Samstag, 20. Oktober 2018

Luigi Malerba: König Ohneschuh (1997)


Dieser späte Roman des italienischen Neoavangaurdista Luigi Malerba erzählt Odysseus Rückkehr aus Ithaka alternierend aus der Perspektive Odysseus und seiner Gemahlin Penelope, die zwanzig Jahre auf diesen Moment wartete, während sie die Freier, die es auf Odysseus Thron abgesehen hatten, in Schach halten musste, indem sie – wie es im Mythos heißt – bei Nacht wieder auftrennte, was sie bei Tag wob. Sie gab vor, erst das Totentuch für ihren Schwiegervater Laertes weben zu müssen, bevor sie eine neue Bindung eingehen könne. Doch diese Masche ist über die Jahre längst durchsichtig geworden.

Malerba erzählt keine Geschichte der glücklichen Heimkehr, sondern der zunehmenden Entfremdung eines Liebespaars, das zu lange getrennt gewesen ist. Misstrauen, Argwohn, Enttäuschung und Bitterkeit erfassen wie schleichendes Gift beide Herzen, die sich eigentlich nichts sehnsüchtiger gewünscht haben als ihre Zusammenkunft. Penelope ist misstrauisch, weil Odysseus als Bettler verkleidet vor sie tritt, um die Freier zu überlisten. Odysseus wiederum ist enttäuscht, weil sie keine Reaktion zeigt, als er ihr in Gestalt des Bettlers Nachrichten über sich selbst überbringt.

Der fortlaufende Perspektivwechsel zwischen Odysseus und Penelopes Wahrnehmung erlaubt es Schritt für Schritt nachzuverfolgen, wie sich die beiden Protagonisten gegenseitig immer weiter in Missverständnisse und Fehleinschätzungen verstricken, die schließlich darin gipfeln, dass Penelope Odysseus selbst dann noch als Bettler behandelt, als er sich längst in seiner wahren Gestalt gezeigt und sich - unter Beweis seiner Identität - an den Freiern gerächt hat. Doch Penelopes verletzte Ehre ist zu groß, als dass sie ihm auf die Schnelle verzeihen könnte. Vor allem aber ist sie nachhaltig entsetzt, als sie mitansehen musste, wie Odysseus die Freier der Reihe nach abschlachtete und sich vor ihren Augen vom geliebten Menschen zur grausamen Bestie wandelte. Das ist in ihrer Schonungslosigkeit - das Blut fließt wie im besten Splatterfilm literweise - zugleich auch eine der stärksten Stellen des Romans.

Angeregt zu dieser Nacherzählung des alten Mythenstoffes wurde Malerba offenbar duch seine Frau, die in einem Gespräch über die Odyssee sagte, es sei doch höchst unglaubwürdig, dass Argos, der Hund, Odysseus erkannt haben soll, seine ihm über Jahre treu gewesene Ehefrau aber nicht. Das könne allein damit erklärt werden, dass Penelope bloß so tat, als würde sie ihn nicht erkennen, in Tat und Wahrheit die Verkleidung aber von Anbeginn durchschaut hatte. Auch weil sie den Hang ihres Mannes zur List und zur Lüge kennt. Eine Pointe des Romans ist es denn auch, dass Odysseus selbst der Verfasser der Odyssee sei, worin er seine Heldentaten mit viel Phantasie ausgeschmückt habe. Damit wäre auch die ewige Streitfrage der Philologen über Homers Identität endlich geklärt.

Schließlich erkennt sich das Liebespaar aber wieder. Odysseus gelobt, nie mehr von Ithaka, seinem Heim und Herd, wegzugehen und will zum Zeichen seines Ernstes, fortan keinen Schuh mehr anziehen. So gibt es zu guter Letzt doch noch ein Happy End, was im klassischen Mythos nicht immer so war. Der große Heros der Odyssee wird zum Pantoffelhelden, zum „König Ohneschuh“. - So erklärt sich auch der deutsche Titel des Romans. Im italienischen Original lautet der Titel Itaca per sempre (Für immer Ithaka), was viel poetischer und leichtfüssiger klingt als der holzschuhartige Versuch auf Deutsch.

Donnerstag, 18. Oktober 2018

Arthur Conan Doyle: Professor Challenger und das Ende der Welt (1913)


Aus der Feder von Arthur Conan Doyle stammt neben Sherlock Holmes auch eine Reihe weiterer literarischer Figuren, die allerdings nie dieselbe Berühmtheit erlangt haben wie der Meisterdetektiv aus der Baker Street 221b. Eine dieser Gestalten im Schatten des großen Ermittlers ist Professor Challenger, dem Doyle mehrere Erzählungen widmete. Während Holmes dank seiner analytischen Schärfe die Verbrechen und Rätsel des Alltags löst, ist Challenger für die ganz großen Abenteuer und Menschheitsrätsel zuständig. Bereits in der ersten Erzählung Lost World von 1912 entdeckte er eine prähistorische Landschaft mit Urzeitwesen (was später Vorbild für den Kassenschlager Jurassic Park) wurde, dann stieß er auf das versunkene Atlantis und schließlich er- und überlebte er in einer weiteren Erzählung auch das Ende der Welt.

Aufgrund von Veränderungen in der Atmosphäre prophezeit der streitbare Professor das baldige Ende der Welt. Zunächst wird er, auch von seinen Fachkollegen, verlacht, doch schon bald zeigen sich beunruhigende Symptome rund um die Welt. Die Luft wirkt wie ein Nervengift auf die Befindlichkeit des Menschen, die enorm reizbar, ausgelassen oder hysterisch werden – und zuletzt dann mangels Sauerstoff versterben. Mit Ausnahme einer kleinen Gruppe rund um Professor Challenger, der rechtzeitig zwei Sauerstofftanks organisieren kann, um sich in seinem Häuschen vor dem Ersticken zu retten.

Challenger referiert seine Theorie in einem Garten-Gleichnis: So wie ein Weinbauer seine Trauben mit Gift besprüht, um sie vor Bakterien zu schützen, so handle auch der „Große Gärtner“ im Universum: „Ich habe den Eindruck, daß unser Gärtner gerade im Begriff ist, das Sonnensystem zu desinfizieren und den menschlichen Bazillus, den sterblichen kleinen Winzling, der sich über die Erdkruste dahinbewegt, in einem einzigen Augenblick zu sterilisieren und auszuradieren.“ Dank Challengers Voraussicht überleben er und seine Entourage die Katastrophe, sehen sich dann aber mit einem vollkommenen ausgestorbenen Planeten konfrontiert. Überall wo sie hinkommen, ist das Leben erloschen; die Menschen liegen tot bei ihrem letzten Verrichtungen.

Die Pointe der Geschichte ist jedoch: Das vermeintliche Massensterben entpuppt sich bloß als weltweiter Dornröschenschlaf. Nach 28 Stunden wacht die gesamte Bevölkerung wieder aus einer tiefen Katatonie auf und setzt ihre Tätigkeiten fort, als sei nichts gewesen. Auch die aus dem Märchen bekannte Ohrfeige fehlt nicht: „Das Hausmädchen versetzt einem ihrer Schützlinge einen Klaps und schon den Kinderwagen weiter bergauf.“ Allein Professor Challenger und seine kleine Gruppe weiß um die verstrichene Zeit, die sonst niemandem aufgefallen wäre. Unbemerkt hat die Menschheit einen Tag lang mit dem Leben ausgesetzt. Und das ist für die Betroffenen ein Gedanke, der viel beunruhigender ist als ein endgültiges Ende der Welt.

Die Geschichte endet mit einem öffentlichen Appell, die überstandene Katastrophe als Memento Mori zu verstehen, um die eigene Lebensführung angesichts der kosmischen Übermacht devoter zu gestalten. Es ist vielleicht dieser moralinsaure Unterton, der die ohnehin ziemlich platte Geschichte zu einem billigen Gleichnis gerinnen lässt, weshalb Professor Challenger literaturhistorisch nicht denselben Rang einnimmt wie der ungleich zynischere Sherlock Holmes.

Montag, 15. Oktober 2018

Pierre Charron: Die wahre Weisheit (1780)


Im Original lautet der Titel dieser „Sittenlehre“ schlicht De la sagesse (1601). Es hätte aber ebenso gut De l'homme (Über den Menschen) betitelt sein können, den letztlich geht es Charron um das Verständnis der menschlichen Natur, um daraus normativ eine Verhaltenslehre abzuleiten. Unter Weisheit versteht Charron entsprechend nicht die höchste Form der Erkenntnis im philosophischen Sinne, sondern die Fähigkeit der richtigen Lebensführung. Weisheit sei die Kombination aus Klugheit und Ehrlichkeit. Klugheit allein werde zur List, Ehrlichkeit allein münde in Unbescheidenheit. Der Weg zur Weisheit in diesem Sinne führt über die Selbsterkenntnis. Das nosce te ipsum ist dem Buch von Beginn an eingeschrieben.

Das Titelkupfer der Originalausgabe zeigt die allegorische Weisheit, die in einen Spiegel blickt, der ihr (vermutlich von göttlicher Hand) aus einer Wolke entgegen gestreckt wird: Sie erkennt sich darin selbst und thront deshalb über den vier Figuren, die an ihren Laster angekettet dargestellt sind. Auch diese vier Figuren sind allegorisch. Sie stehen für die Menschen, die noch nicht zur Selbsterkenntnis gelangt sind, da sie von ihren negativen Eigenschaften beherrscht werden. Es ist das erklärte Ziel Charrons, den Menschen über seine Schwächen aufzuklären, das heißt: seine Fehler zu erkennen und aus ihnen zu lernen. Doch ist dies keine einfache Aufgabe: „Denn nichts ist listiger, als der Mensch, und er ist beynahe gar nicht zu ergründen.“ So die skeptizistische Grundeinsicht des Autors.

Mit eindrucksvollen Worten schildert Charron deshalb sein Vorgehen, „den Menschen so kennen zu lernen, wie er in allem Verstande genommen, wie er von allen Seiten betrachtet, ist; ihm recht an den Puls greifen; mit dem Fühlrohre bis aufs Leben hineinfahren; mit dem Lichte und Sucheisen in der Hand in sein Innerstes hineingehen; in allen Löchern, Winkeln, Ecken, krummen Gängen, Höhlen und geheimen Oertern alles umstören und durchsuchen“. Die metaphorische Sprache lässt den Eindruck entstehen, als würde sich Charron für eine geologische Expedition ins Innerste der Erde rüsten. Damit gewinnt sein Vorhaben an Empirizität und Glaubwürdigkeit.

Das Werk umfasst drei Teile. Im ersten deskriptiven Teil setzt sich Charron ausführlich mit der Beschaffenheit der menschlichen Natur auseinander, im zweiten normativen nennt der Autor die Vorschriften und Regeln zur besseren Lebensführung und der abschließende dritte Teil ist den vier moralischen Grundtugenden der Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigkeit gewidmet.

Pierre Charron war Zeitgenosse von Montaigne und soll auch mit ihm bekannt gewesen sein. Wie gut, ist allerdings umstritten. Die anonym verfasste Einleitung zur deutschen Ausgabe geht von einer „sehr engen Bekanntschaft“ aus, während die Forschung heute angesichst fehlender schriftlicher Zeugnisse (weder Montaigne noch Charron haben sich gegenseitig gross erwähnt) allenfalls eine flüchtige Begegnung vermutet. Fest steht jedoch, dass Charron seine drei Bücher über die Weisheit in geographischer Nähe von Montaignes Anwesen in Bordeaux verfasst hat. Doch nicht nur dies, er hat sich auch zu nicht geringen Teilen aus Montaignes Essais bedient, die ihm eine Fülle von Belegstellen und Beispielen über die menschliche Wesensart lieferten, die er für seine Abhandlung verwenden konnte.

Literaturgeschichtlich ging Charron deshalb unter dem wenig rühmlichen Titel als „Montaignes Affe“ ein. Eine Bezeichnung, die trotz nachweisbarer Übernahmen nicht ganz gerechtfertigt ist, allein deshalb nicht, weil Charrons Werk, das kurz nach seinem Tod erschienen ist, viel erfolgreicher war als Montaignes Essais, die durch ihren konsequenten Subjektivismus zwar literaturgeschichtlich bedeutsamer sind, doch für die Zeitgenossen eine noch ungewohnte Schreibweise darstellten. Charrons systematische und moral-didaktische Abhandlung entsprach den Lesegewohnheiten eher als die Aufzeichnungen eines denkenden Müssiggängers. Im skeptizistischen Menschenbild jedoch stimmen beide Autoren miteinander überein, mit dem Unterschied freilich, dass Charron die Menschheit allgemein bessern, Montaigne zunächst sich selbst als Mensch erkunden wollte.

PS: Offenbar soll Charrons Werk für Laurence Sterne eine wichtige Inspirationsquelle zur Darstellung der menschlichen Schwächen seiner Charaktere gewesen sein.

Sonntag, 14. Oktober 2018

Oskar Panizza: Eine Mondgeschichte (1890)


Die Menschheit ist seit jeher vom Mond fasziniert, der immer auch Spekulationen über die Bewohner dieses Gestirns evozierte. Bereits Plutarch verfasste einen Traktat über das vermeintliche Mondgesicht, wie sich auch die Literatur der phantastischen Mondreisen bis auf die Antike zurückführen lässt. Eine der skurrilsten Mondgeschichten stammt jedoch aus der Feder von Oskar Panizza, dem späteren Skandalautor, der gegen Staat und Kirche polemisierte. In diesem Zusammenhang notorisch bekannt geworden ist vor allem sein Stück Das Liebeskonzil (1894), das ihm ein Jahr Gefängnis wegen Blasphemie einbrachte. Bei der Mondgeschichte, 1890 im Verlag von Georg Müller erschienen, handelt es sich um den längsten zu Lebzeiten erschienene Text Panizzas.

Geschildert wird in der Ich-Form der Augenzeugenbericht eines jungen Studenten in Leyden, der nächtens aus Liebeskummer aufs offene Feld flüchtet und dort beobachtet, wie erst der Mond sich ruckartig bewegt, scheinbar auf die Erde gezogen wird und dort von einem Mann vergraben wird. Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, folgt der Student dem Mann, klettert hinter ihm eine Strickleiter hinauf, die bis in den Himmel zu führen scheint. Die Luft wird immer dünner, bis er schließlich in einer runden Baracke ankommt, die weit über der Erde schwebt. Zwei Monate lang hält sich der Student dort versteckt und observiert das seltsame Treiben in dem Gehäuse, von dem er annimmt, dass es sich um den von der Erde her vertrauten Mond handeln muss.

Bewohnt ist die schwebende Holzkugel vom einem keifenden Ehepaar mit zwölf Kindern. Sie ernähren sich ausschließlich von Käse, weshalb ihre Gesichter selbst schon ganz rund und gelblich sind. Nach und nach stellt sich heraus, dass der Mondmann einmal im Monat, nachdem ihm die Sonne die äußere Pechhülle des Hauses versengt hat, auf die Erde hinuntersteigt und dabei die brennende Pechschicht mitnimmt, um sie auf einem Feld zu begraben. Gleichzeitig nutzt er den Aufenthalt auf der Erde, die er mit seiner Familie den „großen Käse“ nennt, um sich mit Proviant (ausschließlich holländischer Käse) und Gebrauchsgegenständen versorgt, die er nachts unbemerkt mitlaufen lässt.

Das alles klingt natürlich phantastisch genug, doch der Erzähler versucht mit allen Mitteln die Glaubwürdigkeit seiner Erlebnisse zu beteuern. Der Text ist deshalb mit zahlreichen Authentizitätssignalen – darunter auch ein frühes Beispiel (vor Joyce, Schnitzler und Virginia Woolf!) einer Gedankenstromtechnik – ausgestattet, was mitunter zu umständlichen Erklärungen und einer Detailversessenheit führen, die aber alle im Dienst stehen, das Erzählte als wahr erscheinen zu lassen. Zuletzt versteigt sich der Student in eine waghalsige Theorie, der Mond sei nichts anderes als ein Räubernest, wo sich seit den Assyrern ein Zigeunergeschlecht eingenistet habe, um nicht entdeckt zu werden. Was wir von der Erde als Mond wahrnehmen sei bloß der Korb eines ungeheuren Ballons, mit dem die Zigeuner von der Erde geflohen sind und der jetzt als Trabant um die Erde kreist.

Auch diese Theorie wird in aller Ausführlichkeit und mit allen möglichen Einwänden vorgebracht und erwogen. In dieser Mischung zwischen absoluter Phantastik und pseudo-wissenschaftlicher Genauigkeit der Darstellung liegt der Reiz des Textes, der durch eine geschickte Leserführung überdies nie an Spannung einbüßt. Ganz offensichtlich stand – der einmal sogar namentlich erwähnte – Edgar Allan Poe (bzw. dessen Erzählung über die Abenteuer von Hans Pfaall) Pate für diese phantastische Reise zum Mond.

Samstag, 22. Juli 2017

Jean Cocteau: Thomas, der Schwindler (1923)

Wie viele Intellektuelle seiner Zeit reagierte auch der junge Jean Cocteau zunächst mit Begeisterung auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er sah darin eine willkommene Gelegenheit, sich von seiner bürgerlichen Herkunft zu lösen. Doch die erste Ephorie wich bald einer Ernüchterung, als er als freiwilliger Hilfssanitäter bei den Marinesoldaten die Kriegsgreuel hautnah erlebte. Die erschreckenden Erfahrungen verarbeitete Cocteau später in seinem Roman Thomas, der Schwindler, doch weder direkt anklagend noch moralisierend, auch nicht als Betroffenheitsprosa, sondern in einer zuweilen fast märchenhaften Geschichte. Im Vordergrund steht die Kritik an der eigenen Blauäuigkeit, mit der man sich damals ins Getümmel stürzte.

In der Figur von Thomas findet diese Blauäuigkeit ihre literarische Verkörperung. Thomas ist ein Junge von noch kindlichem Gemüt, aber gerade deswegen auch von einer so einnehmenden Art, dass er der Mitwelt mühelos vormachen kann, was er will. Er ist nicht der klassische Hochstapler, der andere zu seinem Vorteil betrügt, sondern ein Schwindler, der sich selbst in sein Lügengebilde verstrickt: „Man sieht, zu welcher Sorte von Schwindlern unser junger Guillaume gehört. Eine Sorte, der man eine Sonderstellung einräumen muß. Sie leben halb im Traum. Ihr Betrug setzt sie nicht herab, sondern rückt sie eher hinauf. Guillaumes Betrug war ohne Arg. Und es wird sich noch zeigen, daß er sein eigenes Opfer wurde. Er hielt sich für etwas, das er nicht war, wie ein Kind sich für Kutscher oder Pferd hält.“

Obwohl Thomas erst sechszehnjährig ist, glaubt er sich auf die Artillerieschule vorbereiten zu müssen. Als er zufällig in ein improvisiertes Lazarett gerät, gibt er vor, der Neffe des berühmten Genereals Fontenoy zu sein, was ihm sofort zu großem Ansehen verhilft. Der Name wird für ihn zum Schibboleth, das ihm alle Türen öffnet. So gelangt er schließlich mitten auf den Kriegsschauplatz in die Schützengräben. Von einem Bataillon von Marinefüsilieren wird er wie ein „Fetisch“ aufgenommen und wie ein „Abgott“ verehrt, so dass Thomas sich in jugendlicher Schwärmerei „in das Bataillon verliebt“. Noch immer versteht er den Krieg mehr als Spiel, selbst als sein Kamerad einem Schuss zum Opfer fällt. Bald darauf ereilt Thomas dasselbe Schicksal. Doch noch im Moment, als ihm die Kugel die Brust durchbohrt, hält er es nicht für real: „Wahn und Wirklichkeit waren nur noch eins in ihm.“

Zwei rivalisierende Frauen begleiten Thomas auf seinem Schicksalsweg. Die Prinzessien Clémence de Bromes und Madame Valiche. Beide zieht es als Sanitäterinnen ebenfalls magisch an die Front, weil sie sich ein grosses Abenteuer davon versprechen. Insbesondere die Prinzessin neigt dazu, das Kriegsschauspiel zu ästhetisieren, was in Metaphern und Vergleichen aus der Theaterwelt zum Ausdruck kommt: „Sie betraten die Kulissen des Dramas. Die Bühne kam immer näher.“ Oder: „Die Kulissen, dachte sie bei sich selbst. Das sind die Schauspieler, die Statisten, die sich ankleiden.“ Mit dieser naiven Haltung markiert die Prinzessin das weibliche Pendant zu Thomas. Wie dieser „wie ein Schlafwandler“ handelt, so agiert auch die Prinzessin wie eine „blinde Hellseherin“, die von Visionen getrieben wird, ohne die unmittelbare Realität zu erkennen.

Aus diesem Grund bleibt ihr lange verborgen, dass sich ihre Tochter Henriette unsterblich in Thomas verliebt hat. Zwar erwidert dieser zunächst ihre Neigung, gibt sich dann aber bedingungslos dem Soldatenleben hin. Seine Libido gilt allein seinem ihn abgöttisch verehrenden Bataillon. Verzweifelt will Henriette ihm ihre Liebe gestehen, doch der Brief erreicht ihn nicht mehr rechtzeitig vor seinem unheroischen Tod. Stattdessen wird ihr und ihrer Mutter die Todesnachricht von der schadenfreudigen Madame Valiche überbracht. Wie Mutter und Tochter „wilde Schreie“ ausstoßen und ihre Kleider zerreißen, besitzt fast das Ausmass einer antiken Tragödie. Insofern ist es mehr als nur eine Redewendung, wenn Madame Valiche zum Schluss dem Journalisten Presquel-Duport, der das Schauspiel mit distanzierter Kaltblütigkeit betrachtet, bewundernd zuruft: „Sie sind ein Gott.“ 

Presquel-Duport antwortet darauf mit der zynisch-distanzierten Bemerkung: "Es gibt keine Götter, Madame. Ich sehe die Dinge, wie sie sind; das ist alles." Mit dieser Aussage, die die Gottlosigkeit des Kriegs gleichermaßen wie die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schrecken betont, endet der Roman.

Montag, 10. Juli 2017

Albert Vigoleis Thelen: Sargmacher Quirinus (1930)

Sargmacher Quirinus ist die erste Novelle des damals 27jährigen Albert Vigoleis Thelen, dessen späterer Roman Die Insel des zweiten Gesichts (1953) zu den sprachmächtigsten Prosawerken der humoristischen Erzählliteratur im 20. Jahrhundert zählt. Davon ist der frühen Novelle kaum etwas anzumerken. Sie wirkt eher wie ein spätes symbolistisches Hurenkind. Was fehlt, sind die Sprachkomik, für die Thelen berühmt wurde, sowie das autofiktionale Spiel seiner Texte. In fast legendenhafter Strenge und versehen mit einem leicht wehmütigen Ton schildert ein nicht eigens markierter Erzähler die unerhörte Begebenheit aus dem ansonsten gleichförmigen Leben des Sargmachers. Kontrastreicher hätte man den Wechsel zwischen dem Iterativen des Immergleichen und dem unerwarteten Ereignis auch kaum ausgestalten können.

Quirinus gehört einer Sargmacherdynastie an, die seit Generation die Meisterschaft in einer kontinuierlichen Linie vom Vater auf den Sohn übergibt. Wann immer ein Vater im Sterben liegt, zimmert der Sohn innerhalb eines Tages dessen Sarg und übernimmt das Geschäft. So geht es seit Anbeginn und auf diese Weise erlangt auch Quirinus seine Meisterschaft. Doch nicht allein das Erlernen des Handwerks geht auf den Nachkommen über, sondern auch eine philosophische Ader, die von einem besonderen Blut durchpulst ist, wie der Vater und nach ihm sein Sohn mehrfach betonen: „Es ist das Kneemeyersche, das wir im Blute haben“.

Kennzeichnend dafür ist eine Sensibilität für das Thema des Todes, das – getreu nach dem Motto „Philosophieren heisst sterben lernen“ – die Kneemeyers ihr Handwerk pietätvoll und mit einer tiefen Ehrfurcht verrichten lässt. Dieses spezielle Gespür ist bei Quirinus stärker ausgeprägt, neigt er doch weit mehr als seine Vorfahren zum Grüblen, was sich auch in seiner Arbeit niederschlägt. Er sieht seine Aufgabe darin, den Sarg dem Toten gewissermassen auf den Leib zu schneidern: ihm je nach Lebenswandel und Sterbensart einen individuell zugerichtete „letzte Kammer“ zu schaffen: „Und das ist die Kunst, [...] das Kneemeyersche, das wir im Blute haben: einem toten Menschen anzusehen, wie ihm das Leben fortging.“

Dieses Kneemeyersche Blut gerät eines Tages unverhofft in Wallung, als Quirinus vom benachbarten Bäcker beobachtet wird, wie er ein paar alte Kistenbretter auf dem Markt zusammenliest und in sein Wägelchen legt. Der bullige Bäcker spottet bei diesem Anblick: „Unser Meister Nachbar, der heilige Quirinus, er sammelt sich das Holz für seine Särge.“ Eine solche Verhöhnung beleidigt nicht nur den Berufsehre des Sargmachers, sondern sein ganzes väterliches Erbe. Er wird, wie es im Text heißt, „bis aufs Blut“ gereizt, bis auf jenes Blut eben, das ihn in seiner Existenz auszeichnet. Wie „ein Tigertier“ springt er dem Bäcker an die Gurgel, der ihn aber bloß wie ein lästiges Insekt abschüttelt und ihn dabei so zugerichtet, dass Quirinus wochenlang das Bett hüten muss.

Obwohl er dank seinem „Kneemeyerschen Blut“, das wie ein „Lebenselixier“ wirkt, körperlich wieder genesen ist, bleibt doch ein seelischer Schaden zurück, der niemals wieder heilt. So bangt Quirinus in den Todesstunden noch, ob sein Sohn ihm vielleicht ein Sarg aus Brettern bauen wird, die er „wie ein Bettler“ auf dem Markt zusammen gelesen habe. Doch die Erzählung endet zuversichtlich: Im Sohn regt sich im selben Moment das familiäre Blut und er beginnt stillschweigend, aber mit einer vor „Inbrunst“ geschwellten Seele sein Erbe anzutreten. So nimmt die Tradition unverändert ihren Lauf, als sei nichts gewesen. Das Blut erweist sich stärker als das böse Wort.

Sonntag, 9. Juli 2017

Paul Scheerbart: Rakkóx der Billionär (1900)

Diese kurze Geschichte, die in der Erstausgabe knapp drei Dutzend Seiten umfasst (und deshalb mit Die wilde Jagd durch einen weiteren Text ergänzt werden musste), einen Roman zu nennen, ist eine masslose Übertreibung, erst recht, wenn er sogar als „Protzenroman“ ausgewiesen wird. Doch solche Spezifierungen der Romanprosa sind ein Markenzeichen Scheerbarts, der sich auch für einen Asteroiden-Roman, einen Nilpferd-Roman, einen Königsroman etc. verantwortlich zeigt. Inhaltlich bringt der Roman die typisch Scheerbartsche Mischung zwischen Nonsens, Utopie, Science Fiction, Phantastik, Parabel und Satire.

Die Geschichte selbst ist so rasch nacherzählt, dass sie fast lachhaft abstrus wirkt: Unzufrieden mit seiner Erfindungsabteilung, entlässt der steinreiche Rakkóx sein Obergenie Schultze VII. und heuert stattdessen den jungen Erfinder Kasimir Stummel an, der den Billionär dazu bewegt, in „Kolossalbauten“ zu investieren. Der wahnsinnige Schultze, der die von Rakkóx ausgesprochene Beleidigung „Rhinozeros!“ nie verdaut hat, will sich rächen und verbündet sich zu diesem Zweck mit dem Kaiser von China, um das Bauprojekt zu sabotieren, was in Ansätzen auch gelingt. Die Geschichte endet abrupt damit, dass Schultze eine Horde blutrünstiger Indianer auf Rakkóx loshetzt, die ihn richtiggehend zerfleischen, während Schultze mit dem wütenden Ausruf Rhinozeros! triumphiert.

Daraufhin folgt der kollektive Niedergang. Rakkóx Billionen werden restlos verteilt, die von Stummel errichteten Gebäude zerfallen und Schultze versinkt in Selbstverachtung. Allein Peking triumphiert und kürt den Kehrreim „Sic transit gloria Rakkóxi“ zur populären Siegeshymne. So endet die Erzählung ohne besondere Moral oder Pointe, sondern so unerwartet und unmotiviert, wie sich oft auch die Handlung fortentwickelt. Auch im Namen Rakkóx dürfte kein versteckter Hintersinn, nur purer Sprachklang stecken. Scheerbart - der vor den Dadaisten erste Lautgedichte verfasste - demonstriert auch in dieser Erzählung die radikale Autonomie der Erfindung, die sich keiner Logik verpflichtet fühlt. 

Alles scheint in Scheerbarts Geschichten möglich ohne die mindeste Rücksicht auf Wirklichkeitsbezug. Mit wenigen Worten werden ganze Welten errichtet oder wieder zum Einsturz gebracht. Wenn Schultze beschließt, den chinesischen Kaiser für seine Sache zu gewinnen, dann ist das mit einem lapidaren Satz getan. Umgekehrt gibt es längere deskriptive Passagen, die Interieurs von Rakkóx Domizil in allen nur erdenklichen Einzelheiten schildern. Ob solche arabesken Ausschmückungen oder phantastisch rasante Handlungsverläufe - in beiden Fällen dominiert die Fabulierfreude über die Plausibilität der Geschichte.

Damit sei nicht gesagt, dass Scheerbarts Prosa sinnlos und ohne allen Zusammenhang wäre. Im narrativen Gewimmel finden sich immer auch wieder kleinere Exkurse mit Überlegungen, hier zum Beispiel visionär zur submaritimen Kriegsführung, politisch zum Nationalismus sowie psychologisch zu verschiedenen Arten des Humors: Die drei Protagonisten verkörpern alle eine spezielle humoristische Ausprägung: Schultze den aggressiven Humor, Stummel eine geschäftliche Art des Humors und Rakkóx schließlich den unfreiwilligen Humor.

Rakkóx, darüber alles andere als glücklich, beklagt diesen Zustand mit folgenden Worten: „Ich habe das fatale Talent, bei jedem nur die lächerlichen Seiten zu sehen – und was man belachen kann, nimmt man nicht krumm. Doch durch diese Gutmütigkeit verliert man den Respekt. Die Leute glauben schließlich nicht, daß man mehr will – als Lachenkönnen.“ Diese Aussage trifft in Analogie auch auf den Autor zu: Auch seine Inklination zum Humoresken und Phantastischen ist mitunter so stark, dass man gar nicht auf die Idee kommt, es könne mehr als Jux und Dallerei dahinterstecken.

So könnte man im Billionär Rakkóx letztlich auch ein verstecktes Selbstporträts Scheerbarts sehen, der über einen unendlichen (Sprach-)Reichtum verfügt, mit dem er nicht weniger verschwenderisch umgeht als sein Protagonist. Das Resultat sind Texte, die wie Rakkóx Teppiche mit "Millionen geheimnisvoller Zeichen" versehen sind, die zu betrachten bzw. lesen eine gewisse Faszinationskraft ausüben kann, die zu verstehen aber eine vielleicht vergebliche Herausforderung darstellt.