Sonntag, 15. Oktober 2023

Luigi Malerba: Die fliegenden Steine (1992)

Es gibt eine Fotografie von Man Ray, La Prière von 1930, die eine betende Frau von hinten zeigt: tief kniend und vornübergebeugt, den nackten Podex direkt in Richtung Kamera gestreckt, lediglich ihre Hände bedecken die Scham. Ein ähnliches Bild bietet sich auch dem Ich-Erzähler von Malerbas Roman. Dort ist es eine direkte Aufforderung der betenden Muslimin zum Geschlechtsverkehr. Sie heisst Ayse und vertritt die Ansicht, dass der Koran im Unterschied zur katholischen Kirche die Sexualität nicht unterdrücke oder verurteile, sondern die freie Liebe zwischen Mann und Frau sogar während dem Gebet zulasse. Bei den Katholiken hingegen sei Sex nur als Sünde denkbar, was allerdings oft "die Lust" nur noch "steigert": "Die Sodomie wäre längst nicht so weit verbreitet, wenn es die Sünde nicht gäbe." Und auch die Päderastie, müsste man angesichts der systemischen Fälle von klerikalem Kindsmissbrauch hinzufügen. Die katholische Kirche hat sich ihr eigenes perverses Lustprinzip geschaffen.

Doch wir kommen vom Thema ab. Der Ich-Erzähler gerät angesichts von Ayses wohlgeformten Hinterteil jedenfalls auf andere Gedanken. Sie erinnern ihn an die Interpretationstheorie des Doppel- und des Einzelhinterns, die ein Kunstkritiker einst entwickelt hatte, und leitet daraus seine eigene Theorie der Wahrheit ab: Es gibt die einfachen Wahrheiten, aber es gibt auch doppelte, ambigue Wahrheiten: "Der Einzelhintern interessiert mich nicht, ich bin für die zwei Seiten der Wahrheit." An dieses Diktum sollte man sich erinnern, wenn der Erzähler an anderer Stelle bekennt, er wolle nichts als "die nackte Wahrheit" berichten. Was landläufig als übertragener Ausdruck für absolute Offenheit gilt, muss hier offensichtlich im Wortsinn verstanden werden: als die zwei nackten Pobacken, welche die doppelte Wahrheit verkörpern. Eine Wahrheit, welche die Dinge nicht nur gleichsam von hinten, sondern auch in ihrer Bivalenz, oder gar Ambivalenz, betrachtet. Tatsächlich wimmelt es in dem Roman nur so von "sinnlosen Symmetrien": von Wiederholungen, Parallelereignissen und Doppelexistenzen, auf die sich der Erzähler (vergebens) einen Reim zu machen versucht. "Klarheit" sei für ihn jedenfalls "kein Merkmal der Wahrheit".

Erzählt wird der Roman aus der Perspektive von Ovidio Romer, einem renommierten Maler - reales Vorbild für die Figur war der mit Malerba befreundete Künstler Fabrizio Clerici -, der sich in die Schweiz zurückzieht, in sein "Schweizer Versteck", um dort "verschanzt" in einem Hotel seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Er hofft, dass ihm "der neutrale Charakter der Schweiz helfen würde", um über sein Leben und dessen Rätsel nachzudenken, das (wie sich herausstellt) vor allem in einem unverarbeiteten Vater-Trauma besteht. Seit sich Ovidio erinnern kann, war der Vater mehrheitlich abwesend. Wie er sukzessive erfährt, führte er ein Doppelleben mit einer anderen Frau, mit der er nach dem Bankrott seiner Firma in Vancouver untertaucht. Durch eine unwahrscheinliche Verkettung von Zufällen erscheint in einer ägyptischen Zeitung jedoch die Falschmeldung, der Vater sei im Nil ertrunken. Ovidio, der während dem Zweiten Weltkrieg in Ägypten im Aktivdienst war, ist frappiert, denn sein General erzählte ihm damals exakt dieselbe Geschichte über seinen Vater. (Eine Parallele findet diese Koinzidenz in der Szene, als Ovidio in der Kartei der Gefallenen seinen eigenen Namen entdeckt.)

Um der Sache auf die Spur zu gehen, reist Ovidio nach Luxor, trifft dort auf Ayse, die ihm später gesteht, dass sie für die Falschmeldung verantwortlich war, und macht sich gemeinsam mit ihr auf die Suche nach dem verstorbenen Vater. Es versteht sich von selbst, dass die Suche ins Leere führt. Stattdessen entdeckt Ovidio in der Wüste einen grossen Stein mit einem Loch in der Mitte, der haargenau wie eines seiner Gemälde aussieht: "Dieses Bild hatte ich vor fünf Jahren zunächst im Kopf zusammengefügt, und jetzt fand ich es in Wirklichkeit wieder." Für den Künstler, ein weiterer Beweis, dass sich auf der Welt alles wiederholt. Sinnbildlich für diese ewige Wiederkehr steht nicht nur das Gemälde des Steinkreises - wie Clericis Corpus Hermeticum (1972), der im Anhang zum Roman auch abgebildet ist -, sondern auch die Namensinitiale O, mit dem der Vater, selbst Onforio genannt, alle "seine legitimen und legitimierten Söhne brandmarken wollte": Ovidio, Oscar und Oliviero.

Wie sich herausstellt, ist auch Ovidios Jugendfreund Vittorio ein weiterer Abkömmling seines Vaters, der ihn später, als er sich mit dessen Mutter nach Vancouver absetzt, folgerichtig in Oliviero umbenennen wird. Als Jugendliche standen sich die beiden Freunde nahe, ohne zu ahnen, dass sie denselben Mann zum Vater haben. Ovidio fertigt sogar eine Aktzeichnung von Oliviero an, die allerdings Fragment bleibt, weil Oliviero nicht mehr zur zweiten Sitzung erscheint, was eine dauerhafte Kränkung beim Erzähler hinterlässt. Am Ende des Romans begegnen sich die beiden Halbbrüder wieder. Oliviero ist unterdessen im Kunsthandel tätig und so ergibt sich ein Treffen in Vancouver, das jedoch distanziert und unergiebig bleibt. Ein weiteres Treffen kommt nicht mehr zustande. Als späte Vergeltung für die unfertige Aktzeichnung, beschliesst Ovidio, der es seinem Halbbruder überdies nicht verzeihen kann, dass er all die Jahre nie über die neue Identität des Vaters informierte, abschiedslos wieder abzureisen.

Die Beweggründe des Vaters für sein Doppelleben, seinen "Hang zum Versteckspiel, zur Verstellung, zur Verlogenheit, zum Geheimnis" vermag Ovidio so nicht zu ergründen. Er empfindet seine Situation im Schweizer Versteck am Ende deshalb als "Flucht" und als "Niederlage". Aus seinen Aufzeichnungen geht jedoch hervor, dass das Geheimnis des abwesenden Vaters letztlich die Ursache ist, weshalb Ovidio sich in seinen Gemälden in die Leblosigkeit und in die Versteinerung flüchtet, weshalb er Bilder malt, auf denen kaum Körper, sondern nur tote Gegenstände zu sehen sind, welche zwar hyperreal wirken und doch leblos sind, einen "Friedhofsgedanken" zum Ausdruck bringen. Sie sind die ins Bild gebannte "Theologie des Negativen" seines Vaters. Als kleines, an sich sinnloses Signal bleibt dieses Negative sogar an dessen Grabinschrift haften, da der Steinmetz seinem Namen ein überflüssiges O anhängt: Romero statt Romer. Es ist dieser "der Null so ähnliche Vokal", der sowohl die ewige Wiederkehr wie auch das Nichts, das Negative, die Leere, den Verlust und letztlich auch die Sinnlosigkeit symbolisiert. Der Kreis, so belehrt Ovidio einmal seinen Kunstlehrer, ist eine Figur zusammengesetzt aus unendlichen vielen Punkten: aus "Null-Längen".

Malerbas vielschichtiger und komplexer Roman, für den er 1992 den Premio Viareggio erhielt, bietet wesentlich mehr, als in einer knappen, auf die Plotstruktur konzentrierten Zusammenfassung wiedergegeben werden könnte. Der Text zieht ein wirbelndes Beziehungsnetz, in dem sich einzelne Handlungssequenzen oder Motive auf unterschiedliche Weise (mythologisch und historisch) spiegeln, verdoppeln, wiederholen, wie überhaupt die Frage nach dem Abbild-Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit leitend ist. Wer imitiert hier wen? Die Kunst die Natur oder umgekehrt? Oder am Ende die Kunst sich selbst? Am Zenit seiner Karriere beginnt Ovidio seine eigene Malerei "zu fälschen", das heisst, er erfindet keine neuen Bilder mehr, sondern malt stets wieder von Neuem, was sich gut verkaufen lässt, während er heimlich einen komplett anderen, persönlichen und intimen (mehr an der Mutter orientierten) Malstil entwickelt, den er jedoch als "Verrat an [s]einer Malerei" begreift und deshalb verborgen hält. Auch Ovidio flüchtet sich, zumindest in künstlerischer Hinsicht, in ein Doppelleben, bei dem die äussere Erscheinung über die wahre Identität hinwegtäuscht. Gegen aussen reproduziert er nurmehr, was die Leute (in ihm) sehen wollen. Hier gelangt die ewige Wiederholung an ihren zwar merkantil lukrativen, aber kreativ stagnierenden Nullpunkt.

Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit ist ausserdem auch auf der Meta-Ebene des Romans angesiedelt. Malerba weist in einer Nachbemerkung eigens daraufhin, dass Bilder von Farbrizio Clerici die Arbeit an dem Roman zwar angestossen haben, und gewisse Bildbeschreibungen im Roman sind eindeutig als Ekphrasen von Clericis Gemälden erkennbar, dennoch betont Malerba ausdrücklich, "dass die erzählten Umstände in keinerlei Beziehung zu Personen oder Ereignissen aus dem Leben und Werk Fabrizio Clericis stehen". Weshalb referiert der Autor zunächst auf eine ausserliterarische Wirklichkeit, nur um im Anschluss jegliche Bezüge wieder zu dementieren? Dadurch wird die Bezugnahme nicht einfach gelöscht, sondern sie bleibt in merkwürdiger Schwebe bestehen. 

Insgesamt wirkt der Roman verworren und unausgeglichen. Er kann sich nicht entscheiden, ob er Künstler-, Abenteuer- oder Familienroman sein will. Letztlich leidet er auch an symbolischer Überfrachtung, an Bedeutungsüberschuss, der sich nicht schlüssig auflösen lässt. Einzelne Szenen und Reflexionen sind durchaus gelungen und originell, wie der eingangs erwähnte Gebetssex, doch insgesamt fällt der Text auseinander wie der Steinkreis auf Clericis Gemälde Un instate dopo (1978).


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