Montag, 10. April 2017

Julian Barnes: England, England (1999)

Zweimal England im Titel: das ist programmatisch. Denn zum einen geht es um eine künstliche Verdoppelung des britischen Königreichs und seiner Sehenswürdigkeiten, zum anderen handelt es sich bei dem Roman um eine Nationalsatire. Im Zentrum des Geschehens steht ein geplanter und schließlich realisierter Freizeitpark auf der Isle of Wight, wo das kulturelle Erbe Englands mit allen Hilfsmitteln der Kopierkunst nachgebaut und nachgespielt wird. Eine Art historisches Disneyland für Touristen, die sich die mühsame Reise zu den Originalschauplätzen ersparen wollen. Als letzte große Idee vor seinem Ruhestand setzte sich der megalomane – mit einer exzentrischen Vorliebe für ausgefallene Hosenträger auftretende – Unternehmer und Beethoven-Liebhaber Sir Jack Pitman das Vorhaben, das er gleichsam seine Neunte Symphonie nennt, in den Kopf. Um sie in die Tat umzusetzen, schart er ein illustres Team um sich, dem auch Martha Cochrane angehört, der eigentlichen Protagonistin des Romans.

Marthas Geschichte erfährt man gleich zu Beginn im ersten der drei Teile. Schon als Kind baute sie gerne England in Form eines Puzzles zusammen, wobei ihr Vater jeweils ein Stück versteckte, um es zur Freude der Tochter wieder hervorzuzaubern. Doch eines Abends taucht weder das Puzzlestück noch ihr Vater wieder auf. Erst allmählich begreift das kleine Mädchen, dass er und ihre Mutter sich getrennt haben. Während Martha zuerst die Schuld bei sich und dem verlorenen Stück England sucht, erklärt ihr die Mutter später, dass alle Männer entweder Schwächlinge oder Schurken sind. Mit dieser Erkenntnis reift sie zur supertoughen Frau heran und tritt Jahre später in den Dienst von Sir Jack, um ihm bei der Umsetzung seines wahnwitzigen Projektes zu unterstützen. In einem koketten Vorstellungsgespräch gewinnt sie nicht nur die Gunst des Tycoons, sondern auch das Herz seines zunächst gänzlich unscheinbaren „Ideenfängers“ Paul.

Der zweite Teil schildert die Liebesbeziehung zwischen der forschen Martha und dem ansonsten devoten Paul, die aber bald von Sir Jack entdeckt und missbilligt wird. Zufällig entdecken die beiden aber ein pikantes Geheimnis ihres Arbeitgebers und schwören auf Rache. Sir Jack besitzt eine starke Neigung zur Autonepiophilie. Er besucht regelmäßig das Etablishement von Auntie May, um dort unter der liebevollen Behandlung von Hebammen den Säugling bis zum errogenen Höhepunkt zu mimen. Ausgerechnet der Erfinder der künstlichen Realitätsverdoppelung findet Befriedigung in der Simulation des kleinkindlichen Urzustandes! Dadurch hochgradig erpressbar, muss er die Leitung des überaus erfolgreichen Freizeiparks an seine beiden Mitarbeiter abtreten. Doch bald wächst ihnen der Erfolg über den Kopf. Das Konzept des duplizierten Englands funktioniert so gut, dass einzelne Angestellte sich mit ihrer historischen Rolle zu identifizieren beginnen und zwar mit allen schlechten Eigenschaften. Die Nachahmer werden immer mehr zu Originalen, die man im beschönigten Abbild gar nicht haben will.

Der Erfolg treibt auch einen Keil in die Beziehung zwischen Paul und Martha, die sich überdies zu einem Samuel-Johnson-Double hingezogen fühlt respektive zum historischen Samuel Johnson, zu dem das schizophrene Double unterdessen gewandelt hat. Paul fällt ihr aus Eifersucht in den Rücken, macht wieder gemeinsame Sache mit seinem Chef Sir Jack, der Martha schließlich fristlos kündet und von der Insel verbannt. Nach jahrelangem Reisen kehrt sie - im dritten und letzten Teil des Romans - zurück nach Anglia, wie das mittlerweile in einen vorindustriellen Naturzustand regredierte Old England genannt wird. Der Roman endet also mit einer Dystopie: Das alte England ging an der Konkurrenz des erfolgreichen Inselklons zu Grunde. Der Staat brach zusammen und zerfiel in versplitterte Dorfgemeinschaften, wo sich die Bewohner noch darin gefallen, kulturlose Bauerntrottel zu spielen. Doch bald regt sich auch in diesen Siedlungen wieder der Wunsch nach Vergangenheit und einem kulturellen Erbe, das verbindet und die kollektive Identität stärkt. Martha, die unterdessen eine „alte Jungfer“ geworden ist, initiiert als erste rituelle Gedächtnishandlung ein jährlich stattfindendes Dorffest, um dieser „Bitte um Erinnerung“ nachzukommen.

Der Roman umkreist die Frage nach dem Verhältnis von Original und Kopie in einer Welt, wo das Simulacrum längst die Stelle des vermeintlich Authentischen eingenommen hat. Ebenso thematisiert er die Echtheit von Erinnerung, die auch nichts anderes als mehr oder weniger zuverlässige Rekonstruktionen eines entzogenen Ur-Ereignisses sind. Das gilt sowohl für die persönliche Gedächtnisleistung der Protagonistin Martha Cochrane, die mit dem Bonmot eingeführt wird, sie könne sich nicht an ihre erste Erinnerung erinnern; das gilt aber ebenso fürs kollektive oder kulturelle Gedächtnis der Nation, das vom jeweiligen Zeitgeist geformt und entsprechend auch verfremdet wird: „Bei den meisten Menschen waren die Erinnerungen an die Geschichte genau so dünkelhaft und zugleich flüchtig wie die an die eigene Kindheit.“ Und doch ist Erinnerung, worauf im Roman auch verwiesen wird, ganz entscheidend für die persönliche und kulturelle Identität. Der Roman führt somit in einer Art Gedankenexperiment vor, wie die Identität eines Landes (sowie einer Person) zerfallen kann, wenn die Erinnerung an die eigene Vergangenheit manipuliert oder ihr gar genommen wird.

Irgenwie ist das Lesefrüchtchen mit dem Roman trotz allem nicht richtig warm geworden. Dem Werbeslogan der Weltwoche auf dem hinteren Buchdeckel kann es jedenfalls nicht bedingungslos zustimmen: „Lesen Sie einen Roman von Barnes, und Sie wollen alle lesen.“ Die Idee einer künstlich verdoppelten Nation ist vom Grundgedanken her zwar witzig und hätte Anlass für eine vertiefte Problematisierung von Erinnerungspolitik und nationaler Mythenbildung geboten, ist in der Ausführung aber zu wenig fokussiert und viel zu englisch, englisch geraten. Jedenfalls zündet nicht jede Anspielung auf die britische Geschichte und Mentalität. Hingegen gibt es auch parodistisch glänzende Passagen, wie wenn der Historiker Dr. Max über Seiten hinweg den pseudowissenschaftlichen Erweis erbringt, dass es sich bei „Robin Hood und seiner fröhlichen Schar“ um „eine Horde von ... warmen Brüdern“ gehandelt habe. Hier wird nicht nur ein Nationalmythos gegen den Strich gebürstet, sondern auch das Argumentarium der gender studies mit hämischer Freude an die Wand gefahren. Solche Stellen entschädigen das Lesefrüchtchen wieder für manch harzige Lektürestunde.

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