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Dienstag, 21. März 2017

Robert Walser: Jakob von Gunten (1909)

Auch wenn das Lesefrüchtchen der bedingungslosen Walser-Verehrung, die jede Mikrogramm-Kapriole als neuen Geniestreich feiert, mit bedenklicher Skepsis begegnet – eines muss man lassen: Jakob von Gunten (1909) ist ein grandioser Roman, der in einer Linie steht mit Klassikern der Moderne wie Melvilles Bartleby, dem Buch der Unruhe von Pessoa oder Flauberts Bouvard & Pecuchet. Alle diese Bücher warten mit scheiternden, sich verweigernden oder zurückziehenden Antihelden auf, von denen vordergründig auch Jakob einer ist. Erklärt er doch gleich zu Beginn, er wolle im Leben nichts anderes als eine zierliche, kugelrunde Null“ werden. Die fast schon provokative Nonchalance, mit der dieser invertierte Karrierewunsch geäußert wird, lässt aber bereits erahnen, dass es mit Jakobs Bescheidenheit nicht weit her ist, und sich vielmehr ein ausgewaschenes Grossmaul hinter der Parole der Selbstverkleinerung verbirgt.

Der im Untertitel als „Tagebuch“ deklarierte Roman schildert aus der Sicht von Jakob seinen Eintritt und Aufenthalt im Institut Benjamenta, einer merkwürdigen und ziemlich maroden Knabenschule, die ihre Glanzzeiten längst hinter sich hat. Jedenfalls erfährt der Leser mit der ersten Zeile, dass die Zöglinge dieses Instituts fast nichts lernen, weil alle Lehrer entweder fort, tot oder am Schlafen sind. Der Unterricht, der aufgrund der absenten Lehrerschaft von der Schwester des Vorstehers gehalten wird, beläuft sich auf inhaltsleere Exerzitien, die entfernt an monastische Meditationsrituale erinnern. Mit Eintritt von Jakob gerät die Organisation gänzlich aus den Fugen und das Institut geht seinem Untergang entgegen: „Du bist der letzte Schüler gewesen. Ich nehme keine Zöglinge mehr an“, sagt der Vorsteher, bevor er am Ende die Pforten schließt.

Wenn nicht unbedingt eine apokalyptische, so ist Jakob doch eine ganz und gar subversive Figur, die sich lustvoll über die gesellschaftlichen und institutionellen Schranken hinwegsetzt. Für Irritationen sorgt bereits, dass er sich, obwohl (wie er mehrfach betont) aus vornehmen Hause stammend, in der Knabenschule zum Diener ausbilden will. Er wählt also vorsätzlich, doch nur vordergründig einen sozialen Abstieg auf subalterne Stufe, denn insgeheim kokettiert er mit einer mondänen Existenz, wie sie sein Dandy-Bruder, der Künstler Johann, in der Großstadt verwirklicht. So legt Jakob auch im Institut öfters ein hochmütiges, ja freches Gebaren zu Tage, eigens um den Vorsteher zu provozieren. Doch anstatt zum Konflikt kommt es schließlich zu einer Art Verbrüderung zwischen ihm und seinem Schüler. Das Buch endet mit dem Bild, wie beide gemeinsam in die Wüste ziehen: „Ich war immer der Knappe, und der Vorsteher war der Ritter.“ Unverkennbar zeichnet sich da die Silhouette von Don Quijote mit seinem Begleiter Sancho Pansa ab. So liest sich der Roman rückwärts auch als eine moderne Donquijotiade. 

Jakob von Gunten ist Robert Walsers dritter und – im Vergleich mit den beiden Vorgängern – merklich surrealster Roman. Nicht allein, weil er sich einer konventionellen Handlungsführung relativ konsequent verweigert. Mit dem Institut Benjamenta scheint man auch eine Parallel- oder Traumwelt zu betreten, in der die gewohnte Alltagslogik außer Kraft gesetzt wird. Tatsächlich hintersinnt sich Jakob mehrmals, ob er nicht etwa alles nur träume, mehr noch kommt ihm sein „ganzer hiesiger Aufenthalt wie ein unverständlicher Traum“ vor. Unverständlich ist vieles, aber zugleich alles auch ungeheuer bedeutungsschwanger. Allein die zahlreichen biblischen Sub- und Intertexte rufen geradezu nach einer Interpretation. Doch vielleicht ist man am besten beraten, wenn man es wie Jakob mit seinen Träumen hält: „Ah bah, laß das Deuten.“ Auf der anderen Seite ist der Roman wieder so durchtrieben komponiert, dass wohl tatsächlich nichts unbedeutend ist und selbst dem scheinbar belanglosen Detail ein Sinn abzugewinnen wäre. Wie auch immer: Auf jeden Fall handelt es sich um jene Kategorie von Romanen, die nie ausgelesen werden können, weil sie bei jeder Lektüre wieder neue Einsichten eröffnen.

Samstag, 25. Februar 2017

Joseph Breitbach: Das blaue Bidet oder das eigentliche Leben (1978)

Dieser Roman ist ein so frischer und frivoler Altersroman, dass man es erst gar nicht glauben will, dass der Autor ihn im hohen Alter von 75 Jahren, das heißt unterdessen vor gut 40 Jahren, geschrieben hat. Keine einzige Zeile klingt verstaubt. Auch heute nicht. Vielmehr zeichnet sich der Text durch eine narrative Vitalität und erzählerische Verve aus, die seinesgleichen sucht. Der Roman besticht nicht durch hohen Stil, sondern durch eine klare, flüssige Erzählweise, die keine Experimente wagt, sondern von solider Könnerschaft zeugt. Kein Satz ist missglückt, auch wenn nicht jeder Satz zwingend notwendig erscheint. Das einzige, was man dem Buch vorwerfen könne, sind gewisse Längen und Dehnungen.

Zum Inhalt: Jean Barbe, ein 60jähriger Unternehmer und Produzent von Qualitätsknöpfen, beschließt vor der befürchteten Sozialisierung des Arbeitsmarktes seine Firma zu verkaufen und endlich das ›eigentliche‹ Leben zu führen: »Ich will endlich einmal zu mir selbst kommen! [...] Das Eigentliche, danach dürstet mich. Das uneigentliche Dasein, mein bisheriges, lohnt sich nicht mehr, seitdem Produktivität Schinderei der Arbeitnehmer, Besitz Diebstahl, kurz: seitdem der Inhalt meiner Existenz, nach einem bereits allgemein geteilten Urteil, Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist.«

Auf seinem Gang in das neue freie Leben begegnet er aber just dem jungen Marxisten Ferdinand Malis, einem Studenten, den er als Fahrer für seine Reise in den Süden anheuern will. Obwohl Malis von Barbe nachhaltig irritiert, ja sogar abgestoßen ist, geht er den Deal ein, weil es für ihn erstens eine willkommene Gelegenheit ist, die Trennung von seiner Freundin zu verschmerzen, zweitens den kapitalistischen Klassenfeind einer Realanalyse zu unterziehen und last but not least auch deshalb, weil - Ironie - ein ordentliches Gehalt winkt.

Was wir als Leser somit serviert bekommen, sind seine »Beobachtungen an einem Kapitalisten«, zumal Malis im 19. Kapitel auch auf relativ spektakuläre Weise als neuer Erzähler eingeführt wird, nachdem die Geschichte zunächst durch eine personal an Barbe gebundene Erzählstimme wiedergegeben wurde. Es kommt deshalb, in dem ansonsten schnörkellosen Text zu einer auffälligen metanarrativen Bruchstelle, an der Malis als Erzähler das Wort ergreift:

»Ich bin es, der jetzt hier die Feder führt; im Einverständnis mit dem Autor werde ich mich bemühen, daß der Leser auf eine ihn nicht ärgernde, bequeme Weise erfahre, wie ich Barbe kennenlernte und welche Rolle dieser Sechzigjährige in meinem Leben spielen sollte.«

Es gehört als zum Kniff der Erzählanlage, dass der Kapitalist Barbe aus der Optik des Jungmarxisten Malis geschildert wird. Während Barbe zu Beginn als eher tolpatschiger und weltfremder Kauz in Erscheinung tritt (was ür allerhand slapstickartige Episoden sorgt), gewinnt er aus der Perspektive von Malis vermehrt großtuerische Züge, die dennoch nicht frei von Verschrobenheit sind. Im Gegenteil: Barbe erweist sich als geradezu kapriziöser, impulsiver, ja obsessiver (und darüber hinaus auch hochgradig erotomaner) Charakter, dessen Eigentümlichkeiten in der besonderen Vorliebe für Bidets gipfelt.

Im Bidet sieht er (auch für den Mann!) das Wahrzeichen der körperlichen Hygiene. Von dieser Ansicht lässt sich Malis am Ende ebenso überzeugen, wie er den wortreich dargebrachten Argumenten des Kapitalisten Barbe über den Egoismus als Triebkraft der menschlichen Natur streckenweise recht geben muss. Die Geschichte endet mit der Bilanz: »Ich fürchte, geblieben ist die Einsicht in seine einmal so hart geäußerte Meinung, daß wir uns alle viel gleichgültiger seien als wir es uns eingestehen wollten, und daß es die eigenen Interessen seien, die unser Fühlen, Denken und Handeln bestimmten, wie bewußt oder unbewußt auch imer wir diese verbrämten.«

Der Roman ist jedoch alles andere als ein theoretischer Schlagabtausch zwischen Kapitalismus und Sozialismus, auch wenn die hin und wieder vorgebrachten Reden und Gegenreden der Protagonisten etwas stark nach Denkschablone geschrieben sind. Im Vordergrund stehen die skurrile Figur Barbes und die durch seinen Eigensinn ausgelösten Skandale und Missverständnisse, gemäß dem von Chamfort vorangestellte Motto: »Der Eigensinn vertritt den Charakter ungefähr so, wie das Temperament die Liebe vertritt.«

Es ist eine Art Pikaroroman in modernem Gewand, hochkomisch, zuweilen derb, wie es sich für dieses Genre gehört (ein Höhepunkt bildet der kollektive Puffbesuch im Khedive mit anschließender Prügelei). Und natürlich scheint im Zweigespann vom närrischen Barbe und seinem mitschreibenden Begleiter Malis auch das literarische Vorbild von Don Quijote und Sancho Pansa durch. Gleich zu Beginn des Romans wird zudem ein anderer, sehr deutlicher intertextueller Verweis gesetzt, wenn fast beiläufig gesagt wird, Barbe habe sein Knopfgeschäft von der Familie »Bouvard und Pécuchet« übernommen.

Wie diese beiden Antihelden bei Flaubert ausziehen, um alle Wissenschaften zu erkunden, so lässt Barbe alles hinter sich, um sich in bare Leben zu stürzen. Während die beiden Kopisten Bouvard und Pécuchet am Ende ihres Kursus jedoch wieder enttäuscht in die Schreibstube zurückkehren, endet Barbes Ausflug tödlich: Er wird, Opfer seines überschäumenden Lebens- und Liebestriebs, in Tunesien aus Rachsucht niedergestochen von der schönen Fatima. So findet eine groteske Existenz ihren grotesken Abgang...

Auch wenn sich Barbe – steckt in diesem Namen vielleicht eine Kurzform von Barbar? – oft als Wüstling oder Soziophat verhält, faszinierend am Roman ist, dass er in keiner Sekunde unsympathisch wirkt, vielleicht gerade weil er im Grunde eine erzarchaische Figur ist, ein Saftkerl wie viele Schelme der Weltliteratur, die Dinge an- und aussprechen, die man sich gemeinhin nicht zu sagen wagt. Beispiel gefälligst: »Acht Tage Enthaltsamkeit, wem platze da nicht der Sack!«