Zweimal
England im Titel: das ist programmatisch. Denn zum einen geht es um
eine künstliche Verdoppelung des britischen Königreichs und seiner
Sehenswürdigkeiten, zum anderen handelt es sich bei dem Roman um
eine Nationalsatire. Im Zentrum des Geschehens steht ein geplanter
und schließlich realisierter Freizeitpark auf der Isle of Wight, wo
das kulturelle Erbe Englands mit allen Hilfsmitteln der Kopierkunst
nachgebaut und nachgespielt wird. Eine Art historisches Disneyland
für Touristen, die sich die mühsame Reise zu den
Originalschauplätzen ersparen wollen. Als letzte große Idee vor
seinem Ruhestand setzte sich der megalomane – mit einer exzentrischen Vorliebe
für ausgefallene Hosenträger auftretende – Unternehmer und
Beethoven-Liebhaber Sir Jack Pitman das Vorhaben, das er gleichsam „seine Neunte Symphonie“ nennt, in den Kopf. Um sie in
die Tat umzusetzen, schart er ein illustres Team um sich, dem auch
Martha Cochrane angehört, der eigentlichen Protagonistin des Romans.
Marthas
Geschichte erfährt man gleich zu Beginn im ersten der drei Teile.
Schon als Kind baute sie gerne England in Form eines Puzzles
zusammen, wobei ihr Vater jeweils ein Stück versteckte, um es zur
Freude der Tochter wieder hervorzuzaubern. Doch eines Abends taucht
weder das Puzzlestück noch ihr Vater wieder auf. Erst allmählich
begreift das kleine Mädchen, dass er und ihre Mutter sich getrennt
haben. Während Martha zuerst die Schuld bei sich und dem verlorenen
Stück England sucht, erklärt ihr die Mutter später, dass alle
Männer entweder Schwächlinge oder Schurken sind. Mit dieser
Erkenntnis reift sie zur supertoughen Frau heran und tritt Jahre später
in den Dienst von Sir Jack, um ihm bei der Umsetzung seines
wahnwitzigen Projektes zu unterstützen. In einem koketten
Vorstellungsgespräch gewinnt sie nicht nur die Gunst des Tycoons,
sondern auch das Herz seines zunächst gänzlich unscheinbaren
„Ideenfängers“ Paul.
Der
zweite Teil schildert die Liebesbeziehung zwischen der forschen
Martha und dem ansonsten devoten Paul, die aber bald von Sir Jack
entdeckt und missbilligt wird. Zufällig entdecken die beiden aber
ein pikantes Geheimnis ihres Arbeitgebers und schwören auf Rache.
Sir Jack besitzt eine starke Neigung zur Autonepiophilie. Er besucht
regelmäßig das Etablishement von Auntie May, um dort unter der
liebevollen Behandlung von Hebammen den Säugling bis zum errogenen
Höhepunkt zu mimen. Ausgerechnet der Erfinder der künstlichen Realitätsverdoppelung findet Befriedigung in der Simulation des kleinkindlichen Urzustandes! Dadurch hochgradig erpressbar, muss er die
Leitung des überaus erfolgreichen Freizeiparks an seine beiden
Mitarbeiter abtreten. Doch bald wächst ihnen der Erfolg über den
Kopf. Das Konzept des duplizierten Englands funktioniert so gut, dass
einzelne Angestellte sich mit ihrer historischen Rolle zu
identifizieren beginnen und zwar mit allen schlechten Eigenschaften.
Die Nachahmer werden immer mehr zu Originalen, die man im
beschönigten Abbild gar nicht haben will.
Der
Erfolg treibt auch einen Keil in die Beziehung zwischen Paul und
Martha, die sich überdies zu einem Samuel-Johnson-Double hingezogen
fühlt respektive zum historischen Samuel Johnson, zu dem das
schizophrene Double unterdessen gewandelt hat. Paul
fällt ihr aus Eifersucht in den Rücken, macht wieder gemeinsame
Sache mit seinem Chef Sir Jack, der Martha schließlich fristlos
kündet und von der Insel verbannt. Nach jahrelangem Reisen kehrt sie - im dritten und letzten Teil des Romans - zurück nach Anglia, wie das mittlerweile in einen vorindustriellen Naturzustand
regredierte Old England genannt wird. Der Roman endet also mit einer Dystopie: Das alte England ging an der Konkurrenz des erfolgreichen Inselklons zu Grunde. Der Staat brach zusammen und zerfiel in versplitterte Dorfgemeinschaften, wo sich die Bewohner noch darin gefallen, kulturlose Bauerntrottel zu spielen. Doch bald regt sich auch in diesen
Siedlungen wieder der Wunsch nach Vergangenheit und einem
kulturellen Erbe, das verbindet und die kollektive Identität stärkt.
Martha, die unterdessen eine „alte Jungfer“ geworden ist, initiiert als erste rituelle Gedächtnishandlung ein jährlich
stattfindendes Dorffest, um dieser „Bitte um Erinnerung“
nachzukommen.
Der
Roman umkreist die Frage nach dem Verhältnis von Original und Kopie
in einer Welt, wo das Simulacrum längst die Stelle des vermeintlich
Authentischen eingenommen hat. Ebenso thematisiert er die Echtheit
von Erinnerung, die auch nichts anderes als mehr oder weniger
zuverlässige Rekonstruktionen eines entzogenen Ur-Ereignisses sind.
Das gilt sowohl für die persönliche Gedächtnisleistung der
Protagonistin Martha Cochrane, die mit dem Bonmot eingeführt wird, sie
könne sich nicht an ihre erste Erinnerung erinnern; das gilt aber
ebenso fürs kollektive oder kulturelle Gedächtnis der Nation, das
vom jeweiligen Zeitgeist geformt und entsprechend auch verfremdet
wird: „Bei den meisten Menschen waren die Erinnerungen an die
Geschichte genau so dünkelhaft und zugleich flüchtig wie die an die
eigene Kindheit.“ Und doch ist Erinnerung, worauf im Roman auch
verwiesen wird, ganz entscheidend für die persönliche und
kulturelle Identität. Der Roman führt somit in einer Art
Gedankenexperiment vor, wie die Identität eines Landes (sowie einer
Person) zerfallen kann, wenn die Erinnerung an die eigene
Vergangenheit manipuliert oder ihr gar genommen wird.
Irgenwie
ist das Lesefrüchtchen mit dem Roman trotz allem nicht richtig warm
geworden. Dem Werbeslogan der Weltwoche auf dem hinteren Buchdeckel
kann es jedenfalls nicht bedingungslos zustimmen: „Lesen Sie einen Roman von
Barnes, und Sie wollen alle lesen.“ Die Idee einer künstlich
verdoppelten Nation ist vom Grundgedanken her zwar witzig und hätte
Anlass für eine vertiefte Problematisierung von Erinnerungspolitik und nationaler Mythenbildung geboten, ist in der Ausführung aber zu wenig fokussiert und viel zu
englisch, englisch geraten. Jedenfalls zündet nicht jede Anspielung
auf die britische Geschichte und Mentalität. Hingegen gibt es auch
parodistisch glänzende Passagen, wie wenn der Historiker Dr. Max
über Seiten hinweg den pseudowissenschaftlichen Erweis erbringt, dass es sich bei „Robin Hood und seiner fröhlichen Schar“
um „eine Horde von ... warmen Brüdern“ gehandelt habe. Hier wird
nicht nur ein Nationalmythos gegen den Strich gebürstet, sondern
auch das Argumentarium der gender studies mit hämischer Freude an
die Wand gefahren. Solche Stellen entschädigen das Lesefrüchtchen
wieder für manch harzige Lektürestunde.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen