Dienstag, 13. Februar 2024

Nikolaj Gogol: Die toten Seelen (1842/1852)

Es ist ein merkwürdiger Handlungsreisender, dieser Pawel Iwanowitsch Tschitschikow: In seiner Troika (seinem Dreigespann) zieht er von Landgut zu Landgut durch die russische Provinz und versucht die Gutsbesitzer davon zu überzeugen, ihm 'tote Seelen' zu einem geringen Preis zu verkaufen oder gar zu schenken. Gemeint sind sogenannte "Revisionsseelen", das heisst alle steuerrelevanten und daher auf der Revisionsliste geführten leibeigenen Bauern der Gutsbesitzer. Da diese Listen bis zur nächsten Revision unverändert gültig bleiben, müssen die Gutsherren auch für inzwischen bereits verstorbene Bauern Kopfsteuern bezahlen. Der listige Tschitschikow will sie deshalb von dieser Steuerlast befreien, indem er ihre toten Seelen vertraglich übernimmt, jedoch nicht aus purem Altruismus, sondern um sich selbst den Anschein eines vermögenden Herren, der über hunderte von Leibeigenen gebietet, zu geben und sich damit die nötige Kreditwürdigkeit zu verschaffen. Denn seit seiner Jugend träumt der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Tschitschikow davon, ein eigenes Landgut zu besitzen.

Ein Grossteil der Romanhandlung besteht darin, Tschitschikow auf seinem Weg von Gutshof zu Gutshof zu folgen, was mit der Zeit repetitiv und daher auch ermüdend wirkt. Das einzige Spannungsmoment liegt in der lange unbeantworteten Frage nach der Motivation Tschitschikows, tote Seelen zu kaufen. Das erfährt der Leser erst zum Schluss des ersten (und einzig vollendeten) Teils, wo der Autor in einer riesigen (und in dieser Dimension wohl einmaligen) Analepse den gesamten Werdegang des Helden nacherzählt, nachdem man ihm bereits quer durch halb Russland gefolgt ist.

Diese Ausgangslage bietet dem Erzähler jedoch die Gelegenheit, der Reihe nach verschiedene Sozialcharaktere vorzuführen und sich in mitunter weit ausholende Exkurse teilweise auch satirischer Art über Land und Leute zu ergehen. Einer dieser Exkurse nutzt der Erzähler auch für eine poetologische Rechtfertigung des gesamten Romanunternehmens, das keine positiven Helden aufweisen kann. Im Gegenteil, Tschitschikow begegnet Antitypen jeglichen Couleurs: Lügnern, Betrügern, Neppern, Prahlköpfen, Geizigen wie Verschwendern - und auch er selbst ist als Hochstaplerfigur keineswegs ein Vorzeigeheld im klassischen Sinn. Auch von den gesellschaftlichen Zuständen schildert der Roman alles andere als ein harmonisches Bild: Nepotismus und Korruption sind an der Tagesordnung, wie auch das Paradestück einer Amtssatire zeigt, wie man sie erst wieder bei Franz Kafka lesen wird, wo die Absurdität, der Leerlauf und nicht zuletzt auch der Filz eines gigantischen Verwaltungsapparats auf die Schippe genommen.

Der Erzähler schätzt jene Schriftsteller glücklich, welche "an allen langweiligen oder gar abstoßenden und in ihrer Erbärmlichkeit kränkenden Charakteren vorübergehen" und sich jene Personen aussuchen könne, "welche die wahre menschliche Würde zur Geltung bringen", um der Leserschaft "das Idealbild des Menschen" vor Augen zu führen. Die anderen Schriftsteller hingegen, die das Wagnis auf sich nehmen, das zu zeigen, was man lieber geflissentlich übersieht, nämlich den "ganzen Leerlauf der kalten, innerliche zerrissenen, alltäglichen Charaktere, die uns auf unserer bitteren und oft öden irdischen Bahn bedrängen", diese Schriftsteller haben einen viel schwierigeren Stand, weil Kritiker nur allzu rasch vom Inhalt auf den Verfasser schliessen. Zweifelsohne zählt sich auch der Gogolsche Erzähler zu dieser unrühmlichen zweiten Sorte, weshalb ihm besonders daran gelegen ist, die Leserschaft in einem längeren Exkurs vom Wert seines Unternehmens zu überzeugen. Dazu wählt er ein optisches Gleichnis: Es sei ebenso ehrenwert, (mit dem Teleskop) die entfernten Gestirne am Himmel vor das Auge zu zaubern, wie (mit dem Mikroskop) die Regungen der unscheinbarsten Wesen sichtbar zu machen.

Die romantische Prägung des Fragment gebliebenen Romans ist noch deutlich in solchen Exkursen des Erzählers erkennbar, mit denen er sich direkt an die Leserschaft wendet oder sein Vorgehen legitimieren will. Nicht wenige Exkurse nutzt er auch, um eben erzählte Episoden ins Allgemeine zu wenden, so dass sie leicht als Allegorie auf russische Zustände zu verstehen sind. Denn das Einsammeln von toten Seelen ist gleichsam nur ein narrativer Vorwand, um ein satirisches Sittengemälde der vielbeschworenen russischen Seele auszubreiten, die sich durch den mikroskopisch-sezierenden Blick des auktorialen Erzählers als nahezu ebenso leer und tot erweist. Besonders deutlich zeigt sich dieser allegorisch Zug in der Schlussapotheose des ersten Teils, wo die Troika Tschitschikows sinnbildlich mit Russland gleichgesetzt wird.

Tatsächlich ist hinter dem vordergründigen Spott und der Satire ein patriotischer, zuweilen sogar reaktionärer Zug vernehmbar, der im zweiten, unvollendeten Teil noch deutlicher zum Ausdruck kommt, wo das Lob von Tradition und Landwirtschaft beschworen und positiv in Stellung gebracht wird gegen den Sittenzerfall in den Städten, die bereits unrettbar von der westlichen Dekadenz eingenommen sind.





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