Die Prager Schriftstellerin Libuše Moníková schrieb zeitlebens auf Deutsch. Im Vergleich zu ihrem eher schmalen Oeuvre nimmt sich der Roman Die Fassade, für den sie den Alfred-Döblin-Preis erhielt, als der umfangreichste aus. Er steht ganz in der Tradition des polyhonen, enzyklopädischen, humorvollen Romans. Die Vorliebe der Autorin für Arno Schmidt oder Jean Paul ist ihm in jeder Zeile anzumerken. Sprachmächtig, fremdwortverliebt, anspielungsreich und mit viel verstecktem und teilweise politisch motiviertem Witz entfaltet sich die Schelmengeschichte rund um ein Künstlerquartett, das im Auftrag des böhmischen Denkmalschutzes die Fassade des Schlosses Litomyšl in der Geburtsstadt Smetanas erneuern muss. Anstatt sich aber an die Renaissance-Vorlage zu halten, gestalten sie die Fresken keineswegs originalgetreu, sondern mit neuen, zuweilen aus der Literatur entliehenen Motiven aus. Zum Beispiel verewigen sie auch Franz Kafkas Prozess auf diese Weise.
Die Palimpsesttechnik gilt auch für die intertextuelle Anlage des Romans. Nicht nur die Schlossfassade überlagert sich mit verschiedenen Versatzstücken aus der böhmischen Kulturgeschichte, auch die Gespräche zwischen den Künstlern und den anderen Figuren kreisen stets um das kulturelle Erbe Tschechiens. Neben Kafka sind es der Romantiker Karel Hynek Mácha, der exzentrische Philosoph Ladislav Klima und der Erfinder des braven Soldaten Schwejk, Jaroslav Hašek, sowie die Komponisten Dvorak und Smetana, die Erwähnung finden. Auch dem Schicksal des Studenten Jan Palach, der sich nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings aus Protest gegen das Sowjetregime selbst verbrannte, gilt die Aufmerksamkeit. Und selbstverständlich darf auch - hier setzt die Autorin augenzwinkernd eine selbstreferentielle Note - die Legende der Libuše, der mythischen Stammmutter Böhmens, nicht fehlen. Der Sage nach führte die Wahrsagerin die Tschechen, die zuvor wie "unverständige Tiere" lebten, in die Zivilisation.Montag, 30. Dezember 2024
Libuše Moníková: Die Fassade (1987)
Jan Orten, einer der Künstler, erhält einen Auftrag in Kyoto. Auf der Reise begleiten ihn zwei seiner Bildhauerfreunde, der gerne herumpöbelnde Podol und der eher melancholische Maltzahn, sowie der junge Endomologe Qvietone und der Historiker Nordanc. Doch werden sie ihre Destination nie erreichen, stattdessen landen sie tief in Sibirien und scheinen auch nicht mehr davon wegzukommen. Zuerst stranden sie in einer Eliteakademie, wo sie mehr oder weniger an der Weiterfahrt gehindert werden, weil sie unter dem Verdacht der Spionage stehen, bis dann ein Hockeyspiel gegen die Wissenschaftler ihr Los entscheidet und wieder ziehen gelassen werden. Nur Qvietone bleibt begeistert zurück. Danach gelangen sie jedoch in eine Purga und verbringen Wochen eingeschneit in der Taiga, werden von Ewenken freundlich aufgenommen und fahren schliesslich mit dem Zug quer durch Sibirien, bis sie wieder - ein von einem Chinesen geschenktes Exemplar des Candide in der Tasche - zuhause ankommen und zur selben Einsicht wie der Held bei Voltaire gelangen: Il faut cultiver son jardin. Ihre Eindrücke und Erlebnisse der sibirischen Odyssee verarbeiten sie in den Fresken der Fassade.
Der Roman besteht aus zwei Teilen und einem kurzen Epilog. Der erste Teil, der in Tschechien spielt, trägt die Überschrift "Böhmische Dörfer", der zweite in Sibirien "Potemkinsche Dörfer". Bei beiden handelt es sich um Redewendungen. Als böhmische Dörfer bezeichnet man unbekannte oder unverständliche Sachverhalte, als potemkinsches Dorf hingegen die Vorspiegelung einer falschen Tatsache, ein Täuschungsmanöver. Das lässt sich lose auf den Inhalt der beiden Teile beziehen: Die eigenwillige Restaurationsarbeit an der Fassade enthält tatsächlich Allegorien, die sich dem Betrachter nicht erschliessen, worüber sich Maler Orten besonders ergötzt, als er sich fragt, ob jemand jemals die Bilder enträtseln werde. In Sibirien wiederum werden die Künstler den Verdacht nicht los, dass die Russen ein falsches Spiel mit ihnen spielen und sie unter falschen Vorwänden so lange festhalten. Bleibt noch die Frage zu klären, was es mit dem kryptischen Untertitel des Romans auf sich hat, der lediglich aus der Folge von fünf mittleren Buchstaben des Alphabets besteht: M.N.O.P.Q. - Das sind die Initialen der Protagonisten Maltzahn, Nordanc, Orten, Podol und Qvietone, die dadurch zu blossen Lettern in der alphabetischen Ordnung des Romans erklärt werden, womit sich dieser ganz postmodern nicht als Abbild der Wirklichkeit, sondern als Sprachgebilde verstanden wissen will.
Ein komplexer, ein dichter, zuweilen auch zäher Roman, dessen Lektüre man sich verdienen muss. Ein Roman der hauptsächlich aus Diskursen und wenig Handlung besteht. Und doch stösst man immer wieder auf unvergleichliche Passagen. Zum Beispiel das bereits erwähnte Hockeyspiel oder als Maltzahn, der ausgerechnet so heisst, eine Zahnplombe gezogen werden muss, weil sich darin ein Radioempfänger befindet, mit dem Maltzahn "ins allsowjetische Rauschen" versinkt. Eine neben der Parodie auf KGB-Spionage geradezu slapstikhafte Szene. Eher derbkomisch ist hingegen der Dialog der vier Künstler, in der sie sich über unterschiedliche Methoden unterhalten, aus Exkrementen Kunst zu formen. Die Ideen reichen von einem Mobile bis zum "Chiaroscuro in der Kloschüssel" und rufen die Merda d'Artista von Piero Manzoni in Erinnerung. So steckt selbst in den entlegensten Gesprächen offen oder versteckte intertextuelle Referenzen, was den Roman zu einem kulturellen Mosaik - oder mit Blick auf den Romantitel vielleicht besser: verschachteltes Fassadenfresko der Nachkriegszeit macht, das aus unzähligen Einzelbildern von Politik über Naturwissenschaft, Kunst und Musik bis zur Popkultur reicht, zu The Doors etwa oder zu Walt Kellys Comicfigur Pogo.
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