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Samstag, 22. Juli 2017

Jean Cocteau: Thomas, der Schwindler (1923)

Wie viele Intellektuelle seiner Zeit reagierte auch der junge Jean Cocteau zunächst mit Begeisterung auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er sah darin eine willkommene Gelegenheit, sich von seiner bürgerlichen Herkunft zu lösen. Doch die erste Ephorie wich bald einer Ernüchterung, als er als freiwilliger Hilfssanitäter bei den Marinesoldaten die Kriegsgreuel hautnah erlebte. Die erschreckenden Erfahrungen verarbeitete Cocteau später in seinem Roman Thomas, der Schwindler, doch weder direkt anklagend noch moralisierend, auch nicht als Betroffenheitsprosa, sondern in einer zuweilen fast märchenhaften Geschichte. Im Vordergrund steht die Kritik an der eigenen Blauäuigkeit, mit der man sich damals ins Getümmel stürzte.

In der Figur von Thomas findet diese Blauäuigkeit ihre literarische Verkörperung. Thomas ist ein Junge von noch kindlichem Gemüt, aber gerade deswegen auch von einer so einnehmenden Art, dass er der Mitwelt mühelos vormachen kann, was er will. Er ist nicht der klassische Hochstapler, der andere zu seinem Vorteil betrügt, sondern ein Schwindler, der sich selbst in sein Lügengebilde verstrickt: „Man sieht, zu welcher Sorte von Schwindlern unser junger Guillaume gehört. Eine Sorte, der man eine Sonderstellung einräumen muß. Sie leben halb im Traum. Ihr Betrug setzt sie nicht herab, sondern rückt sie eher hinauf. Guillaumes Betrug war ohne Arg. Und es wird sich noch zeigen, daß er sein eigenes Opfer wurde. Er hielt sich für etwas, das er nicht war, wie ein Kind sich für Kutscher oder Pferd hält.“

Obwohl Thomas erst sechszehnjährig ist, glaubt er sich auf die Artillerieschule vorbereiten zu müssen. Als er zufällig in ein improvisiertes Lazarett gerät, gibt er vor, der Neffe des berühmten Genereals Fontenoy zu sein, was ihm sofort zu großem Ansehen verhilft. Der Name wird für ihn zum Schibboleth, das ihm alle Türen öffnet. So gelangt er schließlich mitten auf den Kriegsschauplatz in die Schützengräben. Von einem Bataillon von Marinefüsilieren wird er wie ein „Fetisch“ aufgenommen und wie ein „Abgott“ verehrt, so dass Thomas sich in jugendlicher Schwärmerei „in das Bataillon verliebt“. Noch immer versteht er den Krieg mehr als Spiel, selbst als sein Kamerad einem Schuss zum Opfer fällt. Bald darauf ereilt Thomas dasselbe Schicksal. Doch noch im Moment, als ihm die Kugel die Brust durchbohrt, hält er es nicht für real: „Wahn und Wirklichkeit waren nur noch eins in ihm.“

Zwei rivalisierende Frauen begleiten Thomas auf seinem Schicksalsweg. Die Prinzessien Clémence de Bromes und Madame Valiche. Beide zieht es als Sanitäterinnen ebenfalls magisch an die Front, weil sie sich ein grosses Abenteuer davon versprechen. Insbesondere die Prinzessin neigt dazu, das Kriegsschauspiel zu ästhetisieren, was in Metaphern und Vergleichen aus der Theaterwelt zum Ausdruck kommt: „Sie betraten die Kulissen des Dramas. Die Bühne kam immer näher.“ Oder: „Die Kulissen, dachte sie bei sich selbst. Das sind die Schauspieler, die Statisten, die sich ankleiden.“ Mit dieser naiven Haltung markiert die Prinzessin das weibliche Pendant zu Thomas. Wie dieser „wie ein Schlafwandler“ handelt, so agiert auch die Prinzessin wie eine „blinde Hellseherin“, die von Visionen getrieben wird, ohne die unmittelbare Realität zu erkennen.

Aus diesem Grund bleibt ihr lange verborgen, dass sich ihre Tochter Henriette unsterblich in Thomas verliebt hat. Zwar erwidert dieser zunächst ihre Neigung, gibt sich dann aber bedingungslos dem Soldatenleben hin. Seine Libido gilt allein seinem ihn abgöttisch verehrenden Bataillon. Verzweifelt will Henriette ihm ihre Liebe gestehen, doch der Brief erreicht ihn nicht mehr rechtzeitig vor seinem unheroischen Tod. Stattdessen wird ihr und ihrer Mutter die Todesnachricht von der schadenfreudigen Madame Valiche überbracht. Wie Mutter und Tochter „wilde Schreie“ ausstoßen und ihre Kleider zerreißen, besitzt fast das Ausmass einer antiken Tragödie. Insofern ist es mehr als nur eine Redewendung, wenn Madame Valiche zum Schluss dem Journalisten Presquel-Duport, der das Schauspiel mit distanzierter Kaltblütigkeit betrachtet, bewundernd zuruft: „Sie sind ein Gott.“ 

Presquel-Duport antwortet darauf mit der zynisch-distanzierten Bemerkung: "Es gibt keine Götter, Madame. Ich sehe die Dinge, wie sie sind; das ist alles." Mit dieser Aussage, die die Gottlosigkeit des Kriegs gleichermaßen wie die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schrecken betont, endet der Roman.