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Montag, 15. Januar 2024

Frank Witzel: Kunst als Indiz (2022)

Ausnahmsweise sei hier einmal ein Sachbuch besprochen oder zumindest eine Art Sachbuch oder ein literarischer Essay, denn tatsächlich kreist Frank Witzel die Thematik durch zuweilen lange assoziative Denkschlaufen eher ein anstatt, dass er sie systematisch entfaltet, und macht es dadurch dem Lesefrüchtchen nicht immer einfach, der Argumentation auf jedem, öfters auch biographisch motivierten Seitenpfad zu folgen. Der Essay in dieser mäandrierenden Form und der starke Ich-Bezug besitzen mitunter auch den Charakter einer Psychoanalyse, tatsächlich suggeriert eine Anmerkungen (Nr. 76) hinten im Buch offenbar, dass es sich um eine Art Ersatztherapie handeln könnte.

Worum geht es? Zufällig entdeckt Frank Witzel beim Surfen auf youtube eine frühe Folge der Krimiserie Derrick (Folge 1, Staffel 11: Nur Aufregungen für Rohn), die er als Jugendlicher selber nie geschaut hat. Im Zimmer des Hauptverdächtigung hängt ein surrealistisches Poster, wie Witzel es als Jugendlicher hingegen sehr wohl auch besass (nämlich eines von Salvador Dalí). Im Film ist es eines des österreichischen Phantasten Rudolf Hausner (Forum der einwärtsgewendeten Optik, 1948). Es zeigt verschieden rätselhafte Gegenstände und verformte Figuren in einer perspektivisch verzerrten Trümmerlandschaft. Wie kommt dieses betont auffallend platzierte Gemälde in den Film und welche Funktion besitzt es dort? Derrick selbst schweigt sich darüber aus, weshalb Witzel ins Ermitteln gerät.

Witzels These ist in aller Kürze diese (und wird in dieser Kürze dem facettenreichen Essay wiederum nicht gerecht): Hausners Bild bringt die in den 1970er-Jahren verdrängte Kriegsschuld Deutschland traumhaft verfremdet wieder ins Bewusstsein: So wie das Bild in der Serie auffällt, weil es scheinbar nicht ins realistische Gefüge der filmischen Erzählung passt, so stellt es auch auf symbolischer Ebene eine die gesellschaftliche Ordnung gefährdende Unordnung dar, weil es Bilder heraufbeschwört, die nur allzu gerne verdrängt und unter dem Deckel gehalten werden. Allein das Bild (und weniger der tatsächlich auch vom Täter begangene) Mord machen ihn als solchen verdächtigt. Eine Besonderheit der Folge besteht tatsächlich darin, dass der Täter von Anbeginn und ohne Beweislast von Derrick in die Mangel genommen wird.

Witzel untermauert seine These unter anderem mit Rekurs auf einen kunstanalytischen Bestseller, dessen Titel bis in die 1970er Jahre als weit verbreitete Schlagwort kursierte: Verlust der Mitte (1948) von Hans Sedelmayr. Der Kunsthistoriker ist für Witzel nicht nur ein wichtiger Kronzeuge, weil er den Surrealismus als abnorme und 'entartete' Kunst ablehnte, sondern weil Sedelmayr einer der vielen ehemaligen NSDAP-Mitglieder ist, die nach 1945 ein Tuch des Schweigens über ihre SS-Vergangenheit legten. Witzel entdeckt nun aber in einer späten Studie Sedelmayrs eine Stelle, wo dessen Kriegserfahrung durchschimmert und diese zugleich auch mit dem Surrealismus in Verbindung gebracht wird. Beim Anblick eines zerstörten russischen Volksparks schreibt Sedelmayr: der Künstler, der dieses "surrealistische Bild" geschaffen habe, sei der "totale Krieg" gewesen.

Das ist die Schlüsselstelle, in der die zahlreichen Assoziationslinien, die Witzel in seinem Essay kreuz und quer zieht, zusammen laufen. Krieg gleich Unordnung gleich Surrealismus gleich Verdrängung gleich Traum(a). Dieses Trauma bricht in der - wie Witzel aufzeigt - Traumlogik der Derrick-Folge kurzfristig auf, nur um ihm am Ende die Absolution zu erteilen. Denn nicht zufällig war auch der Derrick-Drehbuchautor Herbert Reinecker ein alter NSDAP-Mann, der später nicht etwa Reue zeigt, sondern öffentlich kritisiert, dass die "Kriegsvorgänge im Zweiten Weltkrieg" nicht endlich als "normale geschichtliche Vorgänge halbwegs zur Ruhe kommen" können. Was Reinecker mit anderen Worten beklagt ist der Verlust einer Normalität - oder mit Sedelmayr gesprochen: der Mitte.

Diesen Normalitätszustand will die Derrick-Folge wieder herstellen und zwar in Form einer Katharsis, so die These Witzels, ausgelöst durch den Schock des surrealen Bildes von Rudolf Hausner, das kurzzeitig die Ordnung stört, weil es nicht in das biedere Derrick-Milieu passt und deshalb Witzels Aufmerksamkeit erregt hat. Es gibt den surrealistisch verfremdeten Blick auf verdrängte (und zu verdrängende) Abgründe frei. Interessanterweise ist das Gemälde in der Serie am Kopfende eines Bettes oder einer Couch befestigt und verweist damit auf das klassische Setting der Psychoanalyse. Gewissermassen und im übertragenen Sinn liegt mit der Derrick-Folge Deutschlands schlechtes Gewissen auf der Couch - und Witzel übernimmt die Rolle des Therapeuten.