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Mittwoch, 14. Juni 2017

Harry Mathews: Zigaretten (1987)

Der diesen Januar mit 86 Jahren verstorbene Harry Mathews war als einziger amerikanischer Schriftsteller Mitglied der Gruppe OULIPO, dem Ouvroir de la Litterature Potentielle, zu der auch Oskar Pastior, Italo Calvino und Georges Perec gehören. Mit Perec war Mathews eng befreundet, sein Roman The Sinking of the Odradek Stadium wurde von ihm auf Französisch übersetzt. Ein schwieriges, fast unmögliches Unterfangen, zumal die Hälfte dieses Briefromans in der Schreibweise einer Legasthenikerin verfasst ist. Mitunter wohl ein Grund, weshalb bis heute eine deutsche Übersetzung fehlt. Den Roman Zigaretten widmet Mathews „In Gedenken an Georges Perec“, was angesichts der Tatsache, dass Perec an Lungenkrebs gestorben ist, auf einen seltsam sarkastischen Humor zwischen den beiden schließen lässt.

Im Vergleich zu früheren Werken ist dieser Roman deutlich weniger experimentell ausgefallen, wenngleich er der Methode von OULIPO, die Kreativität durch formale Regeln und formale Restriktionen herauszufordern, prinzipiell verpflichtet ist. In diesem Fall spielt sich der Formalismus in der strengen Kapitelgliederung ab, die je ein Personenpaar behandelt. Das Inhaltsverzeichnis liest sich wie eine willkürliche Namensliste. Die erste Hälfte der insgesamt 15 Kaptiel wird dabei aus männlicher Sicht, die zweite Hälfte aus weiblicher Sicht geschildert, wobei jeweils die letzten drei Kapitel je zwei Männer resp. zwei Frauen im Zentrum stehen, es sich ansonsten aber um gemischte Paare handelt. Diese strenge Symmetrie (und auch darin liegt ein oulipischer Trick) wird indes durch ein Doppelkapitel aufgebrochen: das Kapitel über „Owen und Phoebe“ ist unterteilt in römisch I und II. Wohl nicht zufällig fällt in diesem aus der Reihe tanzenden Kapitel das einzige Mal im gesamten Buch der Titelbegriff „Zigaretten“ (und das auch gleich doppelt).

Obwohl der Roman, wie es scheint, auf dem Reißbrett entstanden ist und eine höchst ausgeklügelte Konstruktion aufweist, wirkt er in keiner Sekunde anstrengend oder formalistisch. Im Gegenteil liest er sich je länger je mehr als veritabler Pageturner. Das liegt an der äußerst raffinierten, nicht-linearen Informationsverteilung, die oft entscheidende Details erst nachträglich enthüllt und die Geschehnisse in jeder Episode wieder in neuem Licht erscheinen lässt. Wie sich bei fortlaufender Lektüre allmählich herausstellt, sind die zunächst lose aneinander gereihten Episoden eng miteinander verflochten. Eigentlich hat Mathews mit diesem Verfahren bereits die Technik der Short Cuts vorweggenommen, die Robert Altman mit seinem gleichnamigen Film aus dem Jahr 1993 salonfähig gemacht hat. Der Roman Zigaretten ist eine literarische Multi Charakter Form, deren separat erzählte Episoden verschiedentlich Berührungspunkte untereinander aufweisen. Im Unterschied zu Altmans Short Cuts, wo solche Überschneidungen nur sehr oberflächlich auftreten, sind die Schicksale der Protagonisten in Zigaretten viel stärker ineinander verstrickt.

Im Verlauf der Erzählung entpuppen sich diverse familiäre, amouröse, intrigante sowie geschäftliche Beziehungen unter den Protagonisten. Die Klammer bildet gewissermaßen die mysteriöse Elizabeth, die im ersten und dann wieder im letzten Kapitel auftritt, wo die anfänglich geschilderte Situation unter neuer Perspektive nochmals aufgenommen wird: Allan wird von seiner Frau Maud aufgrund seiner Affäre mit Elizabeth aus dem Haus geworfen, weshalb er aus Rache das Porträt von Elizabeth in jüngeren Jahren mitnimmt, das Maud vor wenigen Tagen zufällig vom Kunstkritiker Morris gekauft hat, der auf Anraten von Mauds Tochter Priscilla in den Kunsthandel eingestiegen ist, um seiner Schwester Irene, einer erfolgreichen Galeristin, eins auszuwischen. Das Porträt stammt vom Künstler Walter Tale, über dessen Werk (speziell über das Frauenbildnis) Priscilla wiederum promoviert und Morris einen viel beachteten Artikel verfasst hat.

Priscilla weist in ihrer Arbeit nach, dass Elizabeth dem Künstler die „animalische Anmut und transzendentale Sexualität“ der weiblichen Schönheit offenbart habe; Morris wiederum orakelt in seiner Besprechung vom „stürmischen Himmel der Vagina“. Die Aufmerksamkeit, die diesem Bild von verschiedene Figuren der Erzählung entgegen gebracht wird, deutet schon an, dass es den heimlichen Hauptdarsteller des Romans markiert. Es taucht in jedem Kapitel mehr oder weniger prominent einmal auf und wechselt im Verlauf der Erzählung mehrmals seinen Besitzer, so dass alle Protagonisten des Romans mindestens einmal mit ihm in Berührung kommen. Die Pointe besteht jedoch darin, dass es sich – wie der Leser erst später erfährt, als man schon meint, das Gemälde sei zerstört worden – gar nicht um das Original, sondern um eine Kopie handelt, die Phoebe zu Übungszwecken angefertigt hat, als sie angeleitet durch Walter Tale sich zur Künstlerin ausbilden wollte.

Phoebe ist also die Urheberin des duplizierten Gemäldes, das im gesamten Roman zirkuliert, weshalb ihr nicht von ungefähr auch das aus der Reihe fallende Doppelkapitel gewidmet ist, das die schwierige Beziehung zu ihrem Vater Owen schildert, der – ohne zu wissen, dass es sich um ein Bild seiner Tochter handelt – das Porträt vernichten wird. Dieser Akt der Zerstörung steht symbolisch für das tragische Schicksal seiner Tochter, die durch die Double-Bind-Beziehung zu ihrem Vater letztlich einen psycho-somatischen Zusammenbruch erleidet und in einer klinischen Depression versinkt. Während ihrer Psychose beginnt sie eine Stimme (sie nennt es: ihr inneres Megaphon) zu hören, die sie ihr kryptische Botschaften diktiert, und ihre Großmutter begleitet sie in Gestalt eines Vogels. Hier deutet sich eine strukturelle Ähnlichkeit zu Elizabeths Schicksal an, die am Ende des Romans ebenfalls todkrank im Spital liegt und dort träumt, dass sie ein Vogel sei. Es ließen sich bestimmt noch weitere Parallelen entdecken, die diese beiden 'Hauptfiguren' zueinander in Relation setzen.

Auf diese Weise gleicht die gesamte Erzählanlage einem grossen Puzzlespiel, bei dem sich sukzessive die Teile zu einem Gesamtbild fügen. Die anfänglich vollkommen isoliert erscheinenden Personen sind alle sehr eng miteinander in einem Gewebe von Lügen und Ent-Täuschungen miteinander verstrickt. Sie bilden eine Schicksalgemeinschaft, ohne es selbst immer zu wissen. Die Übersicht behält eigentlich nur das auktorial überlegene Erzählerich, das sich direkt nur ganz am Anfang und am Ende des Romans zu Wort meldet, ansonsten aber die personal perspektivierte Handlungsführung in Form von kurzen Klammerbemerkungen ergänzt. Woher das „Ich“ dieses Wissen bezieht, bleibt unklar. Rätselhaft bleiben auch der Titel des Romans und dessen Schluss, bei dem das erzählende Ich wieder aus dem Schatten der Narration hervortritt.

Ganz offensichtlich gehört der Erzähler zum Kreis der porträtierten Personen, über seine eigene Identität gibt es jedoch keine Silbe preis. Man erfährt lediglich, dass er eben von „den Beerdigungen“ zurückgekehrt sei. Wer da kollektiv bestattet wurde, darüber lässt sich nur spekulieren: Sind es etwa die Protagonisten des Romans, die an zum Schluss ihre Funktion für den Erzähler erfüllt haben? Die metaphysische Reflexionen, in die sich das erzählende Ich verliert, verleiten zu dieser Spekulation. Es räsoniert darüber, wie die Toten in einer ewigen Präsenz weiter existieren, indem sie von den Lebenden Besitz ergreifen. Das Leben speist sich, seiner Theorie zufolge, von der „Energie der Verstorbenen“, die sich bis auf die Anfangszeiten eines „ursprünglichen und heldenhaften Akteurs“ zurückführen lässt, dem „die Welt [...] gegeben war, damit er ohne Reue und Angst darin spielen konnte.“ Mit dieser Rückbindung an einen mythopoetischen Archetypen endet der Roman.

Dieser Schluss kommt ebenso unerwartet, wie er auch das sonst wohlkonstruierte Erzählgebilde merklich aufstört und letztlich hinter die subtil verwobene Geschichte ein großes Fragezeichen setzt. Man wird das Gefühl nicht richtig los, als treibe dieses aufgesetzte Ende ein falsches Spiel mit dem Leser. Dem Autor verschafft es offenbar eine diebische Freude, bei aller erzählerischen Kommensurabilität, überall hermeneutische Spuren und Fingerzeige für den Deutungswilligen zu legen. Irgendwie riecht alles danach, entschlüsselt zu werden. Das gilt auch für den Titel, der sich aus der Romanhandlung selbst aber kaum erschließt. Nur eine Episode nimmt ihn expressis verbis auf, als die derilierende Phoebe im Geräusch eines fahrenden Zuges die Wortfolge „Zigaretten, tsch tsch / Zigaretten, tsch tsch“ vernimmt. Es wird also alles darauf angelegt, die titelgebenden Zigaretten als rätselhafte Chiffre erscheinen zu lassen. Mögen sich Andere die Zähne (oder in Anspielung eines weiteren Romantitels von Mathews: die Zlähne) daran ausbeißen.

Angeblich hat Mathews in einem Interview auf die Frage, was der Titel denn bedeute, geantwortet, er solle dazu anregen, just über seine Bedeutung zu reflektieren. Auch sonst gab sich der Autor eher zurückhaltend und hat die Strukturgesetze und Regeln, denen er sich beim Schreiben unterzog, nie offengelegt. Vielleicht hat er aber eine davon im Roman selber versteckt. Als Elizabeth am Ende über eine Art Offenbarung erzählt, die ihr ein unbekümmertes Lebensgefühl vermittelt habe, wird sie kurz von Maud unterbrochen mit der Aufforderung: „Kein post hoc ergo propter hoc bitte schön!“ Gemeint ist damit eine unzulässige Schlussfolgerung, die ein späteres Ereignis (post) durch ein früheres verursacht (propter) sieht, also ein Kausalverhältnis herstellt, wo lediglich eine zeitliche Folge vorliegt. Solche Kausalknoten, die seit jeher das Grundprinzip des epischen Erzählens bilden, unterläuft Mathews mit seiner nonlinear und kaleidoskopisch gebrochenen Handlungsführung systematisch.