuell die gewählten Motive sind, literarisch bleibt die Umsetzung weitgehend enttäuschend und gelangt nicht über ein Mittelmass hinaus.

Sonntag, 14. Oktober 2018

Oskar Panizza: Eine Mondgeschichte (1890)


Die Menschheit ist seit jeher vom Mond fasziniert, der immer auch Spekulationen über die Bewohner dieses Gestirns evozierte. Bereits Plutarch verfasste einen Traktat über das vermeintliche Mondgesicht, wie sich auch die Literatur der phantastischen Mondreisen bis auf die Antike zurückführen lässt. Eine der skurrilsten Mondgeschichten stammt jedoch aus der Feder von Oskar Panizza, dem späteren Skandalautor, der gegen Staat und Kirche polemisierte. In diesem Zusammenhang notorisch bekannt geworden ist vor allem sein Stück Das Liebeskonzil (1894), das ihm ein Jahr Gefängnis wegen Blasphemie einbrachte. Bei der Mondgeschichte, 1890 im Verlag von Georg Müller erschienen, handelt es sich um den längsten zu Lebzeiten erschienene Text Panizzas.

Geschildert wird in der Ich-Form der Augenzeugenbericht eines jungen Studenten in Leyden, der nächtens aus Liebeskummer aufs offene Feld flüchtet und dort beobachtet, wie erst der Mond sich ruckartig bewegt, scheinbar auf die Erde gezogen wird und dort von einem Mann vergraben wird. Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, folgt der Student dem Mann, klettert hinter ihm eine Strickleiter hinauf, die bis in den Himmel zu führen scheint. Die Luft wird immer dünner, bis er schließlich in einer runden Baracke ankommt, die weit über der Erde schwebt. Zwei Monate lang hält sich der Student dort versteckt und observiert das seltsame Treiben in dem Gehäuse, von dem er annimmt, dass es sich um den von der Erde her vertrauten Mond handeln muss.

Bewohnt ist die schwebende Holzkugel vom einem keifenden Ehepaar mit zwölf Kindern. Sie ernähren sich ausschließlich von Käse, weshalb ihre Gesichter selbst schon ganz rund und gelblich sind. Nach und nach stellt sich heraus, dass der Mondmann einmal im Monat, nachdem ihm die Sonne die äußere Pechhülle des Hauses versengt hat, auf die Erde hinuntersteigt und dabei die brennende Pechschicht mitnimmt, um sie auf einem Feld zu begraben. Gleichzeitig nutzt er den Aufenthalt auf der Erde, die er mit seiner Familie den „großen Käse“ nennt, um sich mit Proviant (ausschließlich holländischer Käse) und Gebrauchsgegenständen versorgt, die er nachts unbemerkt mitlaufen lässt.

Das alles klingt natürlich phantastisch genug, doch der Erzähler versucht mit allen Mitteln die Glaubwürdigkeit seiner Erlebnisse zu beteuern. Der Text ist deshalb mit zahlreichen Authentizitätssignalen – darunter auch ein frühes Beispiel (vor Joyce, Schnitzler und Virginia Woolf!) einer Gedankenstromtechnik – ausgestattet, was mitunter zu umständlichen Erklärungen und einer Detailversessenheit führen, die aber alle im Dienst stehen, das Erzählte als wahr erscheinen zu lassen. Zuletzt versteigt sich der Student in eine waghalsige Theorie, der Mond sei nichts anderes als ein Räubernest, wo sich seit den Assyrern ein Zigeunergeschlecht eingenistet habe, um nicht entdeckt zu werden. Was wir von der Erde als Mond wahrnehmen sei bloß der Korb eines ungeheuren Ballons, mit dem die Zigeuner von der Erde geflohen sind und der jetzt als Trabant um die Erde kreist.

Auch diese Theorie wird in aller Ausführlichkeit und mit allen möglichen Einwänden vorgebracht und erwogen. In dieser Mischung zwischen absoluter Phantastik und pseudo-wissenschaftlicher Genauigkeit der Darstellung liegt der Reiz des Textes, der durch eine geschickte Leserführung überdies nie an Spannung einbüßt. Ganz offensichtlich stand – der einmal sogar namentlich erwähnte – Edgar Allan Poe (bzw. dessen Erzählung über die Abenteuer von Hans Pfaall) Pate für diese phantastische Reise zum Mond.