Der
diesen Januar mit 86 Jahren verstorbene Harry Mathews war als
einziger amerikanischer Schriftsteller Mitglied der Gruppe OULIPO,
dem Ouvroir de la Litterature Potentielle, zu der auch Oskar
Pastior, Italo Calvino und Georges Perec gehören. Mit Perec war
Mathews eng befreundet, sein Roman The Sinking of the Odradek
Stadium wurde von ihm auf Französisch übersetzt. Ein
schwieriges, fast unmögliches Unterfangen, zumal die Hälfte dieses
Briefromans in der Schreibweise einer Legasthenikerin verfasst ist.
Mitunter wohl ein Grund, weshalb bis heute eine deutsche Übersetzung
fehlt. Den Roman Zigaretten widmet Mathews „In Gedenken an
Georges Perec“, was angesichts der Tatsache, dass Perec an
Lungenkrebs gestorben ist, auf einen seltsam sarkastischen Humor
zwischen den beiden schließen lässt.
Im
Vergleich zu früheren Werken ist dieser Roman deutlich weniger
experimentell ausgefallen, wenngleich er der Methode von OULIPO, die
Kreativität durch formale Regeln und formale Restriktionen
herauszufordern, prinzipiell verpflichtet ist. In diesem Fall spielt
sich der Formalismus in der strengen Kapitelgliederung ab, die je
ein Personenpaar behandelt. Das Inhaltsverzeichnis liest sich wie
eine willkürliche Namensliste. Die erste Hälfte der insgesamt 15
Kaptiel wird dabei aus männlicher Sicht, die zweite Hälfte aus
weiblicher Sicht geschildert, wobei jeweils die letzten drei Kapitel
je zwei Männer resp. zwei Frauen im Zentrum stehen, es sich
ansonsten aber um gemischte Paare handelt. Diese strenge Symmetrie
(und auch darin liegt ein oulipischer Trick) wird indes durch ein
Doppelkapitel aufgebrochen: das Kapitel über „Owen und Phoebe“
ist unterteilt in römisch I und II. Wohl nicht zufällig fällt in
diesem aus der Reihe tanzenden Kapitel das einzige Mal im gesamten
Buch der Titelbegriff „Zigaretten“ (und das auch gleich doppelt).
Obwohl
der Roman, wie es scheint, auf dem Reißbrett entstanden ist und eine
höchst ausgeklügelte Konstruktion aufweist, wirkt er in keiner
Sekunde anstrengend oder formalistisch. Im Gegenteil liest er sich je
länger je mehr als veritabler Pageturner. Das liegt an der äußerst raffinierten, nicht-linearen Informationsverteilung, die oft
entscheidende Details erst nachträglich enthüllt und die
Geschehnisse in jeder Episode wieder in neuem Licht erscheinen lässt.
Wie sich bei fortlaufender Lektüre allmählich herausstellt, sind
die zunächst lose aneinander gereihten Episoden eng miteinander
verflochten. Eigentlich hat Mathews mit diesem Verfahren bereits die
Technik der Short Cuts vorweggenommen, die Robert Altman mit
seinem gleichnamigen Film aus dem Jahr 1993 salonfähig gemacht hat.
Der Roman Zigaretten ist eine literarische Multi Charakter Form,
deren separat erzählte Episoden verschiedentlich Berührungspunkte
untereinander aufweisen. Im Unterschied zu Altmans Short Cuts,
wo solche Überschneidungen nur sehr oberflächlich auftreten, sind
die Schicksale der Protagonisten in Zigaretten viel stärker
ineinander verstrickt.
Im
Verlauf der Erzählung entpuppen sich diverse familiäre, amouröse,
intrigante sowie geschäftliche Beziehungen unter den Protagonisten.
Die Klammer bildet gewissermaßen die mysteriöse Elizabeth, die im
ersten und dann wieder im letzten Kapitel auftritt, wo die anfänglich
geschilderte Situation unter neuer Perspektive nochmals aufgenommen
wird: Allan wird von seiner Frau Maud aufgrund seiner Affäre mit
Elizabeth aus dem Haus geworfen, weshalb er aus Rache das Porträt
von Elizabeth in jüngeren Jahren mitnimmt, das Maud vor wenigen
Tagen zufällig vom Kunstkritiker Morris gekauft hat, der auf Anraten
von Mauds Tochter Priscilla in den Kunsthandel eingestiegen ist, um
seiner Schwester Irene, einer erfolgreichen Galeristin, eins
auszuwischen. Das Porträt stammt vom Künstler Walter Tale, über
dessen Werk (speziell über das Frauenbildnis) Priscilla wiederum
promoviert und Morris einen viel beachteten Artikel verfasst hat.
Priscilla
weist in ihrer Arbeit nach, dass Elizabeth dem Künstler die
„animalische Anmut und transzendentale Sexualität“ der weiblichen
Schönheit offenbart habe; Morris wiederum orakelt in seiner
Besprechung vom „stürmischen Himmel der Vagina“. Die
Aufmerksamkeit, die diesem Bild von verschiedene Figuren der
Erzählung entgegen gebracht wird, deutet schon an, dass es den
heimlichen Hauptdarsteller des Romans markiert. Es taucht in jedem
Kapitel mehr oder weniger prominent einmal auf und wechselt im
Verlauf der Erzählung mehrmals seinen Besitzer, so dass alle
Protagonisten des Romans mindestens einmal mit ihm in Berührung
kommen. Die Pointe besteht jedoch darin, dass es sich – wie der
Leser erst später erfährt, als man schon meint, das Gemälde sei
zerstört worden – gar nicht um das Original, sondern um eine Kopie
handelt, die Phoebe zu Übungszwecken angefertigt hat, als sie
angeleitet durch Walter Tale sich zur Künstlerin ausbilden wollte.
Phoebe
ist also die Urheberin des duplizierten Gemäldes, das im gesamten
Roman zirkuliert, weshalb ihr nicht von ungefähr auch das aus der
Reihe fallende Doppelkapitel gewidmet ist, das die schwierige
Beziehung zu ihrem Vater Owen schildert, der – ohne zu wissen, dass
es sich um ein Bild seiner Tochter handelt – das Porträt
vernichten wird. Dieser Akt der Zerstörung steht symbolisch für das tragische Schicksal seiner Tochter, die durch die Double-Bind-Beziehung zu ihrem Vater letztlich einen psycho-somatischen Zusammenbruch erleidet und in
einer klinischen Depression versinkt. Während ihrer Psychose beginnt sie eine Stimme (sie nennt es: ihr inneres Megaphon) zu
hören, die sie ihr kryptische Botschaften diktiert, und ihre Großmutter begleitet sie in Gestalt eines Vogels. Hier deutet sich eine strukturelle Ähnlichkeit zu Elizabeths Schicksal an, die am Ende des
Romans ebenfalls todkrank im Spital liegt und dort träumt, dass sie
ein Vogel sei. Es ließen sich bestimmt noch weitere Parallelen
entdecken, die diese beiden 'Hauptfiguren' zueinander in Relation
setzen.
Auf
diese Weise gleicht die gesamte Erzählanlage einem grossen
Puzzlespiel, bei dem sich sukzessive die Teile zu einem Gesamtbild
fügen. Die anfänglich vollkommen isoliert erscheinenden Personen
sind alle sehr eng miteinander in einem Gewebe von Lügen und
Ent-Täuschungen miteinander verstrickt. Sie bilden eine
Schicksalgemeinschaft, ohne es selbst immer zu wissen. Die Übersicht
behält eigentlich nur das auktorial überlegene Erzählerich, das
sich direkt nur ganz am Anfang und am Ende des Romans zu Wort meldet,
ansonsten aber die personal perspektivierte Handlungsführung in Form
von kurzen Klammerbemerkungen ergänzt. Woher das „Ich“ dieses
Wissen bezieht, bleibt unklar. Rätselhaft bleiben auch der Titel des
Romans und dessen Schluss, bei dem das erzählende Ich wieder aus dem
Schatten der Narration hervortritt.
Ganz
offensichtlich gehört der Erzähler zum Kreis der porträtierten
Personen, über seine eigene Identität gibt es jedoch keine Silbe
preis. Man erfährt lediglich, dass er eben von „den Beerdigungen“
zurückgekehrt sei. Wer da kollektiv bestattet wurde, darüber lässt
sich nur spekulieren: Sind es etwa die Protagonisten des Romans, die
an zum Schluss ihre Funktion für den Erzähler erfüllt haben? Die
metaphysische Reflexionen, in die sich das erzählende Ich verliert, verleiten zu
dieser Spekulation. Es räsoniert darüber, wie die Toten in einer
ewigen Präsenz weiter existieren, indem sie von den Lebenden Besitz
ergreifen. Das Leben speist sich, seiner Theorie zufolge, von der
„Energie der Verstorbenen“, die sich bis auf die Anfangszeiten
eines „ursprünglichen und heldenhaften Akteurs“ zurückführen
lässt, dem „die Welt [...] gegeben war, damit er ohne Reue und
Angst darin spielen konnte.“ Mit dieser Rückbindung an einen
mythopoetischen Archetypen endet der Roman.
Dieser
Schluss kommt ebenso unerwartet, wie er auch das sonst
wohlkonstruierte Erzählgebilde merklich aufstört und letztlich
hinter die subtil verwobene Geschichte ein großes Fragezeichen setzt.
Man wird das Gefühl nicht richtig los, als treibe dieses aufgesetzte
Ende ein falsches Spiel mit dem Leser. Dem Autor verschafft es
offenbar eine diebische Freude, bei aller erzählerischen Kommensurabilität, überall hermeneutische Spuren und Fingerzeige für
den Deutungswilligen zu legen. Irgendwie riecht alles danach,
entschlüsselt zu werden. Das gilt auch für den Titel, der sich aus
der Romanhandlung selbst aber kaum erschließt. Nur eine Episode
nimmt ihn expressis verbis auf, als die derilierende Phoebe im
Geräusch eines fahrenden Zuges die Wortfolge „Zigaretten, tsch
tsch / Zigaretten, tsch tsch“ vernimmt. Es wird also alles darauf
angelegt, die titelgebenden Zigaretten als rätselhafte Chiffre
erscheinen zu lassen. Mögen sich Andere die Zähne (oder in
Anspielung eines weiteren Romantitels von Mathews: die Zlähne) daran ausbeißen.
Angeblich
hat Mathews in einem Interview auf die Frage, was der Titel denn
bedeute, geantwortet, er solle dazu anregen, just über seine
Bedeutung zu reflektieren. Auch sonst gab sich der Autor eher
zurückhaltend und hat die Strukturgesetze und Regeln, denen er sich
beim Schreiben unterzog, nie offengelegt. Vielleicht hat er aber eine
davon im Roman selber versteckt. Als Elizabeth am Ende über eine Art
Offenbarung erzählt, die ihr ein unbekümmertes Lebensgefühl
vermittelt habe, wird sie kurz von Maud unterbrochen mit der
Aufforderung: „Kein post hoc ergo propter hoc bitte schön!“
Gemeint ist damit eine unzulässige Schlussfolgerung, die ein
späteres Ereignis (post) durch ein früheres verursacht
(propter) sieht, also ein Kausalverhältnis herstellt, wo
lediglich eine zeitliche Folge vorliegt. Solche Kausalknoten, die seit jeher das Grundprinzip des epischen Erzählens bilden, unterläuft Mathews mit seiner nonlinear und kaleidoskopisch gebrochenen Handlungsführung systematisch.
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