In
seinem Anstoß Zur Geschichte des menschlichen Herzens erzählt
Christian Friedrich Daniel Schubart die Anekdote zweier ungleicher
Brüder: der eine heißt Carl, ist ein verbummelter, genusssüchtiger
Mensch, weshalb er bei seinem Vater zunächst in Ungnade fällt,
erweist sich dann aber von rechtschaffener Natur, während der andere
Wilhelm, vordergründig ein Musterknabe, sich letztlich als
eigennütziger und ziemlich skrupelloser Kerl entpuppt. Er macht sich
des versuchten Mordes an seinem Vater schuldig, wovor ihn nur durch
Zufall sein verstoßener Sohn retten kann. Schubart leitet seinen
kurzen Bericht der angeblich wahren Begebenheit mit den Worten ein:
„Hier ist ein Geschichtchen, das sich mitten unter uns zugetragen
hat, und ich gebe es einem Genie preis, eine Komödie oder einen
Roman daraus zu machen“.
Das
Genie, das den Stoff dramatisierte, war der damals zwanzigjährige
Friedrich Schiller. Er liess sich davon für sein erstes Stück Die
Räuber inspieren, das 1781 anonym und im Selbstverlag erschienen
ist – und erst später und unter erheblichen, nicht autorisierten
Veränderungen uraufgeführt wurde. Beim publizierten Text handelt es
sich also um ein Lesedrama, das in erster Linie als Buch und nicht
für die Bühne konzipiert wurde. In der Vorrede zur ersten Auflage
schreibt Schiller: „Nun ist es aber nicht sowohl die Masse meines
Schauspiels als vielmehr sein Inhalt, der es von der Bühne
verbannet.“ Inhaltlich stehen die beiden Brüder Karl und Franz
Moor im Zentrum, die aus unterschiedlichen Beweggründen die Gesetze
überschreiten und zu grausamen Verbrechern werden, wobei Franz der
moralisch verworfene Gegentypus zum edlen oder „erhabenen
Verbrecher“ Karl Moor markiert.
Franz,
der zweitgeborene Sohn des Grafen von Moor, fühlt sich gegenüber
dem charismatischen und viel attraktiveren Bruder Karl fürs Leben
benachteiligt, weshalb er gewillt ist, diese naturgegebene
Hintansetzung eigenmächtig aus dem Weg zu räumen, indem er
eine Intrige gegen den Bruder in die Wege leitet. Er lässt seinem
greisen Vater die falsche Nachricht von der Verworfenheit seines
Sohnes Karl zukommen, worauf dieser Karl verflucht und aus Gram über
dessen Lebenswandel dahinsiecht. Tatsächlich will der skrupellose
Franz nichts anderes, als den Tod seines Vaters zu forcieren, um das
Erbe baldmöglichst anzutreten. Er besitzt ein „Gewissen nach der
neuesten Façon“, das wie die Beinschnallen an den Hosen beliebig –
also bis zur absoluten Gewissenlosigkeit – erweitert werden kann
und auch den versuchten Mord nicht ausschließt. Franz ist der ganz große Schurke, der in seiner Verzweiflung letztlich sogar gegen Gott frevelt.
Karl
dagegen agiert nicht weniger grausam, allerdings nicht aus genuiner
Unmoral, sondern aufgrund einer existenziellen Enttäuschung. Wie
Schiller in seiner Selbstbesprechung zum Stück schreibt, steigert
sich bei Karl eine „Privatverbitterung“ in „Universalhaß
gegen das ganze Menschengeschlecht“. Dass ihn sein Vater (aufgrund
des Ränkespiels von Franz) verstößt, veranlasst Karl (da er nichts
von der Intrige weiß und sich den Zorn des Vaters also nicht
erklären kann) impulsiv alle gesellschaftlichen Bande aufzukündigen
und als mordender und brandschatzender Räuberhauptmann in die
böhmischen Wälder zu ziehen. Trotz seiner Untaten verliert Karl
sein Ehrgefühl nicht. Im Unterschied zum niederträchtigen Kumpanen
Spielmann geht es ihm nicht um Spaß an der Sache, vielmehr versteht
er sich als Rächer an einer dekadenten Welt: „Sag ihnen, mein
Handwerk ist Wiedervergeltung – Rache ist mein Gewerbe.“
Karl
wie Franz, so unterschiedlich auch ihre moralische Verfassung
beschaffen ist, sind beides typische Sturm-und-Drang-Figuren, welche
sich von den sozialen Fesseln losreißen und mit allen Kräften ins
Unbedingte vordringen wollen. Nicht zufällig erwähnt Karl gleich zu
Beginn den „Prometheus“, die Galionsfigur des Sturm-und-Drang, um
aber festzustellen, dass der „lohe Lichtfunke“ von ihm heutzutage
ausgebrannt sei, weil die Zivilisation alles Große und Erhabene im
Keim ersticke: „Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was
Adlerflug gewesen wäre.“ Genau so, mit exakter derselben Wortwahl,
fühlt sich auch Franz an die äußeren Umstände gebunden, die er überwinden
will: „Soll sich mein hochfliegender Geist an den Schneckengang der
Materie ketten lassen?“ Beide sind sie Kraftmenschen, welche die
lähmenden gesellschaftlichen Konventionen zugunsten einer absoluten
Freiheit für sich aushebeln wollen. Das Stück zeigt aber, das radikale
Freiheit letztlich nur in neuer Barbarei enden wird.
Schillers
Räuber sind Ausdruck des aufklärerischen Interesses an der
Natur des Verbrechens. Die Vorstellung, dass der Mensch von Natur aus
böse sei, wie es Thomas Hobbes etwa mit seiner Formel von homo
homini lupus noch postuliert hatte, war aus aufklärerischer Sicht,
die von einem humanistischen Ideal ausging, unhaltbar. Entsprechend
richtete man die Aufmerksamkeit auf die sozialen Umstände, unter
denen ein Mensch auf die schiefe Bahn gerät und in die Kriminalität
getrieben wird. Ein ganz ähnliches Anliegen verfolgte Schiller auch
in der fast gleichzeitig entstandenen Erzählung Der Verbrecher
aus verlorene Ehre (1786). In der programmatischen Einleitung
fordert Schiller eine Art Linné'sches System, welches das
Menschengeschlecht „nach Trieben und Neigungen klassifizierte“,
um die innern Beweggründe des menschlichen Handlens besser zu
verstehen: „An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an
seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als
an den Folgen jener Taten.“
Diese
Absicht führt jedoch mit sich, dass man das Laster dem Leser in all
seinen Facetten vor Augen führen, ja nachgerade eine
„Leichenöffnung“ des Lasters veranstalten muss, um das
Entsetzliche verständlich zu machen. Vor diese Herausforderung sieht
sich der junge Dramatiker auch im Schauspiel Die Räuber
gestellt, weshalb er in der Vorrede zum Stück die berechtigte
Befürchtung ausspricht, dass es vom unverständigen „Pöbel“ in
seiner Intention diametral als „Apologie des Lasters“
missverstanden werden könnte, was doch als abschreckendes Beispiel
gedacht sei: „Wer sich den Zweck vorgezeichnet hat, das Laster zu
stürzen und Religion, Moral und bürgerliche Gesetze an ihren
Feinden zu rächen, ein solcher muß
das Laster in seiner nackten Abscheulichkeit enthüllen und in seiner
kolossalischen Größe vor
das Auge der Menschheit stellen“.
Schiller
formuliert darin eine Absicht, die er wenige Jahre später in seinem
Aufsatz Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet
(1784) theoretisch weiter ausführen wird, u.a. unter direkter
Bezugnahme auf sein Stück Die Räuber, das er in einer Reihe
mit Shakespeare und Molière erwähnt, was nicht zuletzt auch ein
Licht auf das keineswegs geringe Selbstverständnis des jungen
Schiller wirft. Wie die genannten Vorgänger so will auch Schiller
den Menschen in all seinen erschreckenden Abgründen auf die Bühne
stellen, um dem Publikum den Spiegel vorzuhalten, damit es die
eigenen Schwächen im Schicksal der tragischen Figuren erkenne. Zwar
räumt Schiller ein, dass ein Franz oder Karl Moor auf der Bühne
faktisch keinen Verbrecher bekehren könne; der Wert des Schauspiels
liege aber darin, dass man mit diesen Abirrungen des menschlichen
Daseins bekannt gemacht werde, um im richtigen Leben davor gewappnet
zu sein. Dem Schrecken auf der Bühne spricht Schiller somit eine
humanisierende Wirkung zu.
Schiller
präsentiert mit den Räubern ein Drama in grellen Farben, mit
drastischen Szenen und liefert mit dem Aufsatz über die
Schaubühne als moralische Anstalt zugleich eine Begründung für
diese Ästhetik des Bösen nach. Interessanterweise geht Schiller –
anders als in heutigen Debatten über den angeblich negativen
Einfluss von Gewaltdarstellungen – in keinem Punkt von der Annahme
aus, dass der Zuschauer zur Imitation angestiftet werden könnte. Im
Gegenteil glaubt Schiller, dass letztlich „Menschlichkeit und
Duldung“ durch „Rührung und Schrecken“ bewirkt werde. Der
„kühne Verbrecher“ dient „zum schauervollen Unterricht“ und
soll im Zuschauer entsprechenden einen „heilsamen Schauer“
hervorrufen, der an die Tugend appelliert. Das ist freilich eine
Überzeugung, die aus dem Optimismus der Aufklärung heraus gedacht
wurde. Dass Schreckens- und Gewaltdarstellungen den Menschen
moralisch bessern, ist wohl ebenso idealistisch, wie die gegenteilige
Vermutung, dass sie ihn verderben, unnötig fatalistisch ist.
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