Eine jüdische Exilgeschichte als Abenteuer- und Schelmenroman: Ist das
moralisch vertretbar, selbst wenn sie vom Betroffenen selbst erzählt
wird? Aber weshalb soll man sich noch um narrative Angemessenheit und
Gattungsgesetze kümmern, wenn die Welt ohnehin aus den Fugen geraten
ist? So heißt es auch ziemlich zu Beginn schon: „Was anders ist,
das ist, daß ich das
Leben nicht mehr so ernst nehme, seit ich weiß,
daß ich das die Gesetze
aufgehoben sind, die es schützen.“ Zudem handelt es sich um eine
unsentimentale Erzählung, die weder auf Mitleid pocht noch solches
vom Leser einfordert. Der Titel ist eine Anspielung auf Laurence
Sternes Sentimental Journey (1768), die im Deutschland des 18.
Jahrhunderts einen veritablen Gefühlskult hervorgerufen und ein
ganzes Genre der launigen Erzählweise begründet hat (tatsächlich
wurde das engl. sentimental oft mit launig übersetzt).
Von diesem heiter-melancholischen Ton distanziert sich Drach jedoch
explizit und wählt stattdessen eine „unsentimentale“
Erzählweise, die von einem sarkastischen bis defätistischen Humor
getragen ist, der sich mitunter auch gegen das erzählende Ich selbst
richtet. Es weiß, dass er sich auf einer unsentimentalen Reise
befindet, die falls sie überhaupt jemals endet, nur letal enden
kann: „Sofern sie ein Ziel hat, ist es das, wohin ich nicht will,
wohin man einen bringt und wo die Reise nicht mehr weitergeht.“
Geschildert
wird aus der Ich-Perspektive die prekären Lebenumstände im
französischen Exil des österreichischen Juden Peter Kucku (bzw.
Pierre Coucou), der ein leicht dechiffrierbares Alter Ego des Autor
ist (er gibt sich an einer Stelle sogar als Verfasser von Albert
Drachs Großem Protokoll gegen Zwetschkenbaum zu erkennen).
Das Buch ist in drei Teile gegliedert, wobei der letzte fast die
Hälfte des gesamten Umfangs einnimmt und eine für den episodischen
Schelmenromans typische Fülle an Personal und Handlungssequenzen
umfasst, weshalb hier der Inhalt nur sehr raffend wiedergegeben
werden kann. Der erste Teil dreht sich um die Deportation und die
Internierung im Zwischenlager von Rives Altes, aus dem Coucou zusammen
mit anderen Inhaftieren durch eine glückliche Fügung wieder
entlassen wird. Ohnehin versucht Coucou mit allen Mitteln, den Nazis
zu entkommen, auf die er eine ungeheure Wut hat, die sich einmal in
einer fulminanten Hasstirade auf Hitler entlädt, dem „'Mann'
genannten Hämling, der selbst nicht genau weiß,
aus welchem Schleim seine eigene Rasse kommt“. Aus diesem „Zorn“
erwächst ein fast trotziger „Entschluß
zu leben“ und den Faschisten zu entkommen. Zu diesem Zweck lässt
sich Coucou durch eine Schummelei von der französischen Regierung
einen Attest ausstellen, dass er kein Jude sei, indem er das Kürzel
I.K.G. (für Israelische Kultusgemeinde) auf seinem Heimatschein
durch eine Notlüge zur Formel „Im Katholischen Glauben“
uminterpretiert.
Der
zweite Teil spielt mehrheitlich in Nizza, wo sich Coucuo nach seiner
Entlassung aus dem Lager eine gesicherte Existenz verschaffen will
und dabei mit verschiedenen Leuten in Kontakt tritt, um an Geld,
Unterkunft und Essen zu kommen. Er fühlt sich einigermaßen in
Sicherheit, da Nizza von den Italiener besetzt ist, doch dauert es
nicht lange und die Gestapo reißt die Stadt an sich, weshalb Coucou
wieder fliehen muss. Auf Rat einer irren Baronin fährt er mit dem
Autobus in das Gebirgsdorf Caminflour La Commune in den Meeralpen, wo
ihm die englische Familie Withorse („Witzpferd“) als Kontakt
empfohlen wird (ob da eine Anspielung auf das hobby-horse und
den sprunghaften Witz bei Sterne vorliegt, geht nicht eindeutig
hervor). Der dritte Teil ist dem Aufenthalt in diesem Ort gewidmet,
den Coucou mit merkwürdigen Bekanntschaften wie den Withorse oder dem germanophilen Dichter Lebleu verbringt, aber
auch in ständiger Angst, entdeckt zu werden, sowie permanenten
Geldsorgen. Erst als am Ende die Alliierten nicht zuletzt
dank seiner Intervention einfahren, entschärft sich die Lage,
wenngleich sie sich auch nicht normalisiert. Die Gefahr durch die
Nazis weicht jetzt dem schlechten Gewissen, das den Entkommenen als
raunende innere Stimme von Dr. Honigmann begleitet, der mit Coucou
deportiert worden ist, im Unterschied zu ihm aber den Tod in der
Gaskammer fand.
Doch
Fragen der Moral gelten in diesen Zeit nicht, in der Freund und Feind
nicht mehr klar zu trennen sind, in der Juden ihre Mitbrüder
verraten, um sich selbst das Leben zu retten oder gar wie im Falle
des Separatisten Quierke zur Gestapo überlaufen. Letztlich ist
niemandem mehr zu trauen und man ist ganz auf sich alleine gestellt.
Mit dieser morale provisoire ausgestattet, kämpft Coucou um
sein Dasein, ohne falsche Skrupel und Rücksicht auf Verluste. Aus
diesem Grund beschleicht den Protagonisten, so sehr ihn auch der
Entschluss zu leben motiviert hatte, allmählich das Gefühl, dass er
sich von sich selbst entfremdet und längst schon den Toten angehört
(am Schluss nimmt die Verszeile „Die Toten reiten schnell“ aus
Gottfried August Bürgers berühmter Ballade Lenore dieses
Motiv auf). Tatsächlich fristet Coucou weitgehend ein abgestorbenes,
moribundes Dasein, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass er trotz
starker erotomaner Neigungen gerade zu jungen Mädchen nicht mehr zum
Beischlaf fähig ist, obwohl sich mehrfach die Gelegenheit bieten
würde. Ein weiteres auffälliges Defizit ist sein schwaches
Erinnerungsvermögen, weshalb er ständig Personen begegnet, die ihn
sehr gut kennen, er sich auf Anhieb aber kaum an sie erinnern kann,
denn: „Man vergißt viel
auf einer unsentimentalen Reise.“
Drachs
kompromissloser, tiefschwarzer, aber von einer wiederum fast
selbstdestruktiven Frivolität geprägter „Bericht“ (so lautet
die offizielle Gattungsbezeichnung) ist ein absolute
Ausnahmeerscheinung in der Exil- wie in der Romanprosa überhaupt.
Vergleichbar ist die ausufernde erzählerische Wucht eigentlich nur
mit zwei anderen Romanen, die mit derselben humoristischen
Abgeklärtheit gegen die selbsterfahrene Zwangslage im Exil
anschreiben: zum einen Ulrich Bechers Murmeljagd (im
Schweizerischen Graubünden) und Albert Vigoleis Thelens Die Insel
des zweiten Gesichts (auf Mallorca). In allen drei Fällen meldet
sich ein autofiktionaler Ich-Erzähler zu Wort, keck und tolldreist,
der sich trotz widrigster Lebensumständen nicht kleinkriegen lässt,
sondern sich im Gegenteil durch Witz, List und einer gehörigen
Portion wildentschlossener Frechheit gegen das tumbe Gewaltregime zur
Wehr setzt, ohne dabei in eine Heldenpose zu verfallen. Vielmehr
handelt es sich auch bei Pierre Coucou um eine ganz und gar
unheroische, bisweilen sogar tragische Figur, die allein ein wacher Sinn
fürs Absurde vor der restlosen Verzweiflung bewahrt.
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