Im
Original lautet der Titel dieser „Sittenlehre“ schlicht De la
sagesse (1601). Es hätte aber ebenso gut De l'homme (Über
den Menschen) betitelt sein können, den letztlich geht es
Charron um das Verständnis der menschlichen Natur, um daraus
normativ eine Verhaltenslehre abzuleiten. Unter Weisheit versteht
Charron entsprechend nicht die höchste Form der Erkenntnis im
philosophischen Sinne, sondern die Fähigkeit der richtigen
Lebensführung. Weisheit sei die Kombination aus Klugheit und
Ehrlichkeit. Klugheit allein werde zur List, Ehrlichkeit allein münde
in Unbescheidenheit. Der Weg zur Weisheit in diesem Sinne führt über
die Selbsterkenntnis. Das nosce te ipsum ist dem Buch von
Beginn an eingeschrieben.
Das
Titelkupfer der Originalausgabe zeigt die allegorische Weisheit, die
in einen Spiegel blickt, der ihr (vermutlich von göttlicher Hand)
aus einer Wolke entgegen gestreckt wird: Sie erkennt sich darin
selbst und thront deshalb über den vier Figuren, die an ihren Laster
angekettet dargestellt sind. Auch diese vier Figuren sind
allegorisch. Sie stehen für die Menschen, die noch nicht zur
Selbsterkenntnis gelangt sind, da sie von ihren negativen
Eigenschaften beherrscht werden. Es ist das erklärte Ziel Charrons,
den Menschen über seine Schwächen aufzuklären, das heißt: seine
Fehler zu erkennen und aus ihnen zu lernen. Doch ist dies keine
einfache Aufgabe: „Denn nichts ist listiger, als der Mensch, und er
ist beynahe gar nicht zu ergründen.“ So die skeptizistische
Grundeinsicht des Autors.
Mit
eindrucksvollen Worten schildert Charron deshalb sein Vorgehen, „den
Menschen so kennen zu lernen, wie er in allem Verstande genommen, wie
er von allen Seiten betrachtet, ist; ihm recht an den Puls greifen;
mit dem Fühlrohre bis aufs Leben hineinfahren; mit dem Lichte und
Sucheisen in der Hand in sein Innerstes hineingehen; in allen
Löchern, Winkeln, Ecken, krummen Gängen, Höhlen und geheimen
Oertern alles umstören und durchsuchen“. Die metaphorische Sprache
lässt den Eindruck entstehen, als würde sich Charron für eine
geologische Expedition ins Innerste der Erde rüsten. Damit gewinnt
sein Vorhaben an Empirizität und Glaubwürdigkeit.
Das
Werk umfasst drei Teile. Im ersten deskriptiven Teil setzt sich
Charron ausführlich mit der Beschaffenheit der menschlichen Natur
auseinander, im zweiten normativen nennt der Autor die Vorschriften
und Regeln zur besseren Lebensführung und der abschließende dritte
Teil ist den vier moralischen Grundtugenden der Klugheit,
Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigkeit gewidmet.
Pierre
Charron war Zeitgenosse von Montaigne und soll auch mit ihm bekannt
gewesen sein. Wie gut, ist allerdings umstritten. Die anonym
verfasste Einleitung zur deutschen Ausgabe geht von einer „sehr
engen Bekanntschaft“ aus, während die Forschung heute angesichst
fehlender schriftlicher Zeugnisse (weder Montaigne noch Charron haben
sich gegenseitig gross erwähnt) allenfalls eine flüchtige Begegnung
vermutet. Fest steht jedoch, dass Charron seine drei Bücher über
die Weisheit in geographischer Nähe von Montaignes Anwesen in
Bordeaux verfasst hat. Doch nicht nur dies, er hat sich auch zu nicht
geringen Teilen aus Montaignes Essais bedient, die ihm eine
Fülle von Belegstellen und Beispielen über die menschliche
Wesensart lieferten, die er für seine Abhandlung verwenden konnte.
Literaturgeschichtlich
ging Charron deshalb unter dem wenig rühmlichen Titel als
„Montaignes Affe“ ein. Eine Bezeichnung, die trotz nachweisbarer
Übernahmen nicht ganz gerechtfertigt ist, allein deshalb nicht, weil
Charrons Werk, das kurz nach seinem Tod erschienen ist, viel
erfolgreicher war als Montaignes Essais, die durch ihren
konsequenten Subjektivismus zwar literaturgeschichtlich bedeutsamer
sind, doch für die Zeitgenossen eine noch ungewohnte Schreibweise
darstellten. Charrons systematische und moral-didaktische Abhandlung
entsprach den Lesegewohnheiten eher als die Aufzeichnungen eines
denkenden Müssiggängers. Im skeptizistischen Menschenbild jedoch
stimmen beide Autoren miteinander überein, mit dem Unterschied
freilich, dass Charron die Menschheit allgemein bessern, Montaigne
zunächst sich selbst als Mensch erkunden wollte.
PS:
Offenbar soll Charrons Werk für Laurence Sterne eine wichtige
Inspirationsquelle zur Darstellung der menschlichen Schwächen seiner
Charaktere gewesen sein.
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