Donnerstag, 28. Mai 2020

Ulrich Becher: Kurz nach 4 (1957)


Kurz nach 4 ist Bechers Romandebut, nachdem sein erster Erzählband Männer machen Fehler (1932) der nationalsozialistischen Bücherverbrennung zum Opfer fiel und sein gemeinsam mit Peter Preses verfasstes Theaterstück Der Bockerer (1946) in der Nachkriegszeit große Erfolge feierte. Die Epoche des Zweiten Weltkrieges und des nachfolgenden Kalten Krieges bestimmt auch den zeithistorischen Hintergrund von Kurz nach 4. Es ist die Geschichte des «Romfahrers» Franz Zborowsky, der sich nichts anderes als «Ruhe und Frieden» wünscht, sie aber in der Gaststätte am Borgo Caliban in Piacenza nicht finden kann, weil ihm bis tief in die Nacht nicht nur die Straßengeräusche den Schlaf rauben, sondern auch seine unverarbeiteten Kriegserinnerungen, die durch den nächtlichen Lärm evoziert werden. In cineastisch gekonnten Schnitten wird das «Zrrrr-wwummmm! Tocketocketocketocke! Tocketocketocketocke!» der Motorroller mit Detonationslärm und Maschinengewehrsalven (wie in einem Lautgedicht von Ernst Jandl) überblendet.

Der angehende Künstler Zborowsky nahm als Leutenant Borrón am Spanischen Bürgerkrieg teil, wurde gefangen genommen und sollte ins Schutzhäftlingslager gesteckt werden, renegierte aber unter dem Namen Boric zu einer südslawischen Partisanengruppe. Nach dem Krieg kann er verspätet seine Karriere als Akademieprofessor starten und erlangt als Künstler internationales Renommee. Vor allem ein «Geheimmotiv» kehrt in seinem Werk immer wieder: «ein Priester, ein Zeitungsverkäufer und ein wie ein flügelloser Pegasus durch die Luft sausendes, beflecktes Schaukelpferd». Biographisch verweist die Szene auf eine traumatische Erfahrung im Spanischen Bürgerkrieg: Ein Bombenanschlag verursacht bei Zborowsky in eine Gehirnerschütterung, doch nicht dies ist eigentlich traumatisch, sondern die Zeitungsnachricht, die er kurz vor dem Einschlag noch zur Kenntnis nehmen musste, ihre Wahrheit seither aber anzweifelt: Dass seine Verlobte Lolita Aguirre, deretwegen er überhaupt in den Spanischen Bürgerkrieg zog, von Falangisten exekutiert worden ist.

Am Borgo Caliban «kurz nach 4» in der Nacht wird Zborowsky jedoch die unumstößlich schreckliche Wahrheit bewusst, als er von der Strasse ein Schlurfen und ein Lachparoxysmus – ein «calibanisches Gelächter» – hört, die ihn an seinen ehemaligen Jugendfreund Kostja Kuropatkin erinnert, der für ihn fast wie ein Zwillingsbruder war. «Kuror und Pollax» wurden sie in Anlehnung an Kastor und Pollux genannt. Der Krieg treibt das Gespann jedoch auseinander, als Gummifabrikant macht Kostja Geschäfte mit den Nazis, während Zborowsky in den bewaffneten Widerstand abtaucht. Doch untergründig war der Riss schon vorher vorhanden: Wie Zborowsky sich in der Rückerinnerung wieder ins Bewusstsein ruft und ihm durch die Begegnung einer anderen früheren Geliebten in Parma außerdem deutlich wird, war Kostja rasend eifersüchtig auf den gerade bei Frauen viel beliebteren Freund. Kostja ist ebenfalls in Lolita verliebt, wird von ihr jedoch abgewiesen, weshalb er Zborowsky hinterrücks verleumdet, was Lolita wiederum dazu bewegt, mit ihrem Vater nach Spanien zu ziehen, wo sie als Kriegsopfer dahingemordet wurde.

Wie Zborowsky auf seiner Romfahrt dämmert, hat Kostja, auf dessen Einladung er nach Rom folgt, seine Verlobte letztlich auf dem Gewissen. Die Stadt der verfeindeten Zwillingsbrüder Romulus und Remus deutet darauf hin, dass es bei der Begegnung zu einem Brudermord kommt. Tatsächlich fantasiert Zborowsky wie er Kostja mit seiner «Luger» erschießen wird – so wie er es in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit seinem Peiniger Mehlgruber tat, der ihm als Kriegsgefangener die Nase gebrochen hat. Doch am Ende kommt es nicht soweit. Der Roman endet mit dem Dementi des bekannten Sprichworts, dass alle Wege nach Rom führen: «Es führt kein Weg nach Rom». Es ist also die Geschichte einer gescheiterten respektive abgebrochenen Romfahrt (und damit eine Inversion historischer Italienzüge und Bildungsreisen): Als Geschädigter der «leergeschossenen Generation», wie es in Anlehnung an die Lost Generation rund um Hemingway nach dem Ersten Weltkrieg einmal heißt, ist für Zborowsky jegliche Illusion, auch an diejenige von Rache, verloren.

Ulrich Becher ist mit Kurz nach 4 ein genau konzipierter, motivisch dichter und sprachlich furioser Roman gelungen von zuweilen grotesk-komischen Zügen, die bereits den Autor der Murmeljagd (1969) erkennen lassen.

Dienstag, 12. Mai 2020

Franz Kafka: Blumfeld ein älterer Junggeselle... (1915)


Wie in Die Verwandlung so tritt auch in dieser fragmentarisch gebliebenen Erzählung Franz Kafkas ein ungewöhnliches, surreales Ereignis in den Alltag ein, das der Protagonist aber mühelos zu akzeptieren scheint. Und dies, obwohl es einmal in der Erzählung heißt, dass Blumfeld «kein Phantast» sei. Blumfeld, so der Name des pedantischen, sauberkeitsliebenden und vereinsamten Beamten in einer Wäschefabrik, entdeckt eines Abends beim Nachhausekommen zwei «komische Bälle» in seiner Wohnung, die alternierend permanent auf und ab hüpfen und nicht von Blumfeld weichen. Stets halten sie sich im Rücken des Junggesellen auf, wie er sich auch dreht und wendet, er kann ihnen nicht entkommen, als handle es sich etwa um seine «Lebensbegleiter».

Ähnlich wie die Verwandlung Gregor Samsas in einen Käfer so sind auch diese Bälle als psychisch ausgelagerten Seins- resp. Bewusstseinszustand aufzufassen. Die Bälle treten just in dem Moment in Blumfelds Leben, als er sich zu wiederholten Malen seiner Einsamkeit bewusst wird und sich überlegt einen Hund anzuschaffen. Tatsächlich fühlt es sich für Blumfeld an, «als hätte er einen kleinen Hund», als die Bälle beim Schlafengehen auf den Teppich unter seinem Bett rollen. Andererseits erinnern sie ihn auch an «Kinder» und stehen damit in Bezug, zu den beiden unnützen Praktikanten, die Blumfeld bei der Arbeit zur Seite gestellt werden und sich wie «Kinder» verhalten.

In den Bällen als treue Begleiter manifestiert sich sowohl der Wunsch nach Gesellschaft wie sie auch ein Stresssymptom darstellen, ausgelöst durch den unmäßigen Betreuungsaufwand, den Blumfeld seine beiden Praktikanten bereiten. Jedenfalls ist es ihm unangenehm, mit den Bällen gesehen zu werden, er schämt sich für ihre Anhänglichkeit und versucht sie loszuwerden, indem er sie in einen Schrank sperrt und dem zurückgebliebenen Nachbarjungen die Schlüssel übergibt, um die Bälle zu holen, während er zur Arbeit geht. Ob dieses Manöver gelingt, bleibt ebenso so offen, wie was es genau mit den Bällen auf sich hat.

Indem Blumfeld die Existenz der Bälle schlichtweg akzeptiert anstatt sie zu hinterfragen, gelangt er nicht zu einer tieferen Selbsterkenntnis. Die Bälle bleiben Symptom, ohne Diagnose. Nur einmal kurz fühlt sich Blumfeld durch den «leeren Blick» des Nachbarjungen dazu verleitet, sich preiszugeben: «Ein solcher leerer Blick macht einen wehrlos. Er könnte einen dazu verführen, mehr zu sagen, als man will, nur damit man diese Leere mit Verstand fülle.» In gewisser Hinsicht steht diese Leere auch für die Leere in Blumfelds Leben, das allerdings weniger mit Verstand, sondern mit Unverstand in Gestalt sinnloser Bälle gefüllt wird, die ihm zuerst «Spass» bereiten, ihn aber zusehends auch ärgern und lästig werden.

Sonntag, 26. April 2020

Philip Kerr: Das Wittgenstein-Programm (1992)


Das Lesefrüchtchen gibt zu, dass es sich vom Titel der deutschen Übersetzung dieses Thrillers hat verleiten lassen, der im gewissen Mass eine Irreführung ist. Das englische Original heißt schlicht «A philosophical Investigation» und handelt auch nicht von einem Wittgenstein-, sondern von einem Lombroso-Programm, benannt nach dem italienischen Arzt und Psychiater Cesare Lombrso, der im 19. Jahrhundert kriminalpathologische Studien anstellte, um angeborene Verbrecher (delinquente nato) zu erkennen. Auf krimineller Früherkennung basiert auch das Lombroso-Programm des im Jahr 2013 spieldenden Thrillers. Die Handlung wurde also zwanzig Jahre in die Zukunft versetzt, wo es (à la Minority Report) medizinisch möglich ist, Männer mit potentiellem Gewaltpotential zu identifizieren und Präventivmassnahmen einzuleiten. Ihre Daten werden in einem Computersystem verwaltet, das jeder Person einen Decknamen aus der Philosophie- oder Literaturgeschichte gibt.

Eine davon bekam den Namen von Ludwig Wittgenstein, der - wie sich herausstellen wird – nicht nur ein besonderes Mass an krimineller Energie, sondern auch an technischem Know-how und kaltblütiger Logik besitzt. Wittgenstein gelingt es, das Computersystem zu hacken und an die echten Namen der Lombroso-Verdächtigen zu kommen, die er der Reihe nach – durch sechs gezielte Schüsse mit einer Luftdruckpistole in den Hinterkopf des Opfers – hinrichtet. So hat Wittgenstein u.a. Darwin, Byron, Kant, Thomas von Aquin, Spinoza, Keats, Locke, Charles Dickens, Betrand Russell und René Descartes auf dem Gewissen (nur bei Shakespeare gelingt es nicht, von diesem wird er verkloppt). Außerdem führt der Mörder eine Art Tagebuch, indem er – wie der historische Wittgenstein – zwei Hefte, ein blaues und ein braunes, verwendet. Ohnehin erscheint der Mörder nachgerade als Double des Philosophen, mit dem er nicht nur etliche körperliche und biographische Ähnlichkeiten teilt, sondern darüber hinaus aus Versatzstücken von Wittgensteins Werken ein logisch-philosophische Begründung seiner Taten entwickelt.

Einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhundert als Mörder? Eigentlich eine reizvolle Ausgangslage. Nur ist die Umsetzung in diesem Fall gar nicht gelungen, was nicht nur (aber auch) an der ziemlich miesen Übersetzung liegt. Allein dass der Roman, der ein beeindruckendes und aus heutiger Sicht auch ziemlich realitätsnahes Zukunftsbild entwirft, im Basisplot mit einer absurden Unwahrscheinlichkeit aufwartet, ist nur ärgerlich und stört das Lesevergnügen empfindlich: Es leuchtet partout nicht ein, weshalb ein willkürlich vom Computersystem als Wittgenstein benannter Kerl tatsächlich ein Wiedergänger des berühmten Philosophen sein soll. Das ist ein zu großer Zufall, als dass irgendwie glaubhaft wäre und er wird auch in keinster Weise glaubhaft gemacht. Das ist die große Schwachstelle der Plotkonstruktion, die dummerweise zugleich der zentrale Drehpunkt ist.

Auch sonst besitzt die Geschichte ihre Schwächen und Längen. Die philosophischen Ausführungen und der philosophische Disput, den Wittgenstein mit der Ermittlerin führt, sind nicht wirklich herausfordernd oder kühn, eher langweilig, auch wenn Thomas de Quincey und seine Gesellschaft der Connoisseure des Mords mit ihrem Interesse am perfekten Mord bemüht wird. Die Kommissarin bleibt als Gegenspielerin ihrerseits blass. Fast schon klischeehaft ist es, wie sie im Verlauf der Ermittlungen immer stärkere Faszination für den Mörder empfindet (dessen Ödipus-Komplex strukturell mit ihrem Vater- und Männerhass korrespondiert). Die Idee, dass hier eine junge, traumatisierte Detektivin in ein gefährliches Double-Bind mit einem intellektuell überlegenen Verbrecher gerät, ist allzu deutlich auf der Folie von Thomas Harris' Schweigen der Lämmer entworfen. Das Klischee kippt schließlich in puren Kitsch, wenn die Ermittlerin am Schluss echte Sympathie für Wittgenstein empfindet und ihm sogar eine Blume in die Strafanstalt vorbei bringt, bevor er dort für zwanzig Jahre ins «Strafkoma» versetzt wird, welches im Jahr 2013 als angeblich humaneres Strafmaß die Todesstrafe abgelöst hat.

Trotzdem hat der Roman den deutschen Krimipreis von 1995 gewonnen. Wie beim Wein sind wohl auch dort nicht alle Jahrgänge gleich gut.

Montag, 20. April 2020

Machado de Assis: Der Irrenarzt (1881)


Der brasilianische Nationaldichter Machado de Assis hat über 170 (teilweise ganz kurze) Erzählungen geschrieben. Darunter gilt die längere Novelle Der Irrenarzt als ein besonderes Glanzstück. Sie handelt von Dr. Simão Bacamarte, einem Arzt und Wissenschaftler, der sich auf dem zerebralpathologischen „Gebiet der Psyche“ einen Namen machen will. Zu diesem Zweck lässt er in seinem Heimatstädtchen Itaguaí ein Irrenhaus (genannt das Grüne Haus) bauen, in dem er alle Wahnsinnigen internieren will, um sie zu studieren. Eine Idee, die bei den Einwohnern bloß Kopfschütteln hervorruft und sie an der mentalen Gesundheit des Arztes zweifeln lässt: «Schon der Einfall, die Geisteskranken alle zusammen in einem Haus unterbringen zu wollen, wurde als Anzeichen von Geistesgestörtheit angesehen». Diese schon früh in der Erzählung geäußerte Vermutung über den zweifelhaften Geisteszustandes des Irrenarztes ist dann tatsächlich die Pointe der ganzen Geschichte.

Doch bevor es zu dieser (Selbst-)Erkenntnis kommt, sperrt Bacamarte der Reihe nach alle Einwohner ins Grüne Haus, die bei ihm den Eindruck von Geistesgestörtheit hinterlassen. Und das sind nicht wenige. Denn die leitende Theorie des Arztes bestimmt die Vernunft als «das vollkommenste Gleichgewicht aller Fähigkeiten»; alles was dem widerspricht, deutet auf Wahnsinn hin. Nur die kleinste Inkonsequenz in der Handlung, die kleinste emotionale Laune reicht deshalb schon, die Betroffenen als wahnsinnig zu erklären und wegzusperren, bis am Ende «vier Fünftel der Bevölkerung» im Grünen Haus interniert ist, das deshalb auch ständig erweitert werden muss. Angesichts dieses Missverhältnisses gelangt der Arzt zu einer diametral anderen Einsicht: Geistig krank ist offenbar, wessen Geisteskräfte stets im Einklang sind, während es als völlig normal zu erachten ist, wenn «verschiedene geistige Fähigkeiten nicht vollkommen ausgeglichen sind».

Neu bevölkern das Irrenhaus, das mehr und mehr zu einer verkehrten Welt wird, folgende Klassen von Geisteskranken: die Bescheidenen, die Toleranten, die Großmütigen, die Scharfsinnigen und die Aufrichtigen – kurz alle, die sich durch eine vollkommenen seelische Ausgeglichenheit auszeichnen. Bacamarte bemüht sich jedoch ernsthaft, die Patienten zu kurieren, wobei die Therapie vorsieht, sie von ihren guten Eigenschaften zu befreien. Dem Bescheidenen wird die Eitelkeit entlockt, der Aufrichtige zum Lügen gebracht usw. usf., bis alle Insassen geheilt sind. Diese Leistung führt Bacamarte schließlich zur finalen Erkenntnis, «zu der allerletzten Wahrheit», dass es keine Geisteskranken in Itaguaí gebe, weil alle irgendeinen Fehler haben. Außer bei sich kann der Irrenarzt keinen Fehler, kein einziges Laster feststellen, was ihm von seinem Umfeld auch bestätigt wird und ihn schließlich zur konsequenten Einsicht führt, dass er offenbar selbst wahnsinnig sein muss.

Er begibt sich deshalb freiwillig ins Grüne Haus, als einziges Exemplum seiner Theorie. Was also alle geahnt haben, hat Bacamarte letztlich selber erkannt: Er ist kein Irrenarzt, sondern ein irrer Arzt. Seine Selbsterkenntnis ist jedoch trügerisch, denn sie kommt nicht durch eine vernünftige Diagnose, sondern durch eine verquere Theorie zustande, welche die geistige Ausgeglichenheit gerade zum Wahnsinn erklärt. Einerseits hält sich Bacamarte also für geistig völlig gesund, was für ihn aber ein pathologischer Zustand darstellt, weshalb er sich selbst ins Irrenhaus bringt, was für die geistig Gesunden nichts anderes als eine Wahnsinnstat erscheinen muss. So macht ihn eigentlich erst dieser von außen unverständliche Schritt, sein freiwilliger Eintritt ins Grüne Haus, offiziell zum Irren. Hier zeigt sich die subtile Konstruktion von Machados Erzählung, die mehrfach dreht und wendet, was als normal und was als verrückt zu gelten hat.

Typisch für Machado de Assis ist der nüchterne, fast spröde Stil, wie ihn später auch die Prosa von Jorge Luis Borges auszeichnet. Im Kontrast zur Absurdität der Geschichte schafft diese nüchterne Erzählhaltung eine gewisse Komik. Etwa wenn Bacamarte durchwegs als bedeutendster Arzt Brasiliens vorgestellt wird, obwohl ihn die Handlung fortlaufend als weltfremden Mad Scientist vorführt, der aufgrund seiner obsessiven Beschäftigung mit der Zerebralpathologie selbst wahnsinnig wird. Zwischen den Zeilen zeigt sich zudem eine trockene Ironie, die nicht ohne spöttischen Unterton auskommt: «Eine Perücke bedeckte den gewaltigen noblen Kahlkopf, den er in langjähriger wissenschaftlicher Denkarbeit erworben hatte.»

Dienstag, 14. April 2020

Kenneth Patchen: Erinnerungen eines schüchternen Pornographen (1945)


Es gibt Bücher, von denen weiß man, bevor man sie liest, dass sie zum Kreis der Lieblingsbücher gehören werden. Man wird beim Lesen von keiner Zeile enttäuscht werden. Bei Kenneth Patchen war das so, dessen schräger Roman am Ende des Zweiten Weltkriegs erschienen ist. Hitler wird darin zweimal eher spöttisch erwähnt, ansonsten spielt der zeitgeschichtliche Hintergrund kaum eine Rolle. Auch handelt es sich, anders als der Titel vermuten lassen könnte, nicht um einen pornographischen Roman, sondern um eine ziemliche skurrile (Liebes-)Geschichte, die streckenweise eine absurde Komik entwickelt, wie man sie aus Blödelstreifen wie Naked Gun kennt.

Die Komik liegt jedoch nicht nur in der Skurrilität, sondern in der Erzählperspektive, die aus der Sicht des Protagonisten Albert Budd erfolgt, der ein sehr naiver junger Mann ist und vieles nicht wirklich versteht, was um ihn vor sich geht – und deshalb vollkommen unwissend zum Porno-Schriftsteller wird, als er sein Buchmanuskript zwei dubiosen Agenten übergibt, die es unter anderem Titel als pornographischen Roman verkaufen, indem sie zahlreiche Auslassungspunkte und Ausrufezeichen setzen, hinter denen die Leser anzügliche Stellen vermuten. Solche schein-zensierten Stellen finden sich über einige Seiten auch im Roman selber, als Albert bei einer Cocktail-Party von weiblichen Fans im Schlafzimmer verführt wird. Es handelt sich dabei auch um eine Parodie auf die amerikanische Prüderie und deren Zensurwesen.

Die komische Naivität von Albert, der seltsam lebensfremd agiert, kommt bei einem Dialog auf der Party gut zum Ausdruck:

Was tun Sie denn so?“ fragte mich die junge Dame.
Ich versuchte verzweifelt, mich daran zu erinnern, wie Mein Agent das Buch genannt hatte. Das Wort stand nicht in meinem Lexikon – ein ziemliches langes . . .
Dann fiel es mir ein.
Ich schreibe Pornographie.“

Doch Albert ist nicht nur naiv, er besitzt eine Phantasietätigkeit und ein genuiner Glaube, der nicht gerade Berge versetzen, aber doch Rehböcke hervorzaubern und seine verkrüppelte Freundin wieder zum Gehen bringen kann. Die Liebesgeschichte zwischen Albert und der an den Rollstuhl gefesselte Priscilla markiert ein Gegengewicht zur den ansonsten ziemlich durchgeknallten Ereignissen. Es gibt einige sehr berührende Szenen, etwa diejenige, wo sich beide vor einem heftigen Regenguss in eine Höhle flüchten und ihre Kleider über dem Feuer trocknen. Aber auch hier zeigt sich in doppeltem Wortsinn die Unschuld und Naivität Budds, der die Avancen seiner Freundin zwar alle registriert, aber nicht darauf reagiert.

Die Liebe findet schließlich ihre Erfüllung im Himmel. Beide sterben und verbringen als Engel in alle Ewigkeit „einen glücklichen Tod“. Dieser Schluss knüpft an ein philosophisches Gespräch zwischen Priscilla und Albert an, der die Ansicht äußert, dass der Mensch zu unrecht daran glaube, dass „zuerst das Leben und dann das Totsein“ komme. Viel logischer scheint ihm der Glaube, „daß am Anfang der Tod steht – und daß wir dann zum Leben erwachen“. Der Schluss des Romans widerlegt dieser Auffassung zugleich und gibt ihr doch Recht, indem das Paar zwar tot ist, aber als Engel doch weiterlebt. Das wirft die Frage auf, ob das Dasein auf Erden bloß ein Sterben für ein späteres ewiges Leben ist.

Neben dieser philosophischen Sequenz enthält das Buch zudem ein flammendes pazifistisches Plädoyer, das zwar Albert in den Mund gelegt wird, wohl aber Patchens eigene Ansichten wiedergibt. Patchen, der ein wichtiger Anreger der Beat-Bewegung war und mit Lawrence Ferlinghetti und Allen Ginsberg zu den „Rebel Poets“ zählte, neigte politisch zum Pazifismus und Anarchismus. Erfüllt vom Zorn der Gerechtigkeit spricht sich Albert deutlich gegen jede Form von Habgier und Gewalt aus: „Es gibt kein Brot außer dem Brot, das deinen geringsten Nächsten nährt, keinen Besitz außer dem Besitz, den du mit ihm teilst, keine Heimstatt außer der Heimstatt, deren Türen sich freudig öffnen. Kriege und von Kriegen hinterlassene Pestbeulen werden fortbestehen, bis die Menschheit sich von dem Mord abwendet, der jeden Tag von jedermann verübt wird.“ Solche Sätze dürften noch unmittelbar unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs geschrieben worden sein.

Daneben besticht der Roman durch eine Reihe verrückter Einfälle, z.B. die Erfindung einer Maschine, die auf Knopfdruck Bücher und gleich auch die dazu gehörigen Rezensionen erfasst, oder eine Liste von essentiellen Jazz-Stücken, von denen aber die Hälfte frei erfunden ist und die so verheißungsvolle Namen tragen wie „Lazy Daddy, Dat Street Car's Comin' 'Long von Big Rabbit Garys Plantation Boys“ oder „Evil Turkey Blues von Midge St. Elglade's Happy Brass Deceivers“. Im Internet-Zeitalter lassen sich solche Hoaxes rasch entlarven; beim Erscheinen des Buchs dürfte aber so mancher Jazz-Fan seinen lokalen Plattenhändler zur Verzweiflung getrieben haben, als er sich nach diesen Nonsens-Bands erkundigte – umso mehr als Patchen im Roman direkt dazu auffordert: „Das hier sind die Disks, die Sie kaufen müssen, wenn Sie den Grundstein zu einer Jazzsammlung legen wollen [...] schreiben Sie auf.“

Sonntag, 12. April 2020

Walter Vogt: Der Vogel auf dem Tisch (1968)


Der Kurzroman handelt davon wie der Buchhandlungsgehilfen Johannes Lips in den Wahnsinn schlittert. Lips wird als Figur am Rande der Zeit und Gesellschaft vorgeführt, der sich vor allem mit Büchern umgibt, weshalb er von verschiedenen Seiten gemahnt wird, es mit dem Lesen nicht zu übertreiben. Es gab einmal einen Junker aus La Mancha, der ebenfalls durch übermäßiges Lesen den Verstand verloren hat. Tatsächlich ist Lips aber nachgerade eine papierne Existenz: ein Buch in Person, das aus lauter Zitaten besteht.

Da er sich ganz in seiner Gedankenwelt verliert, fühlt er sich länger je mehr von seinen „Gedankenvögeln“ bedroht. Vogt spielt an verschiedenen Stellen mit der umgangssprachlichen Redewendung „einen Vogel haben“ für den Zustand der Verrücktheit. Lips besitzt aber tatsächlich einen echten ausgestopften Vogel, der auf seinem Schreibtisch steht und ihn mit seinen Glasaugen anstarrt. (Und offenbar auch Schuldgefühle weckt, weil er dem Vogel früher mit seinen Schulkameraden den Kopf umgedreht hat.) Sinnigerweise handelt es sich um einen Seidenschwanz, der auch als „Sterbevogel“ bekannt sei: „Wer ihn sieht, muß sterben.“

Dieser Vogel kündet als steinerner Gast gewissermaßen bereits Lips Schicksal an, der sich von allen Vögeln des Naturhistorischen Museum verfolgt fühlend in der Aare ertränken will, aber gerettet wird und im Glauben, er sei der heilige Franziskus, ins Irrenhaus kommt, wo er nach einer Elektroschocktherapie - „vrdammggfäärlich – abrvrdammt humaan“ - wieder entlassen wird, sich darauf aber in der Dusche entleibt. Auch dieser Ort ist symbolisch, weil Lips unter einem permanenten Waschzwang leidet.

Schauplatz ist Bern, weshalb zahlreiche Einsprengsel in Dialekt vorkommen. Obwohl es sich um eine Erzählung mit tragischem Ende handelt, bleibt der Tonfall eher humoristisch bis grotesk. Zudem wechselt die Erzählstimme von einer auktorialen in eine Ich-Perspektive, womit vermutlich die schizoide Spaltung narrativ verdeutlicht werden soll. Auch temporal vollzieht die Erzählung eine Schlaufe, insofern der Rutsch in den Wahnsinn als Binnengeschichte erzählt wird, gerahmt vom Irrenhaus-Aufenthalt. Vielleicht handelt es sich auch nur um eine Rückerinnerung, des erzählenden Ich.

Speziell hervorzuheben ist außerdem die doppelte Mise-en-abyme, als Lips in der Auslage seiner Buchhandlung ein Buch mit demselben Titel „Ein Vogel auf dem Tisch“ im selben Verlag (Lukianos Verlag von Hans Erpf) und derselben Geschichte entdeckt und die Verkäuferin zudem exakt die Stelle im Buch lobt, die davon handelt, wie Lips das Buch über sich selbst entdeckt.

Montag, 22. Oktober 2018

Jörg Schröder (erzählt Ernst Herhaus): Siegfried (1972)


Bei Schöffling erscheint diesen Bücherherbst die Neuauflage eines Skandalbuchs, eines Skandalbuch-Klassikers sogar. Es ist – für den Verlag ungewöhnlich – knallgelb und mit fetten Lettern versehen wie man sie nur vom März-Verlag kennt. Denn es handelt sich um das Buch des März-Verlegers Jörg Schröder, mit dem er im Alter von 34 Jahren so ziemlich mit allen abrechnete, die ihm bislang über den Weg gekommen sind. Und das sind gerade im Kulturbereich nicht wenige, ging Schröder doch bei Kiepenheuer & Witsch in die Lehre, sanierte den maroden Melzer-Verlag, indem er Maurice Girodias Olympia Press an Land zog und mit Der Geschichte der O. einen großen Porno-Markterfolg verbuchen konnte, bis er sich schließlich von Melzer trennte und seinen eigenen März-Verlag gründete, der ein Gütesiegel für harte amerikanische Avantgarde und allerhand queere und schwule Literatur wurde, lange bevor das die universitären Orchideenfächer auch nur am Rande interessiert hätte.

Schröder ist ein cooler Hund und das spielt er in jeder Sekunde dieser Nacherzählung seines Lebens aus. Er hat stets den richtigen Riecher, den Durchblick, die wahre Intuition, während alle anderen um ihn herum Waschlappen und denkfaule Säcke oder einfach bereits von Betrieb verschleißte Figuren sind. Und auf Rang und Autorität pfeift er sowieso. Sein Credo: „Du kommst nur weiter, wenn du es systematisch mit Leuten verdirbst, von denen alle Welt glaubt, daß man es mit ihnen niemals verderben dürfte.“ Schröder ist zudem ein unverwüstlicher Kerl. Im gesamten Buch ist so viel von „Bumsen“, vom „Puff“ und vom „Saufen“ die Rede, dass man bass erstaunt ist, wie er scheinbar nebenher ein erstklassiges Verlagsprogramm auf die Beine stellen konnte. Aber Schröder ist eben immer auf Achse, selbst wenn er im Suff versinkt oder im Spital liegt, wo ihm beinahe ein Bein amputiert werden muss. Noch in dieser prekären Situation schmeißt er den Laden aus dem Krankenlager.

Neben dem mitunter etwas anstrengenden Großsprechertum besticht das Buch durch eine schonungslose Selbstentblößung. So gut wie Schröder gegen alle Seiten austeilen kann, so nimmt er auch sich betreffend kein Blatt vor den Mund. Keine Peinlichkeit oder Intimität lässt er aus, nur dass sie aus seinem Mund keineswegs wie Peinlichkeiten klingen, sondern eben auch Ausdruck des mit allen Wasser gewaschenen Lebemannes sind, der sich keiner falschen Scham bewusst ist. Ein harter Kerl halt, der dem Leben mehr als nur einmal die Stirn geboten hat. Dass Schröder erzählen kann, was er will, ohne dass es peinlich wirkt, liegt neben seinem Habitus auch an seinem brillanten Erzähltalent, seiner pointenreichen und oft auch derben Sprache, mit der er die Dinge beim Namen nennt. Hinzu kommt – neben einem offensichtlich ausgeprägten Selbstbewusstsein – auch eine starke analytische Fähigkeit und ein beneidenswertes Gedächtnis.

Vermutlich gehört es zur hypertrophen Rhetorik dazu, dass Schröder alles aus dem Gedächtnis (an den Schriftsteller Ernst Herhaus) erzählt, denn damit beweist er einmal mehr, dass ihm niemand das Wasser reichen kann. Jedes Detail, alle Zusammenhänge und Befindlichkeiten sind Schröder noch präsent und er versteht es, diese mit einem unbestechlichen Blick einzufangen und einem psychologisch feinem Gespür für situations- oder milieubedingte Faktoren. Es gibt keinen Charakter, den er nicht erbarungslos in seinen individuellen und sozialen Verstrickungen erkennen kann. Zum Beispiel den Standesdünkel des Verlegers Melzer: „Wie die meisten bürgerlichen Juden hatte auch Melzer einen Adelstic, da schmolzen ihm die Eier ab.“ – Hier paart sich grobe Diktion mit einer messerscharfen Beobachtungsgabe.

Siegfried – benannt nach Schröders Onkel – bietet großartige Unterhaltung (man ist mit Schröder immer auf der Seite des lachenden Siegers: insofern ist der Buchtitel sicher auch allegorisch zu lesen) und vor allem ein spannendes Stück Verlagsgeschichte, natürlich aus einer radikal subjektiven Perspektive, die in den wenigsten Fällen für bare Münze genommen werden darf. Das Buch neigt zum Literarischen, wie Schröder auch an einer Stelle erwähnt, dass er anfänglich selber Schriftsteller werden wollte. Darüber kann auch die Koketterie mit der Oral History nicht hinwegtäuschen, derzufolge das Buch mündlich Ernst Herhaus erzählt wurde, der dann alles niedergeschrieben habe. Was auf den ersten Blick wohl als Authentitzitätssignal fungieren soll, kann genauso gut als Herausgeberfiktion gewertet werden.