Mittwoch, 27. Dezember 2023

Henry James: The Turn of the Screw (1898)

Henry James 'Geistererzählung' von 1898, The Turn of the Screw, wurde unter verschiedenen Titeln ins Deutsche übersetzt: wörtlich als Die Drehung der Schraube, etwas freier als Der letzte Dreh der Schraube bzw. Schraubendrehungen und komplett anders als Die Tortur, Die Teuflischen oder  Das Geheimnis von Bry - benannt nach dem fingierten Londoner Landsitz, wo sich die unheimlichen Begebenheiten abspielen. Der letzte Titel verpasst dabei die zentrale Metapher, welche den Gang der Ereignisse charakterisiert: Wie eine Schraube windet sich die Erzählung dem unerbittlichen Ende zu, gleich einem Flugzeug, das sich in einer letalen Abwärtsspirale befindet und sich dabei ebenfalls schraublinienförmig bewegt.

Im Zentrum der Geschichte stehen zwei "grässlich artige" Kinder - ein Junge namens Miles und ein Mädchen namens Flora. Die widersprüchliche Formulierung ("grässlich artig") hat Programm: Die Kinder sind von einer fast schon ins Unnatürliche kippenden Anmut. Zumindest werden sie von ihrer Gouvernante so geschildert: Sie erscheinen als unschuldige Engel, geben sich im Umgang zuckersüss und allerliebst, doch mehr und mehr nähert sich ihre Erzieherin der Gewissheit, dass sich hinter ihrer einnehmenden Fassade entsetzliche Abgründe verbergen. Alles nur "Verstellung und Trug". Erste Zweifel beginnen, als die namenlose Gouvernante einen Brief von der Schule bekommt, in dem mitgeteilt wird, dass Miles - ohne nähere Angaben der Gründe - von der Schule geflogen ist.

Zunächst ungläubig, weshalb ein dergleichen artiger Knabe vom Unterricht suspendiert wird, stimmen sie die folgenden Ereignisse zunehmend skeptisch und führen sie zur Überzeugung, dass die beiden Kinder mit den Geistern zweier verstorbener Personen in übersinnlichem Kontakt stehen, die früher auf dem Anwesen in Bry wohnten und damals die Kinder bereits verdorben hätten: ihre vormalige Erzieherin Miss Jessel und Peter Quint, der verrufene Freund des Hausherrn, die zusammen ein lasterhaftes, weil unstandesgemässes Verhältnis pflegten, das von den Kindern gedeckt wurde - und offenbar auch postum weiter gedeckt werden soll. Deshalb versuchen die beiden Toten durch dämonische Mächte die Kinder in ihren Bann zu ziehen.

Das jedenfalls ist die These der namenslosen Gouvernante, aus deren Perspektive die Hergänge geschildert werden und die die Geister selbst zu sehen glaubt. Aufgrund einer raffinierten Erzählführung bleibt es in der Schwebe, ob sich der Spuk tatsächlich wie geschildert abspielt und die engelhaften Kinder wahrhaftig eine dämonische Seite verbergen - oder ob nicht alles Hirngespinste der Erzählerin sind, die sich in eine idée fixe verrannte und davon auch die Haushälterin, die sie ins Vertrauen zog, überzeugen konnte. Immerhin reflektiert sie an einer Stelle kurz die Möglichkeit ihrer eigenen "Besessenheit" in der ganzen Angelegenheit, die in einem übersteigertem Kontroll- und Verfolgungswahn zum Ausdruck kommt. Das Verhältnis zu den Kindern kippt zusehends von anfänglicher Entzückung in unverhohlenes Misstrauen.

Am Ende weiss man daher nicht, ob es sich bei dem Bericht bloss um den Rechtfertigungsversuch einer paranoid gewordenen Erzieherin handelt, die sich in eigene Wahngebilde verstrickte und dadurch den Tod ihres Zöglings verschuldete. Als sie in der finalen Szene Miles zur Rede stellt und endlich erfahren will, weshalb er aus der Schule flog, sieht sie den Geist von Peter Quint erneut, triumphiert aber, weil sie glaubt, den Jungen beschützen zu können. In diesem Moment fällt Miles, der sich zu weit aus dem Fenster lehnte, um sich nach Quint umzusehen, vom Sims und dem realen "Abgrund" zu, von dem ihm die Gouvernante im übertragenen Sinn bewahren wollte. Doch ihr Rettungsgriff erweist sich als Todesgriff. Es wird zwar nicht ausgesprochen, doch ist Miles zweifelsohne dabei erstickt. Nach dieser letzten Drehung der Schraube liegt er tot in ihren Armen.

Die unzuverlässige Erzählsituation gewinnt einen zusätzlichen Dreh dadurch, dass der Bericht, der zwar von der Gouvernante stammt, von einem Mann verlesen wird, der ihr früher als Knabe in kindlicher Liebe verfallen war und dem sie später als einziger Person schliesslich ihr Geheimnis anvertraute: in Form eines handgeschriebenen Berichts, der detailgenau die Gespenstergeschichte wiedergibt. Wie das Kindermädchen vormals der Haushälterin ihr Hirngespinst glaubhaft zu vermitteln vermochte, so will sie offensichtlich auch künftige Leserinnen und Leser von ihrer Version der Geschichte überzeugen und über die Deutung der Geschehnisse die letzte Kontrolle behalten.

Standen die Kinder tatsächlich unter dem Bann des Bösen oder wurde der arme Miles durch den Wahn seiner Gouvernante in den Tod getrieben? Ihr Bericht plädiert innerdiegetisch klar für die erste Variante, die Erzählung von Henry James lässt die Frage insgesamt offen. Das Lesefrüchtchen würde jedenfalls folgende Übersetzung des Titels bevorzugen: Das Durchdrehen der Schraube, weil damit schon angedeutet wäre, dass es die 'Schraube' (ugs. für Frau) ist, die durchdreht (ugs. für wahnsinnig werden). Zumindest hat sie sicher eine Schraube locker. Auf Englisch besitzt das Wort screw umgangssprachlich hingegen eine sexuelle Konnotation und meint den Koitus.

Dieser Subtext dürfte bei James tatsächlich angelegt sein, da es sich im Grunde auch um eine Sublimationsgeschichte handelt, die Wahnvorstellungen also auf unerfülltes sexuelles Verlangen zurückzuführen sind. Das Kindermädchen nimmt die Stelle auf Bly überhaupt deshalb an, weil sie dem Zauber des Hausherrn verfallen war, der sie jedoch nur unter der Bedingung anstellte, dass "sie ihn niemals behelligen dürfe". Ihre unterdrückten Gefühle und Triebe projiziert sie fortan auf das angeblich unmoralische Verhältnis zwischen Quint und Miss Jessel, das jedoch als grosses Tabu behandelt, niemals direkt, sondern stets als "Teufelswerk" und "Verderbnis" angesprochen wird. Wie sehr der Bericht gegen den Willen der Erzählerin subkutan durch sexuelle Motive bestimmt ist, zeigt sich an einer Stelle besonders deutlich, als sie schildert, wie Flora mehrfach versucht, einen Ast in das Loch eines anderen Holzstückes zu stecken, sie daran aber "nichts Doppelsinniges" erkennen kann. - Das Lesefrüchtchen hingegen schon. :)

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