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Sonntag, 16. April 2017

Martin Kessel: Die Schwester des Don Quijote (1938)

Vom kulinarischen Verhalten entspricht das Lesefrüchtchen denjenigen, die sich vom Gemüse allmählich zum Filet hinfressen. Diese Eigenart bringt leider mit sich, dass die wirklich schmackhaften Stücke oft zugunsten leichter Kost liegen bleiben. Eben kürzlich hat das Lesefrüchtchen einen Stapel entdeckt, auf dem sich längst vergessene Leckerbissen sedimentiert haben: Samuel Beckett, Albert Drach, H.P. Lovercraft, Harry Mathews oder auch Thomas Kapieleskis Volumenroman Je dickens, destojewski. Statt sich aber endlich ans Eingemachte zu wagen, futtert sich das Lesefrüchtchen weiterhin durch Gelegenheitslektüren. So auch geschehen im jüngsten Fall: Obwohl der Großroman Herrn Brechers Fiasko von Martin Kessel im Visier war, wich es auf die viel schmalere Erzählung Die Schwester des Don Quijote aus. Aber immerhin: eine weitere Don Quijotiade.

Im Unterschied zur offenbar weitaus opulenteren Romanprosa Kessels handelt es sich bei der Geschichte um eine Künstlernovelle von fast klassischem Zuschnitt und formvollendeter Erzählkunst. Literarische Vorbilder sind unverkennbar Fontane und Thomas Mann, über den Kessel auch promoviert hatte. Wie Lothar Müller in seinem glänzenden Nachwort betont, fällt die Novelle merkwürdig aus der Zeit. Obwohl im modernen, motorisierten und elektrifizierten, Berlin spielend, verhandelt die Geschichte unter Ausschluss jeglicher zeithistorischer Bezüge den romantischen Konflikt des Künstlers zwischen Lebenswirklichkeit und Werkideal. Reminiszenzen an den Maler Frenhofer bei Balzac oder E.T.A Hoffmanns Johannes Kreisler werden wach, die auf existentielle Weise mit ihrem Kunstwerk verstrickt sind.

Im Zentrum der Erzählung steht denn auch ein Gemälde, dessen Sujet, wie es gleich zu Beginn heisst, „über den Rahmen hinausweist“ auf das dahinter liegende Schicksal. Das Bild trägt den Titel Die Schwester des Don Quijote und zeigt einen Frauenakt vor dem Spiegel, aus dem zwei markante Augen entgegenblicken. Sie gehören der neurasthenischen Salonschönheit Saskia Sorell, die für den Maler Schratt zum Inbegriff dessen wird, was er „die Dame“ nennt: eine im mondänen Verblendungszusammenhang lebende Gesellschaftsdame, die zum „Vexierbild ihrer Spiegelnatur“ wird. Kurz: Ein weiblicher Don Quijote der High Society. Die Antipode zur diesem Frauentypus ist die Haushälterin Agnes Veitzuch, ein neugieriges, linkisches Weibsbild, bei dem der Maler zur Untermiete wohnt. Zu beiden Frauen gerät der Maler in eine verhängnisvolle Abhängigkeit, die sich auch auf dem Gemälde manifestiert. Das Konterfrei der Veitzuch schleicht sich schemenhaft in den Hintergrund des Spiegelporträts und verdoppelt so die Spiegelung nochmals. Auch das natürlich ein zutiefst romantisches Motiv.

Lange Zeit scheint der Maler an diesem Gemälde zu scheitern. Zum einen hindert ihn die leidenschaftliche Zuneigung zu seinem koketten Modell an der Vollendung, zum anderen die vormundschaftliche Art der Haushälterin, die heimlich bereits Besitzansprüche an dem Bild anmeldet, in der Hoffnung, dass der baldige Erfolg des Künstlers sie für ihre Umtriebe entschädigen könne. So ist Schratt zwischen Begehren auf der einen und häuslicher Observation auf der anderen Seite gefangen. In einem dramatischen Akt entlädt sich sein Konflikt auf dem Gemälde, das ihm nicht gelingen will: Er zieht einen roten Querstrich mitten durch das gemalte Gesicht der Haushälterin im Hintergrund, die sich von der Exekution in effigie auch persönlich getroffen fühlt. Schliesslich triumphiert die Kunst aber über das Leben. Während die porträtierte Sorell in einer Nervenheilanstallt in Italien landet, verfällt die Veitzuch dem letalen Wahnsinn und haucht ihren letzten Odem in den Armen des konsternierten Künstlers aus.

Die Krise kündigte sich schon lange vorher an durch den Gestank von verbrannter Milch, der wie ein „milchig brenzliche[r] Trauer- und Begräbinisgeruch“ das ganze Haus durchströmte und „unvertreibbar“ schien. Von diesem unheilvollen Vorzeichen drängt das Geschehen immer stärker zum finalen Ereignis in der Silvesternacht, das für den Künstler zum Sieg der Kunst, für die beiden Porträtieren allerdings zum Verhängnis wird. Auf diese dramatische Weise ist seit den Konjunkturen der Romantik nicht mehr um die Kunst gerungen und gelitten worden. Wohl unfreiwillig bekommt die Erzählung dadurch einen fast parodistischen Zug. Mit dem Maler Theo Schratt aufersteht nochmals eine romantische Künstlerfigur, die sich im Kontext der Moderne und ihren zahlreichen Ismen (in der Erzählung durch die Kunstrichtung des „Trilogismus“ kurz anzitiert) bloß mit erheblichen Kollateralschäden behaupten kann. Selbst die geplante Italienfahrt, der klassische Topos der künstlerischen Bildungsreise, endet mit einer typischen Erfahrung der Moderne: mit einem Autounfall.

In dieser seiner ersten Autofahrt erlebt Schratt gewissermaßen auch die Ästhetik der Moderne, wie sie Tommaso Marinetti paradigmatisch im Manifest des Futurismus beschreibt – und zwar nicht zufällig auch am Beispiel einer rasanten Autofahrt. Der Rausch der Geschwindigkeit, wie sie die moderne Technik ermöglicht, soll auch in der Kunst zu neuen Wahrnehmungs- und Darstellungsformen führen. Mehr noch inszeniert Marinetti den Autounfall zu einem natalen Akt, aus dem der neue Mensch und seine radikal neue Ästhetik hervorgeht. Während der Fahrt lernt Schratt zwar auch den Rausch der Geschwindigkeit kennen, der ihn sogar in eine Art „Wachtraum“ versetzt. Er zieht daraus aber ebenso wenig ästhetische Konsequenzen wie aus der darauffolgenden Carambolage. Vielmehr wertet er ihn als geradezu schicksalhaftes Zeichen, das ihn wieder in die Fänge der Haushälterin zurückwirft.

Wohl auch deshalb, weil der Unfall just in dem Moment erfolgt, als ihm die Bedeutung des Hintergrundes generell, insbesondere aber die Hintergründigkeit seines Gemäldes klar wird. So setzt eben der romantische Künstler nicht sein eigenes Leben aufs Spiel, sondern ergötzt sich an der abstrakten Schönheit des Todes. Dieses romantische Ideal der schönen Leiche ist jedenfalls die Erkenntnis, die Schratt am Ende ereilt: „Leichnam und Schönheit“. Darin erblickt er die „Größe der Kunst“: „Denn nur, wer die Schönheit von Grund auf errichtet, aus Finsternis, Wollust und Sterngeäder der Nacht, nur der ist ihr Schöpfer.“ Besser hätte es auch Detlev Spinell, der große Verehrer der Todesschönheit, nicht formulieren können.