In
Stimmgänge macht Gerold Späth den Orgelbau, das
traditionsreiche Metier seiner Familie, zum Thema einer gargantuesken
Lebensgeschichte. Noch heute steht die Marke Späth für
Qualitätsorgeln. Im Roman wird sie, nebst zahlreichen anderen, auch
beiläufig, aber an zentraler Stelle erwähnt, nämlich dort, wo in
der Kirche St. Bombast alle Orgelpfeifen in einer wilden Kakophonie
losdröhnen: „Sauer, Seuffert, Silbermann, Slegel, Späth,
Schweimb, Riepp und Gabler haben einander, auf einmal höllisch
aufbrüllend, an der Gurgel und gehen – wie das in dem
Kunsthandwerk üblich ist – alle zusammen wie der Teufel auf den
Hasslocher los“. Das „hornt“ dann nicht nur „wie vor
Jericho“, sondern bringt in der Tat die Kuppel der Kirche zum
Einsturz, so dass der Fuß des genannten Hasslocher unter den
niederfallenden Steinmassen zerquetscht wird.
Dieser
zertrümmerte Fuß setzt nun das ganze Erzählwerk in Gang. Denn
Jakob Hasslocher, der Protagonist und Erzähler, verkürzt sich den
Aufenthalt im Spital mit der Niederschrift seiner Lebensgeschichte.
Adressiert sind seine Aufzeichnungen an Haydée, seine ehemalige
Geliebte und Ehefrau, von ihm mehrmals als „ewiges Mädchen“
apostrophiert, da sie in der Tat eine Art Urweib verkörpert.
Jedenfalls handelt es sich um eine der merkwürdigsten Frauenfiguren
der Weltliteratur: eine wahrhaft männerverschlingende Femme fatale,
die ihre Opfer während des Beischlafs aussaugt und vaginal vertilgt.
Eine menschliche Venusfliegenfalle, die mit jedem einverleibten Opfer
ein noch stärkeres Odeur verströmt, das die Männer reihenweise
anlockt und um den Verstand bringt, Hasslocher nutzt die
unbändige Libido seiner Frau, um daraus Kapital zu schlagen, indem
er ihr auf der gemeinsamen Hochzeitsreise regelmäßig Freier
zuführt, die dann gegen gutes Geld im gierigen Schlund ihres Unterleibs
verschwinden.
Zu
diesem Schritt nötigt ihn das Testament seiner verstorbenen
Großmutter, die ebenfalls ein monströses Urweib war und die halbe
Sippschaft auf dem Gewissen hat. Auch für ihren Enkel hat sie sich
über den Tod hinaus einen bösen Scherz ausgedacht. Gemäß der
testamentarischen Verfügung kann Hasslocher sein Erbe erst antreten,
wenn er eine Million beisammen hat. Immer wieder erscheint ihm die
tote Großmutter und drängt ihn dazu, nicht länger auf der faulen
Haut zu liegen und die Million endlich aufzutreiben. Mit dem
Orgelhandwerk allein ist das kaum zu meistern, auch wenn er davon
träumt, eine Orgel der Superlative zu bauen. Durch ein traumatisches
Ereignis im Wald – Hasslocher gerät mitten in eine unkontrollierte
Schießübung des Militärs – verschlägt es ihm zudem die Sprache.
Seither ist er stumm, was mitunter auch ein unerwünschtes Erbe
seiner Großmutter sein dürfte, die durch ein herrisches „Halt's
Maul“ die anderen zum Schweigen verdammte und so aus Hasslochers
Vater einen „Murmler“ machte.
Unter
diesen Voraussetzungen – mit der toten Großmutter im Nacken, einem
Kropf im Hals und der Vision einer Superorgel vor Augen – schlägt
sich der junge Hasslocher auf seinen Stimmgängen durchs Leben, bis
er schließlich seine eigene Stimme wieder findet und – gefördert
durch den dubiosen Mäzen Jean de Blégrangers – zu einem
renommierten Orgelbauer wird, der die verrücktesten Modelle
entwirft. Ein Anhang zum Buch verzeichnet alle realisierten und
nicht-realisierten Orgelprojekte von Hasslocher. Nur die Sache mit
dem Testament erweist sich letztlich als Jux: die Großmutter hat
ihren Enkel vollkommen vergebens angestachelt, denn ein lohnenswertes
Erbe hat sie gar nicht vorzuweisen. So geht Hasslocher am Ende zwar
leer aus, hat dafür allerhand Abenteuer erlebt. Die „Stimmgänge“
stehen deshalb auch metaphorisch für die zahlreichen, mitunter arg abschweifenden Episoden und Geschichten. Andererseits gibt Hasslocher
auch an, er wolle sein Erzählung wie eine Orgel mit allen möglichen
Ober-, Unter- und Zwischentönen orchestrieren. Das ist eine indirekte Einladung, die Romanarchitektur mit den eingeschalteten
Konstruktionsplänen des komplexen Rudwieser Orgelwerks zu vergleichen. Am Ende liegt mit den Stimmgängen eine papierne Version der von Hasslocher erstrebten Wunderorgel vor.
Jedenfalls stellen die Stimmgänge einen Wälzer von epischem
Ausmass dar, der alle Register zieht. Wie schon der Vorgänger Unschlecht, in dem der
Orgelbauer Jakob Hasslocher als Nebenfigur bereits einen kurzen
Auftritt hat, besticht auch der Zweitling des Autors durch eine
archaische Sprachgewalt, eine derbe Komik und eine funkensprühende
Fabulierfreude. Mitten in der postulierten Krise des Erzählens der
Nachkriegszeit belebte Späth, in der Folge von Günter Grass, die
Literatur mit neobarocken Romanungetümen, die alle Grenzen sprengen
und ihre Herkunft aus der Tradition des Schelmenromans nicht
verleugnen können. Narren und Schelme treten in der Literatur häufig
auf, wenn es gilt der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. So sehen
sich auch Späths naiv-gewiefte Helden wie weiland Simplicissimus einer bigotten
und korrupten Gesellschaft ausgesetzt, der sie aber - zu ihrem eigenen Vorteil - mit List und
Tücke begegnen. Nicht von
ungefähr heißt Hasslocher Jakob mit Vornamen und sollte eigentlich
auf den Namen Simon getauft werden: „Jakob der Listige und Simon
der Erhörte“. Durch List zu Ruhm, so könnte verkürzt der Verlauf
der Stimmgänge zusammengefasst werden.
Neben
barocken Anleihen, beerbt der Roman auch seine modernen
Vorläufer. So sind Kapitelüberschriften wie „Erstes fruchtiges
Kopf- und Hinterstück“ ganz offensichtlich von Jean Pauls Blumen-
und Fruchtstücken aus dem Siebenkäs inspiriert, während die
Stimmgänge insgesamt auf der Folie von Melvilles Moby Dick
komponiert sind. Wie dort das Buch mit dem berühmten Auftakt, den
von einem Hilfsunterbibliothekar zusammengetragenen Exzerpten aus der
gesamten Walfischliteratur, einsetzt, so beginnt auch Späths Roman
mit einer mehrseitigen Reihe von Zitaten zur Orgel. Die Orgel –
insbesondere die Vision einer Wunderorgel – bedeutet für
Hasslocher somit, was der weiße Wal für Kapitän Ahab darstellt:
eine gefährliche Obsession. Ahab und Hasslocher sind Verwandte im
Geiste. Nicht von ungefähr hat ihre Leidenschaft beiden eine
Prothese eingebracht: Der Wal biss Ahab das Bein ab, und der
Orgelklang zertrümmerte Hasslochers Fuß. So bekennt er zum Schluss
auch: „ich habe einen Bockfuss zu verstecken [...] es ist, hier
haben Sie's: meine hasslochische Besessenheit“.
Dass
beiläufig doch noch von einem echten Walfisch in den Stimmgängen
die Rede ist, bildet die heimliche Pointe dieser literarisch
durchtriebenen Tour de force. In einem erzähltechnisch
herausragenden Kapitel, das verschiedene Geräusch- und
Gesprächsebenen polyphon miteinander verfugt und außerdem noch
typographisch mit einer semimimetischen Wiedergabe der Klangstruktur
experimentiert, erzählt ein mitgenommener Tramper und „monströser
Schwätzer“ während der Autofahrt von einem gestrandeten Walfisch,
einem „Monstrum“ und „Riesentier“, dessen Speck er
stückweise verkauft habe, bis das Tier ganz grauenhaft zu stinken
begonnen habe und er den Kadaver in Formalin legen musste. - Das ist nur eine von vielen, scheinbar zusammenhangslosen Episoden, in die der Roman zu zerfallen droht. Doch zum einen besitzen solche Binnengeschichten hintergründig - wie hier mit dem Walfisch - eine symbolische Funktion für die Gesamterzählung; andererseits weisen sie strukturell auch auf die folgenden Werke von Späth voraus wie etwa Commedia oder Sindbandland, die dann zugunsten narrativer Mikrozellen gänzlich auf einen durchgehenden Handlungsbogen verzichten.
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