Das
Livre de Monelle gehört neben den Vies imaginaires
(1896) zu den bekanntesten Werken des dem Symbolismus nahe stehenden
französischen Schriftstellers und Übersetzers Marcel Schwob. Die
Bibel kennt viele Bücher: Buch Mose, Buch Josua, Buch Esra, Buch
Esther, Buch Ruth etc. Schwob setzt mit dem Livre de Monelle
ein weiteres, apokryphes dazu. Es ist kein kohärentes Werk, sondern
wie die biblischen Bücher eine Ansammlung von Sentenzen,
Gleichnissen, Parabeln, allegorischen Geschichten, Träumen und
Visionen, oft dunkel und rätselhaft – der Auslegung bedürftig.
Im
Unterschied zu den biblischen Büchern wird im Buch Monelle jedoch
keine Heilsgeschichte verkündet. Was Monelle, die in einer Art
Prolog direkt zu ihrem Geliebten spricht, verkündet, ist ein dekadentes
Evangelium der reinen Präsenz, der Augenblicksversessenheit, die
keine dauerhaften Werte duldet. Erinnerung, Wahrheit und Arbeit sind
Tugenden, die sie kategorisch verwirft. Dafür propagiert sie eine
Kultur der Flüchtigkeit, des Vergessens und der Lüge. Schöpfung
geht nur einher mit Zerstörung, sie ist kein rein kreativer,
vielmehr ein destruktiver Zustand. So wird im Stil einer Predigt
oder Unterweisung zugleich auch eine typische Ästhetik des Fin de
siècle entworfen.
Wer
Monelle aber ist, das weiss man nicht. Mal erscheint sie als
Geliebte, dann als Prostiuierte, dann als Anführerin kleiner Kinder,
die nicht erwachsen werden wollen. Sie ist Kindfrau und Femme fatale, Priesterin und
Verführerin, Heilige und Hure zugleich. Peter Krumme vermutet in
seinem Nachwort, es handle sich um die personifizierte Literatur
selbst. Das scheint ein wenig hoch gegriffen. Und da das Buch neu in der
Ullstein-Reihe „Die Frau in der Literatur“ aufgelegt wurde, ist es
eigentlich naheliegender, in Monelle den Archetypus des Weiblichen zu
sehen. Sie ist das Urweib par exellence, während ihre Schwestern,
die in den märchenhaften Geschichten des Mittelteils porträtiert
werden, verschiedene feminine Phänotypen darstellen.
Sie
werden als die Egoistin, die Wollüstige, die Perverse, die
Betrogene, die Wilde, die Getreue, die Auserwählte, die Träumerin,
die Erhörte, die Gefühllose und die Geopferte vorgestellt. Morelle
selbst aber ist die ewig Flüchtige (man denke an Prousts La Fugitive), diejenige, die sich dem Moment
ebenso sehr hingibt, wie sie sich einer festen Bindung entzieht.
(Möglich, dass sich ihr Name von gr. mónos herleitet,
gleichbedeutend mit allein als
auch einzigartig.) Wie dem auch sei - Monelle als das Weibliche schlechthin werden die Herren der Schöpfung niemals begreifen: „denn wenige Männer haben mich
gesehen, und keiner hat mich verstanden“. Der Ton des Buchs ist ebenso
enigmatisch wie prophetisch. Es ist weniger eine Erzählung als ein
poème en prose, ein Hohelied auf den Erotisme.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen