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Montag, 14. April 2025

Ror Wolf: Pilzer und Pelzer (1967)

Drei Jahre nach Ror Wolfs Debut mit Fortsetzung des Berichts setzt Pilzer und Pelzer das narrative Verfahren konsequent fort, ja greift das serielle Prinzip der Fortsetzung bereits im Untertitel auf, der "Eine Abenteuerserie" verspricht. Das klingt nach Kioskroman, nach einem Trivialgenre, das Ror Wolf zwar lustvoll bedient, aber keineswegs erfüllt. Wer eine Geschichte mit einem simpel gestrickten, nachvollziehbaren Spannungsbogen erwartet, der liegt hier sicherlich falsch, denn der Autor setzt alles daran, Erzählkonventionen auf Schritt und Tritt zu sabotieren, etwa durch mutwillig eingestreute Satzanweisungen: "Punkt neuer Abschnitt". Dabei geschieht eigentlich ungeheuer viel in dem Roman, nur verbleibt das Meiste in Ansätzen stecken, findet nur andeutungsweise oder gar keine Erwähnung, weil es der Erzähler als bekannt voraussetzt oder nicht der Rede wert hält. Eine Poetik des Vagen und Ungefähren durchzieht diese Prosa, die dadurch ihren eigenen Reiz entfaltet und eine Spannung erzeugt, die nicht in der Handlung, sondern im obskuren Erzählverfahren selbst begründet liegt, das Erwartungen weckt, die ständig unerfüllt unterlaufen werden. 

Es beginnt schon mit dem Titel: Pilzer und Pelzer. Am Ende des Romans weiss man weder, wer die beiden sind, noch ob es sie überhaupt gibt - oder doch nur eingebildete Geschöpfe sind. Für den Erzähler sind sie kaum voneinander zu unterscheiden und er zweifelt mitunter an ihrer Existenz. Am Schluss verlieren sie sich - nach einem epischen Boxkampf im hohen Norden - "in die weisse knisternde Landschaft" aus ewigem Schnee. Neben dem Duo Pilzer und Pelzer sind da noch die Witwe, der Kapitän und der Matrose sowie weitere Figuren, die wie in einem Namedropping genannt werden. Sie alle tauchen eher wie Schemen auf denn als wirkliche Figuren. Es sind narrative Pappkameraden, mit denen der Erzähler so willkürlich verfahren kann, wie mit allem, was ihm unter die schreibenden Finger gerät. Es hat somit wenig Sinn, mehr noch ist es unmöglich, die Handlung des Romans, soweit überhaupt davon die Rede zu sein kann, wiederzugeben. Stattdessen soll versucht werden, auf ein paar Besonderheiten dieser Prosa hinzuweisen, welche die Lektüre zum Ereignis machen, das sich nicht inhaltlich begründen lässt.

Es handelt sich um ein grossartiges Antinarrativ, das irgendwo in der Tradition von Laurence Sterne und seinem Tristam Shandy zu verorten ist. Während dort allerdings Tristram nie richtig dazu kommt, seine Lebensgeschichte zu schildern, weil er ständig auf alles abschweift, was ihm in den Sinn kommt, und sich daher die Erzählung von selbst aufzuheben beginnt, resultiert derselbe Effekt bei Ror Wolf aus einer Technik der narrativen Diffusion, der den "Gang der Ereignisse" oder den jeweiligen "Fall" ins Unbestimmte auflöst, so dass er vor den Augen des Lesers verschwimmt. Stets wird zwar mit den Stilmitteln des Abenteuerromans operiert und spielt ironisch mit Floskeln der Spannungserzeugung, die meistens jedoch im luftleeren Raum hängen bleiben. Auf die Spitze getrieben an Stellen wie dieser: "Ich sah auf die Uhr, elf Uhr, es ist etwas passiert, sagte ich, ich nahm mein Notizbuch und schrieb: elf Uhr, es ist etwas passiert. Klar und deutlich." Was aber passiert ist, erfahren die Leser nie. Der Abschnitt endet auch mit dem relativierenden Kommentar: "doch ich glaube, das war nicht einmal das Problem des Tages."

Stets ist "es", "etwas" oder "vielleicht etwas Derartiges" im Gange, ohne dass es näher erläutert oder ausgeführt würde. Entweder weil es wie hier gänzlich ausgeklammert wird oder weil der Erzähler nur vage Andeutungen gibt. Ein Kapitel beginnt zum Beispiel: "Ich habe von einem Wachsen gesprochen, es ist also so, dass etwas wächst, während ich schreibe und weiterschreibe, aus den Ritzen und Fugen heraus [...]" Und fährt dann fort dieses "etwas" näher zu umschreiben, das durch den Beschreibungsexzess keineswegs fassbarer, nur umso undeutlicher wird: "[...] aufgeblasen jawohl spaltig aufklaffend fleischig mit Ritzen und Zipfeln aufspringend spitz an salzigen Orten buschigen Hängen Gruben und Pfützen Geröll wüsten Plätzen zum Küchengebrauch vielleicht Juli August graugrün mit klebrigen Haaren [...]" usw. Über eine Seite lang reihen sich scheinbar zusammenhangslose Worte aneinander, so dass dieses "etwas" zum reinen Sprachereignis wird. Es stellt sich ein Wahrnehmungseffekt wie bei einem Wimmelbild ein: Vor lauter Details bleibt alles diffus.

Diese Poetik des unbestimmten "Etwas" ist charakteristisch für den gesamten Text. Insofern kommt dem Kapitel, das schlicht mit "Etwas" überschrieben ist, einen besonderen poetologischen Stellenwert zu. Dort wird ebenfalls ein Wuchern beschrieben, das die Witwe wie eine Art Ektoplasma befällt: "Plötzlich aus dem geöffneten Mund etwas pflanzartig etwas keimweiss herauskriechend und weiterwachsen mit unerhörter Geschwindigkeit." Dieses "etwas" mutiert zu "filzigen Pilzfadengestrüppen" und es droht ferner, das "pelzig entgegenwüchse". Dass hier die Namen der beiden vermeintlichen Protagonisten Pilzer und Pelzer anklingen, lässt aufhorchen. Sind Pilzer und Pelzer nichts anderes als die Allegorie der sich zersetzenden Textstruktur, parasitäre Elemente sprachlicher Wucherung und Metastasen? Immerhin lassen sich ihre Namen auch als die personifizierten postmodernen Konzepte des Rhizoms (Deleuze/Guattari), der Wurzelflechten von Pilzen, und der Greffologie (Derrida), zu Deutsch auch Pfropfen oder Pelzen, verstehen.

Der Text Pilzer und Pelzer pfropft bzw. pelzt sich wie ein parasitärer Pilz auf das Trivialgenre des Abenteuerromans, um es rhizomatisch auszuhöhlen. Damit gleicht das narrative Verfahren den beigefügten Collagen, die aus alten Kupferstichen ebensolcher Unterhaltungsliteratur zu surrealen Kombinationen montiert sind. Diese stehen dabei nur in losem Bezug zum Text; gewisse motivische Übereinstimmungen bleiben erkennbar, ohne aber direkt miteinander zu korrespondieren. Die Collagen fungieren nicht als Illustrationen des Text. Vielmehr scheint es sich eher umgekehrt zu verhalten, als hätte sich der Autor von diesem Bildern in freier Assoziation anregen lassen und gewisse Elemente übernommen, um wenigstens ansatzweise über ein Handlungsgerüst zu verfügen, natürlich nur um es sofort wieder zu unterlaufen: "und mit einem Mal Ruhe sonst nichts zu berichten im Grunde wollte ich etwas anderes erzählen".

Samstag, 22. Februar 2025

Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung (2012)

Wolf Haas, bekannt für seine mit Sprachwitz gespickten Brenner-Krimis, legte mit mit die Verteidigung der Missionarsstellung einen Roman ausserhalb seiner Krimi-Serie vor, der alle Register des postmodernen Erzählens zieht, ohne dabei anstrengend zu wirken. Im Grunde ist es schon eher eine Parodie auf postmoderne Erzählverfahren, die hier mit grossem Augenzwinkern zur Schau gestellt werden. Es handelt sich - ganz in der Tradition von Laurence Sterne und seinem Tristram Shandy - um einen Antiroman, der sich dem linearen Fortgang verweigert, den Erzählfluss ständig sabotiert und die Geschichte lediglich entwickelt, um sie wie eine Seifenblase platzen zu lassen. Das beginnt schon damit, dass wir keinen fertigen Roman lesen, sondern gewissermassen einzelne Entwurfsfragmente, deren Lücken erst noch ausgearbeitet werden müssen. Immer mal wieder vermerkt der Autor in Klammern, was bei einer Überarbeitung noch zu ergänzen wäre. Quasi konträr zu dieser Ästhetik des Unfertigen ist der Roman bereits mit diversen typographischen Spielereien ausgestattet, auch da bleibt der Tristram Shandy Vorbild. Mal muss man um die Ecke lesen, dann Querlesen oder ein Textblock bewegt sich wie ein Lift vom oberen Seitenrand nach unten. Auch das besitzt eher ironischen Charakter und fungiert als Parodie auf ähnliche, jedoch symbolisch überladene Verfahren wie etwa in Extrem laut und unglaublich nah (2005) von Jonathan Safran Foer.

Verteidigung der Missionarsstellung ist deshalb nicht nur ein Anti-, sondern auch ein - in der Tradition von Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht (1979) stehender - Metaroman, da er permanent auch über das eigene Verfahren reflektiert und sich auf sich selbst bezieht, bis hin zur Absurdität, wenn dem Autor am Ende des noch unfertigen Romans eine Reiterin begegnet, die das Buch bereits aufmerksam gelesen hat. Auf diese Form der Selbstreferentialität verweist bereits das Cover des Buchs, wo der Autor sein Buch in die Kamera hält. Das Buch erscheint also im Buch und das könnte in einem infiniten Regress so weitergehen. Tatsächlich inszeniert Wolf Haas ungefähr in der Mitte der Geschichte eine solche Mise en abyme, als die lediglich als "die Baum" apostrophierte Figur beginnt, den gesamten Text zu lesen, den wir bereits gelesen haben, wobei der Autor bemerkt: "Ich fragte mich, wie sie es geschafft hatte, aus der Schleife auszusteigen. Sie hätte doch am Ende des Buches wieder an die Stelle kommen müssen, wo ich schlafen gehe und die Baum in meinem Arbeitszimmer sitzt und zu lesen beginnt. Dann hätte die Geschichte ein drittes Mal von vorn beginnen müssen, und wieder wäre sie am Ende zu der Stelle gekommen, wo die Baum in meine Arbeitszimmer geht und zu lesen beginnt, und die Geschichte hätte ein viertes Mal angefangen ..."

Nicht nur praktisch, auch theoretisch ist Wolf Haas mit allen Wassern postmoderner Konzepte gewaschen. Nicht von ungefähr heisst der Protagonist seines Metaromans Benjamin Lee Baumgartner in Anlehnung an den Linguisten Benjamin Lee Whorf, dessen sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese von der sprachlichen Abhängigkeit der Weltsicht die postmoderne Theoriebildung von der Unhintergehbarkeit sprachlicher Strukturen massgeblich mitbestimmte. Haas weiss das alles, drückt es uns aber nicht demonstrativ aufs Auge, sondern spielt mit diesen Theoriemodellen, zu denen auch das Lügnerparadox oder Tarskis Forderung einer strikten Trennung zwischen Objekt- und Metasprache gehören, ein vergnüglich leichtes Spiel. Denn eingebettet sind alle diese Versatzstücke in die amüsante Liebesgeschichte besagten Benjamin Baumgartner, der - obwohl sein Vater entgegen der Behauptung seiner Mutter gar kein Indianer war - dem Chief Bromden aus Einer folg über das Kuckucksnest verblüffend ähnlich sieht - sich immer dann in eine Frau verliebt, als gerade eine Seuche ausbricht (BSE in London, Vogelgrippe in Peking, Schweingrippe in Santa Fee), was ihn zur fixen Idee verleitet, seine Verliebtheit löse jeweils eine solche Epidemie aus. Das ist im Prinzip schon die ganze Geschichte, die vor allem von Wolf Haas' unvergleichlich witzigen Dialogen und Sprachspielen lebt - und hier zusätzlich von einem ausgeklügelten Antinarrativ.

Montag, 15. Oktober 2018

Pierre Charron: Die wahre Weisheit (1780)


Im Original lautet der Titel dieser „Sittenlehre“ schlicht De la sagesse (1601). Es hätte aber ebenso gut De l'homme (Über den Menschen) betitelt sein können, den letztlich geht es Charron um das Verständnis der menschlichen Natur, um daraus normativ eine Verhaltenslehre abzuleiten. Unter Weisheit versteht Charron entsprechend nicht die höchste Form der Erkenntnis im philosophischen Sinne, sondern die Fähigkeit der richtigen Lebensführung. Weisheit sei die Kombination aus Klugheit und Ehrlichkeit. Klugheit allein werde zur List, Ehrlichkeit allein münde in Unbescheidenheit. Der Weg zur Weisheit in diesem Sinne führt über die Selbsterkenntnis. Das nosce te ipsum ist dem Buch von Beginn an eingeschrieben.

Das Titelkupfer der Originalausgabe zeigt die allegorische Weisheit, die in einen Spiegel blickt, der ihr (vermutlich von göttlicher Hand) aus einer Wolke entgegen gestreckt wird: Sie erkennt sich darin selbst und thront deshalb über den vier Figuren, die an ihren Laster angekettet dargestellt sind. Auch diese vier Figuren sind allegorisch. Sie stehen für die Menschen, die noch nicht zur Selbsterkenntnis gelangt sind, da sie von ihren negativen Eigenschaften beherrscht werden. Es ist das erklärte Ziel Charrons, den Menschen über seine Schwächen aufzuklären, das heißt: seine Fehler zu erkennen und aus ihnen zu lernen. Doch ist dies keine einfache Aufgabe: „Denn nichts ist listiger, als der Mensch, und er ist beynahe gar nicht zu ergründen.“ So die skeptizistische Grundeinsicht des Autors.

Mit eindrucksvollen Worten schildert Charron deshalb sein Vorgehen, „den Menschen so kennen zu lernen, wie er in allem Verstande genommen, wie er von allen Seiten betrachtet, ist; ihm recht an den Puls greifen; mit dem Fühlrohre bis aufs Leben hineinfahren; mit dem Lichte und Sucheisen in der Hand in sein Innerstes hineingehen; in allen Löchern, Winkeln, Ecken, krummen Gängen, Höhlen und geheimen Oertern alles umstören und durchsuchen“. Die metaphorische Sprache lässt den Eindruck entstehen, als würde sich Charron für eine geologische Expedition ins Innerste der Erde rüsten. Damit gewinnt sein Vorhaben an Empirizität und Glaubwürdigkeit.

Das Werk umfasst drei Teile. Im ersten deskriptiven Teil setzt sich Charron ausführlich mit der Beschaffenheit der menschlichen Natur auseinander, im zweiten normativen nennt der Autor die Vorschriften und Regeln zur besseren Lebensführung und der abschließende dritte Teil ist den vier moralischen Grundtugenden der Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigkeit gewidmet.

Pierre Charron war Zeitgenosse von Montaigne und soll auch mit ihm bekannt gewesen sein. Wie gut, ist allerdings umstritten. Die anonym verfasste Einleitung zur deutschen Ausgabe geht von einer „sehr engen Bekanntschaft“ aus, während die Forschung heute angesichst fehlender schriftlicher Zeugnisse (weder Montaigne noch Charron haben sich gegenseitig gross erwähnt) allenfalls eine flüchtige Begegnung vermutet. Fest steht jedoch, dass Charron seine drei Bücher über die Weisheit in geographischer Nähe von Montaignes Anwesen in Bordeaux verfasst hat. Doch nicht nur dies, er hat sich auch zu nicht geringen Teilen aus Montaignes Essais bedient, die ihm eine Fülle von Belegstellen und Beispielen über die menschliche Wesensart lieferten, die er für seine Abhandlung verwenden konnte.

Literaturgeschichtlich ging Charron deshalb unter dem wenig rühmlichen Titel als „Montaignes Affe“ ein. Eine Bezeichnung, die trotz nachweisbarer Übernahmen nicht ganz gerechtfertigt ist, allein deshalb nicht, weil Charrons Werk, das kurz nach seinem Tod erschienen ist, viel erfolgreicher war als Montaignes Essais, die durch ihren konsequenten Subjektivismus zwar literaturgeschichtlich bedeutsamer sind, doch für die Zeitgenossen eine noch ungewohnte Schreibweise darstellten. Charrons systematische und moral-didaktische Abhandlung entsprach den Lesegewohnheiten eher als die Aufzeichnungen eines denkenden Müssiggängers. Im skeptizistischen Menschenbild jedoch stimmen beide Autoren miteinander überein, mit dem Unterschied freilich, dass Charron die Menschheit allgemein bessern, Montaigne zunächst sich selbst als Mensch erkunden wollte.

PS: Offenbar soll Charrons Werk für Laurence Sterne eine wichtige Inspirationsquelle zur Darstellung der menschlichen Schwächen seiner Charaktere gewesen sein.

Dienstag, 2. Mai 2017

Albert Drach: Unsentimentale Reise (1966)

Eine jüdische Exilgeschichte als Abenteuer- und Schelmenroman: Ist das moralisch vertretbar, selbst wenn sie vom Betroffenen selbst erzählt wird? Aber weshalb soll man sich noch um narrative Angemessenheit und Gattungsgesetze kümmern, wenn die Welt ohnehin aus den Fugen geraten ist? So heißt es auch ziemlich zu Beginn schon: „Was anders ist, das ist, daß ich das Leben nicht mehr so ernst nehme, seit ich weiß, daß ich das die Gesetze aufgehoben sind, die es schützen.“ Zudem handelt es sich um eine unsentimentale Erzählung, die weder auf Mitleid pocht noch solches vom Leser einfordert. Der Titel ist eine Anspielung auf Laurence Sternes Sentimental Journey (1768), die im Deutschland des 18. Jahrhunderts einen veritablen Gefühlskult hervorgerufen und ein ganzes Genre der launigen Erzählweise begründet hat (tatsächlich wurde das engl. sentimental oft mit launig übersetzt). Von diesem heiter-melancholischen Ton distanziert sich Drach jedoch explizit und wählt stattdessen eine „unsentimentale“ Erzählweise, die von einem sarkastischen bis defätistischen Humor getragen ist, der sich mitunter auch gegen das erzählende Ich selbst richtet. Es weiß, dass er sich auf einer unsentimentalen Reise befindet, die falls sie überhaupt jemals endet, nur letal enden kann: „Sofern sie ein Ziel hat, ist es das, wohin ich nicht will, wohin man einen bringt und wo die Reise nicht mehr weitergeht.“

Geschildert wird aus der Ich-Perspektive die prekären Lebenumstände im französischen Exil des österreichischen Juden Peter Kucku (bzw. Pierre Coucou), der ein leicht dechiffrierbares Alter Ego des Autor ist (er gibt sich an einer Stelle sogar als Verfasser von Albert Drachs Großem Protokoll gegen Zwetschkenbaum zu erkennen). Das Buch ist in drei Teile gegliedert, wobei der letzte fast die Hälfte des gesamten Umfangs einnimmt und eine für den episodischen Schelmenromans typische Fülle an Personal und Handlungssequenzen umfasst, weshalb hier der Inhalt nur sehr raffend wiedergegeben werden kann. Der erste Teil dreht sich um die Deportation und die Internierung im Zwischenlager von Rives Altes, aus dem Coucou zusammen mit anderen Inhaftieren durch eine glückliche Fügung wieder entlassen wird. Ohnehin versucht Coucou mit allen Mitteln, den Nazis zu entkommen, auf die er eine ungeheure Wut hat, die sich einmal in einer fulminanten Hasstirade auf Hitler entlädt, dem „'Mann' genannten Hämling, der selbst nicht genau weiß, aus welchem Schleim seine eigene Rasse kommt“. Aus diesem „Zorn“ erwächst ein fast trotziger „Entschluß zu leben“ und den Faschisten zu entkommen. Zu diesem Zweck lässt sich Coucou durch eine Schummelei von der französischen Regierung einen Attest ausstellen, dass er kein Jude sei, indem er das Kürzel I.K.G. (für Israelische Kultusgemeinde) auf seinem Heimatschein durch eine Notlüge zur Formel „Im Katholischen Glauben“ uminterpretiert.

Der zweite Teil spielt mehrheitlich in Nizza, wo sich Coucuo nach seiner Entlassung aus dem Lager eine gesicherte Existenz verschaffen will und dabei mit verschiedenen Leuten in Kontakt tritt, um an Geld, Unterkunft und Essen zu kommen. Er fühlt sich einigermaßen in Sicherheit, da Nizza von den Italiener besetzt ist, doch dauert es nicht lange und die Gestapo reißt die Stadt an sich, weshalb Coucou wieder fliehen muss. Auf Rat einer irren Baronin fährt er mit dem Autobus in das Gebirgsdorf Caminflour La Commune in den Meeralpen, wo ihm die englische Familie Withorse („Witzpferd“) als Kontakt empfohlen wird (ob da eine Anspielung auf das hobby-horse und den sprunghaften Witz bei Sterne vorliegt, geht nicht eindeutig hervor). Der dritte Teil ist dem Aufenthalt in diesem Ort gewidmet, den Coucou mit merkwürdigen Bekanntschaften wie den Withorse oder dem germanophilen Dichter Lebleu verbringt, aber auch in ständiger Angst, entdeckt zu werden, sowie permanenten Geldsorgen. Erst als am Ende die Alliierten nicht zuletzt dank seiner Intervention einfahren, entschärft sich die Lage, wenngleich sie sich auch nicht normalisiert. Die Gefahr durch die Nazis weicht jetzt dem schlechten Gewissen, das den Entkommenen als raunende innere Stimme von Dr. Honigmann begleitet, der mit Coucou deportiert worden ist, im Unterschied zu ihm aber den Tod in der Gaskammer fand.

Doch Fragen der Moral gelten in diesen Zeit nicht, in der Freund und Feind nicht mehr klar zu trennen sind, in der Juden ihre Mitbrüder verraten, um sich selbst das Leben zu retten oder gar wie im Falle des Separatisten Quierke zur Gestapo überlaufen. Letztlich ist niemandem mehr zu trauen und man ist ganz auf sich alleine gestellt. Mit dieser morale provisoire ausgestattet, kämpft Coucou um sein Dasein, ohne falsche Skrupel und Rücksicht auf Verluste. Aus diesem Grund beschleicht den Protagonisten, so sehr ihn auch der Entschluss zu leben motiviert hatte, allmählich das Gefühl, dass er sich von sich selbst entfremdet und längst schon den Toten angehört (am Schluss nimmt die Verszeile „Die Toten reiten schnell“ aus Gottfried August Bürgers berühmter Ballade Lenore dieses Motiv auf). Tatsächlich fristet Coucou weitgehend ein abgestorbenes, moribundes Dasein, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass er trotz starker erotomaner Neigungen gerade zu jungen Mädchen nicht mehr zum Beischlaf fähig ist, obwohl sich mehrfach die Gelegenheit bieten würde. Ein weiteres auffälliges Defizit ist sein schwaches Erinnerungsvermögen, weshalb er ständig Personen begegnet, die ihn sehr gut kennen, er sich auf Anhieb aber kaum an sie erinnern kann, denn: „Man vergißt viel auf einer unsentimentalen Reise.“

Drachs kompromissloser, tiefschwarzer, aber von einer wiederum fast selbstdestruktiven Frivolität geprägter „Bericht“ (so lautet die offizielle Gattungsbezeichnung) ist ein absolute Ausnahmeerscheinung in der Exil- wie in der Romanprosa überhaupt. Vergleichbar ist die ausufernde erzählerische Wucht eigentlich nur mit zwei anderen Romanen, die mit derselben humoristischen Abgeklärtheit gegen die selbsterfahrene Zwangslage im Exil anschreiben: zum einen Ulrich Bechers Murmeljagd (im Schweizerischen Graubünden) und Albert Vigoleis Thelens Die Insel des zweiten Gesichts (auf Mallorca). In allen drei Fällen meldet sich ein autofiktionaler Ich-Erzähler zu Wort, keck und tolldreist, der sich trotz widrigster Lebensumständen nicht kleinkriegen lässt, sondern sich im Gegenteil durch Witz, List und einer gehörigen Portion wildentschlossener Frechheit gegen das tumbe Gewaltregime zur Wehr setzt, ohne dabei in eine Heldenpose zu verfallen. Vielmehr handelt es sich auch bei Pierre Coucou um eine ganz und gar unheroische, bisweilen sogar tragische Figur, die allein ein wacher Sinn fürs Absurde vor der restlosen Verzweiflung bewahrt.

Mittwoch, 22. Februar 2017

Rodolphe Toepffer: Die Bibliothek meines Onkels (1832; dt. 1847)

Diese Erzählung erfreute sich damals großer Beliebtheit, was heute kaum mehr vorstellbar ist, denn es fehlt ihr an einem durchgehenden Handlungsbogen. Allein der Titel wird auf der Inhaltsebene nicht wirklich eingelöst, zumal die Bibliothek nur sehr subtil und hintergründig das Geschehen bestimmt. Stattdessen werden in loser Folge einzelne Episoden, Betrachtungen und Einfälle aneinander gereiht, wie es der Autor auch in seinen Bildergeschichen tat, für die er heute noch als Pionier der Comickunst bekannt ist. Selbst Goethe war von den gezeichneten Bilderfolgen begeistert. Über die hier vorgestellte Erzählung La bibliothèque de mon oncle hingegen konnte er sich nicht mehr äußern: Als das persönlich von Toepffer verschickte Widmungsexemplar Weimar erreichte, weilte der Dichterfürst schon nicht mehr unter den Lesenden.

Wie er darauf reagiert hätte, darüber lässt sich nur spekulieren. Die Novelle ist ganz im Geist der empfindsam-launigen Erzählweise geschrieben, wie sie durch zahlreiche Imitatoren von Laurence Sterne und seiner Sentimental Journey im deutschen Sprachraum popularisiert wurde. Anstelle der Reise, die ein beliebtes Motiv für diesen sprunghaften Stil war, wählt Toepffer das Fenster als situativen Rahmen. Der Ich-Erzähler Julius präsentiert sich als „Gaffer“, der stunden- ja tagelang aus dem Fenster in seiner Dachwohnung schaut und die Welt betrachtet. Das Fenster – und nicht etwa. wie man meinen könnte, die Bibliothek – ist somit der privilegiert Ort, von dem aus erzählt wird. Einleitend wird das Fenster – in Abgrenzung zur Schwelle und zur Stube – sogar als ideales Erkenntnismodell vorgestellt. Die im Titel prominent genannte Bibliohtek hingegen fungiert eher als Negativfolie. Entsprechend kommt ihr während der gesamten Erzählung auch keine spezifische raumpoetische Bedeutung zu.

Julius, der Protagonist und Erzähler, ist ein 18jähriger, elternloser Student, der deshalb bei seinem Oheim wohnt. Dieser ist ein kauziger alter Privatgelehrter und Bücherwurm, der sich am liebsten in seiner Bibliothek aufhält und dort jedes einzelne Exemplar in- und auswendig kennt, während die Welt keine Notiz von ihm nimmt. Vom Bücherstaub will auch Julius gar nichts wissen; viel lieber schaut er zum Fenster hinaus und verliert sich in Tagträumen: „Ja, das Herumgaffen ist wenigstens einmal im Leben nötig, aber besonders im achtzehnten Lebensjahre, wenn man die Schule verläßt. Hier gewinnt die durch das Lesen alter Schwarten vertrocknete Seele wieder neues Leben“. Was den Jüngling in seinem Alter vor allem interessiert, sind demnach nicht lateinische Phrasen, die ihm der Hauslehrer Ratin aufzwingen will, sondern es ist das weibliche Geschlecht, um das sich die lose gestrickte äußere Handlung gleich in dreifacher Weise dreht.

In gewisser Hinsicht ist es eine Geschichte der Adoleszenz. Julius, der Protagonist, ist ein schüchterner junger Mann, der sich insgeheim umso sehnsüchtiger nach den angehimmelten Frauenzimmern verzehrt. Nacheinander schmachtet er so verstohlen wie offensichtlich für die Engländerin Lucie, für eine Jüdin, die allerdings zu früh verstirbt, als dass sich die Liebe erfüllen könnte, sowie für Henriette, die er schließlich heiratet, obwohl der Vater zunächst dagegen interveniert, da er in Julius, der seinem „Hang für die schönen Künste“ nachgekommen und Maler geworden ist, für eine finanziell denkbar unsichere Partie hält. Doch am Ende kommt die Vermählung trotzdem zustande, nicht zuletzt weil der Oheim von Julius altersbedingt seine Bibliothek verkauft und den Erlös als Mitgift stiftet. So gewinnen die Bücher, die Julius stets verschmäht hat, am Ende doch noch einen, wenngleich nur pragmatischen Nutzen.

Dennoch spielt die Bibliothek in den beiden anderen Teilen hintergründig eine entscheidende Rolle, insofern sie als Katalysator für die amourösen Gefühle von Julius dient. Im ersten Teil ist es die Geschichte von Abaelard und Heloise, die Julius in der Bibliothek entdeckt und von der er nachhaltig erotisiert wird. Im zweiten Teil ist es eine apokryphe, der „Bulle Unigenitus“ beigebundene Passage, die Julius über der Jüdin heimliche Neigung zu ihm Aufschluss verleiht. In beiden Fällen führt das Begehren zunächst über die Schrift. Doch ist den durch das Buch vermittelten Liebschaften keine Dauer beschieden. Es gehört wohl zur Ironie der Geschichte, dass erst der Buchverkauf zu einer stabilen Beziehung und zur Heirat führt, während das bloße Wort sich als höchst unsichere Phantasmagorie erweist.

Die Geschichte endet mit dem Tod des Oheims und einem – in Form eines Briefs von Julius an Lucie verfassten – Nachrufs auf ihn: „Dies, Madame, ist die einfache Erzählung von den letzten Augenblicken eines unbeachteten, der Welt fremden und selbst seinen eignen Nachbarn unbekannten Mannes, den ich aber aus vollem Herzen unter die besten Menschen der Erde zählen muß. Sein langes Leben erscheint mir wie der Lauf eines unbeachteten aber segenspendenen Baches, der seine bescheidenen Ufer erquickt und in dem sich die milde Heiterkeit eines lachenden wolkenlosen Himmels spiegelt.“