Kurz
nach 4 ist Bechers Romandebut, nachdem
sein erster Erzählband Männer machen
Fehler (1932) der
nationalsozialistischen Bücherverbrennung zum Opfer fiel und sein
gemeinsam mit Peter Preses verfasstes Theaterstück Der
Bockerer (1946) in der Nachkriegszeit große Erfolge feierte. Die Epoche des Zweiten Weltkrieges und des
nachfolgenden Kalten Krieges bestimmt auch den zeithistorischen
Hintergrund von Kurz nach 4.
Es ist die Geschichte des «Romfahrers» Franz Zborowsky, der sich
nichts anderes als «Ruhe und Frieden» wünscht, sie aber in der
Gaststätte am Borgo Caliban in Piacenza nicht finden kann, weil ihm
bis tief in die Nacht nicht nur die Straßengeräusche den Schlaf
rauben, sondern auch seine unverarbeiteten Kriegserinnerungen, die
durch den nächtlichen Lärm evoziert werden. In cineastisch
gekonnten Schnitten wird das «Zrrrr-wwummmm! Tocketocketocketocke!
Tocketocketocketocke!» der Motorroller mit Detonationslärm und Maschinengewehrsalven (wie in einem Lautgedicht von Ernst Jandl)
überblendet.
Der
angehende Künstler Zborowsky nahm als Leutenant Borrón am
Spanischen Bürgerkrieg teil, wurde gefangen genommen und sollte ins
Schutzhäftlingslager gesteckt werden, renegierte aber unter dem
Namen Boric zu einer südslawischen Partisanengruppe. Nach dem Krieg
kann er verspätet seine Karriere als Akademieprofessor starten und
erlangt als Künstler internationales Renommee. Vor allem ein
«Geheimmotiv» kehrt in seinem Werk immer wieder: «ein Priester,
ein Zeitungsverkäufer und ein wie ein flügelloser Pegasus durch die
Luft sausendes, beflecktes Schaukelpferd». Biographisch verweist die
Szene auf eine traumatische Erfahrung im Spanischen Bürgerkrieg: Ein
Bombenanschlag verursacht bei Zborowsky in eine Gehirnerschütterung,
doch nicht dies ist eigentlich traumatisch, sondern die
Zeitungsnachricht, die er kurz vor dem Einschlag noch zur Kenntnis
nehmen musste, ihre Wahrheit seither aber anzweifelt: Dass seine
Verlobte Lolita Aguirre, deretwegen er überhaupt in den Spanischen
Bürgerkrieg zog, von Falangisten exekutiert worden ist.
Am
Borgo Caliban «kurz nach 4» in der Nacht wird Zborowsky jedoch die unumstößlich schreckliche Wahrheit bewusst, als er von der Strasse
ein Schlurfen und ein Lachparoxysmus – ein «calibanisches
Gelächter» – hört, die ihn an seinen ehemaligen Jugendfreund
Kostja Kuropatkin erinnert, der für ihn fast wie ein Zwillingsbruder
war. «Kuror und Pollax» wurden sie in Anlehnung an Kastor und Pollux
genannt. Der Krieg treibt das Gespann jedoch auseinander, als
Gummifabrikant macht Kostja Geschäfte mit den Nazis, während
Zborowsky in den bewaffneten Widerstand abtaucht. Doch untergründig
war der Riss schon vorher vorhanden: Wie Zborowsky sich in der
Rückerinnerung wieder ins Bewusstsein ruft und ihm durch die
Begegnung einer anderen früheren Geliebten in Parma außerdem deutlich wird, war Kostja rasend eifersüchtig auf den gerade bei
Frauen viel beliebteren Freund. Kostja ist ebenfalls in Lolita
verliebt, wird von ihr jedoch abgewiesen, weshalb er Zborowsky
hinterrücks verleumdet, was Lolita wiederum dazu bewegt, mit ihrem
Vater nach Spanien zu ziehen, wo sie als Kriegsopfer dahingemordet
wurde.
Wie
Zborowsky auf seiner Romfahrt dämmert, hat Kostja, auf dessen
Einladung er nach Rom folgt, seine Verlobte letztlich auf dem
Gewissen. Die Stadt der verfeindeten Zwillingsbrüder Romulus und
Remus deutet darauf hin, dass es bei der Begegnung zu einem
Brudermord kommt. Tatsächlich fantasiert Zborowsky wie er Kostja mit
seiner «Luger» erschießen wird – so wie er es in der
unmittelbaren Nachkriegszeit mit seinem Peiniger Mehlgruber tat, der
ihm als Kriegsgefangener die Nase gebrochen hat. Doch am Ende kommt
es nicht soweit. Der Roman endet mit dem Dementi des bekannten
Sprichworts, dass alle Wege nach Rom führen: «Es führt kein Weg
nach Rom». Es ist also die Geschichte einer gescheiterten respektive
abgebrochenen Romfahrt (und damit eine Inversion historischer
Italienzüge und Bildungsreisen): Als Geschädigter der
«leergeschossenen Generation», wie es in Anlehnung an die Lost Generation rund um Hemingway nach dem Ersten Weltkrieg einmal heißt, ist für Zborowsky jegliche Illusion,
auch an diejenige von Rache, verloren.
Ulrich
Becher ist mit Kurz nach 4 ein genau konzipierter, motivisch
dichter und sprachlich furioser Roman gelungen von zuweilen
grotesk-komischen Zügen, die bereits den Autor der Murmeljagd
(1969) erkennen lassen.
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