Diese
im Verlag von Erich Reiss erschienene Sammlung von zwanglosen
Betrachtungen und Essays, teilweise in Tagebuch- oder auch in
Briefform, ist eine leicht durchschaubare Herausgeberfiktion.
Interesse verdient vor allem die pseudoeditorische Notiz des
Herausgebers: Sie nimmt gewissermaßen Max Brods Umgang mit Kafkas
ambivalenter Nachlassverfügung vorweg. Kafka bat seinen Freund zwar
darum, sämtliche in seinem Nachlass befindliche Schriften zu
vernichten, hinderte ihn aber nicht an der Lektüre. So sieht sich
auch Fritz Michaelis in der selbst verliehenen Rolle als Herausgeber
vor die Frage gestellt, wie ernst er den letzten Willen des
Kammerdieners Erasmus nehmen soll: „Nach seinem ausdrücklichen
Geheiss sollte ich sowohl sein Tagebuch wie auch alle noch
vorhandenen Betrachtungen vernichten. Da aber bei meinem Freunde
Erasmus die Worte nie restlos Ausdruck seiner Wünsche waren, glaube
ich sein Vertrauen nicht zu missbrauchen, wenn ich hiermit der
Öffentlichkeit vorlege, was ich an beschriebenen Papieren in seinem
Schreibpult gefunden habe.“
Ganz
ähnlich argumentierte damals auch Max Brod. Im Unterschied zu Kafkas
nachgelassenem Werk aber sind die Erasmischen Aufzeichnungen nicht in
den Olymp der Weltliteratur aufgestiegen, sondern müssen als
Gelegenheitsdichtung verbucht werden, die heute gänzlich unbekannt sind und vermutlich schon bei Erscheinen keine allzu hohen Wellen
schlugen. Dazu sind die Prosaminiaturen zu sehr der
Buntschriftstellerei verpflichtet. Auffälligerweise wird in einem
Stück des Büchleins aber gerade ein gegenteiliges Werkideal
vertreten. Es wird dort der Wunsch geäußert, ein Buch zu schreiben,
das „nie Manuskript“ war. Das heißt: ein Buch, dem man die
Anstrengung seiner Entstehung nicht anmerkt, weil es wie ein
organisch gewachsenes Gebilde anmutet. Mit einer Herausgeberfiktion
ist ein solcher Eindruck natürlich schwer zu erreichen: Hier wird ja
vielmehr das lose papierne Potpourri deutlich vor Augen gestellt.
Allerdings ist das Büchlein wiederum auch sehr schön, fast edel
gestaltet mit einer Einbandzeichnung von Szafran und einem luftigen
Satzspiegel, so dass auch die einzelnen Texte dadurch an erlesenem Glanz gewinnen, als hätte man eine Sammlung von Kleinoden vor sich.
Was
die einzelnen Betrachtungen und kleineren Essays neben der rahmenden
Schatulle der buchdruckerischen Gestaltung miteinander verbindet, ist
die Erzählerfigur des Erasmus, der natürlich nicht zufällig so
heißt wie der große Humanist aus Rotterdam. Der Erzähler beruft
sich dabei auf die Worte, wie der Rotterdamer in den
Dunkelmännerbriefen vorgestellt wird: Erasmus est homo pro se
– Erasmus ist ein Mensch für sich. Mit diesem intertextuellen
Hinweis ist die freigeistige Stoßrichtung des Büchleins angezeigt,
die sich allerdings nur sehr milde artikuliert. Und zwar durch die
erzählende bzw. schreibende Dienerfigur, welche die Welt aus einer
subalternen und damit immer schon 'schrägen' Sichtweise betrachtet
und dadurch dem menschlichen Alltag eigenwillige Seitenblicke
abgewinnt. So gefällt sich Erasmus auch als Dialektiker vom Dienst,
der die bestehenden Werte dezent umwertet, wenn er etwa seinen Beruf
zu einer höheren Kunst zu stilisieren versucht: „Wer nicht zum
Kammerdiener geboren ist, kann allenfalls das ABC unserer Kunst
ausüben; im Interesse der Vollkommenheit sei ihm aber zu einem
weniger aristokratischen Berufe geraten.“ Dieser eigentlich
unstandesgemäße Standesstolz, der mit einer Nobilitierung des
Lakais einhergeht, erinnert entfernt an Jakob von Gunten, ebenso
Erasmus' Plan, eine Dienerschule zu eröffnen. Gut möglich, dass
Michaelis den Roman von Walser kannte und sich durch ihn zur Figur
des tagebuchschreibenden Dieners hat inspirieren lassen.
Die
Stücke geben sich wechselnden Ansichten und Lebensweisheiten hin,
mal eher humoristisch, dann wieder mit etwas mehr Tiefgang, und
vermitteln en passant auch ein paar biographische Angaben zur
Dienerfigur Erasmus und seinen Anstellungsverhältnissen. Meistens
kreisen die Briefe und Tagebuchauszüge aber um sich selbst.
Enthalten sind auch zwei Hommagen an Johannes Burckard (1450-1506)
und Fürst Pückler-Muskau (1785-1871), die beide bedeutende
Tagebuch- bzw. Briefschreiber waren. Der vatikanische
Zeremonienmeister Burckard hielt in seinem Liber notarum mit
dokumentarischer Unvoreingenommenheit das Leben am Hof der Päpste
fest, darunter die dekadenten Ausschweifungen eines Cesare Borgia,
weshalb sie auch als chronique scandaleuse der römischen
Kurie gelten. Erasmus lobt die Nüchternheit des Protokollstils:
„Denn er hat hier nur ein Amt und keine Meinung.“ Pückler-Muskau
wiederum hat mit den Briefen eines Verstorbenen seinen
literarischen Ruhm begründet – zumindest zu Lebzeiten, als
zunächst noch Goethe als Verfasser der Briefe vermutet wurde.
Während der Fürst für seine 'Parkomanie', seine fanatische
Gartenbaukunst, noch landläufig bekannt ist, ist es als
Schriftsteller ruhig um ihn geworden. Doch Erasmus hält die
Erinnerung an den Vergessenen in stiller Verehrung hoch, denn er blickt zweifelsohne ein Vorbild im Fürsten, bedenkt er ihn
doch mit dem gleichen Zitat wie auch sich selbst: homo pro se.