Montag, 17. Juni 2024

Thomas Love Peacock: Nightmare Abbey (1818)

Der Titel dieses Konversations-Romans führt auf eine falsche Fährte. Wer zurecht einen Schauerroman vermutet, fühlt sich mit Sicherheit enttäuscht, auch wenn der Autor - allerdings auf höchst ironische Weise - mit schauerromantischen Elementen spielt oder mehr noch eine veritable Parodie der englischen Gothic Novel mit all ihren Versatzstücken vornimmt. Peacock, zeitlebens ein Gentleman-Writer, der sein Einkommen nicht mit der Schriftstellerei, sondern in leitender Anstellung bei der East Indian Company verdiente, konnte es sich als literarischer Aussenseiter leisten, seiner Feder freien Lauf zu lassen. Dabei gelingt ihm das Kunststück, das grosse Literatur auszeichnet: Das Werk sprüht nur so von intertextuellen und lebensweltlichen Anspielungen. Peacock amalgamiert gekonnt seine weitreichende Belesenheit mit der Begabung, sein Umfeld mit humoristischem Einfühlungsvermögen abzukonterfeien.

Fast das gesamte Romanpersonal lässt sich mit dem Kreis um den englischen Schriftsteller Percy Bysshe Shelley identifizieren, mit dem auch Peacock verkehrte, und zwar just in jener Phase als der bereits verheiratete Shelley eine Beziehung zur 18jährigen Mary Wollstonecraft Godwin einging, die später seine zweite Frau wurde und am Genfersee, damals noch bei einem heimlichen Treffen mit ihrem liierten Geliebten, mit Frankenstein die Mutter aller Gothic Novels verfasste. Der Roman erschien übrigens zeitgleich mit Peacocks Schlüsselroman rund um den Shelley-Kreis und hat auch just den Zwiespalt des Protagonisten zum Thema, der zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen ist. Shelleys Konflikt spiegelt sich unverkennbar in der Romanhandlung, zugleich dient Goethes Drama Stella als intertextuelle Folie.

Der Roman selbst ist mit seinen typographisch abgesetzten Dialogpartien streckenweise wie ein Theaterstück strukturiert, ganz abgesehen davon, dass die Haupthandlung direkt aus einem zweitklassigen Dorfschwank stammen könnte. Scythrop, ein schwermütiger Jüngling, dem die Transzendentalphilosophie den Kopf verdrehte, soll verheiratet werden. Sein Vater Mr. Glowry sieht dafür die Tochter Celinda seines Freundes Mr. Flosky vor, doch weder er noch sie wollen die Partie eingehen. Sie entflieht spurlos aus ihrem Elternhaus und Scythrop umschwärmt stattdessen seine Cousine Marionetta, die ein kokettes Liebesspiel mit ihm treibt. Durch einen Zufall gelangt die geflüchtete Celinda jedoch in die Obhut von Scythrop, der sie allerdings, da er sie nie zuvor gesehen, erkennt, sondern für eine geflüchtete Illuminatin hält, was seiner obskurantistischen Vorliebe nur entgegenkommt, weshalb er sich auch in sie verliebt und sich am Ende nicht zwischen beiden Geliebten entscheiden kann. Aus Not will er à la Werther zur Pistole greifen, entscheidet sich kurzerhand dann aber doch für eine Flasch Madeira.

Das alles spielt sich im Anwesen von Mr. Glowry ab, in der titelgebenden 'Alptraum-Abtei', im Kreise skurriler und höchst exzentrischer Personen, die sich die Zeit mit müssigen ästhetischen und weltanschaulichen Diskussionen vertreiben. Alles diese Typen sind mit ihren Idiosynkrasien treffend geschildert wie Peacock überhaupt über ausreichend Menschenkenntnis und Esprit verfügt. Besonders gut kommt das zum Ausdruck, als alle zusammen ein Glas Wein trinken, was jeder einzelne in seiner eigenen Manier kommentiert. Der verliebte Scythrop nennt den Wein das "einzige blutstillende Mittel für ein blutendes Herz", der abgeschlaffte Hedonist Mr. Listless nennt ihn die "einzige Mühe, welche es sich wirklich lohnt zu machen", der fatalistische Mr. Toobad spricht vom "einzigen Antidoton gegen den grossen Zorn des Teufels", der pessimistische Mr. Larynx hält ihn für das "einzige Stück akademischen Wissens, welches der ausgebildete Studiosus behält" usw.

Der Roman ist zu verspielt und leichtfüssig, als dass er in den literarischen Kanon hätte aufsteigen können. Er ist unverkennbar das Produkt einer Freizeitbeschäftigung, die Ausgeburt eines sprühenden Geistes, der seine Einfälle nicht der Ernsthaftigkeit einer komplexen Konzeption unterordnen will oder kann. Wenn der Roman gleichwohl literaturhistorische Relevanz besitzt, dann vor allem deshalb, weil er gut 150 Jahre später ein opus magnum angeregt hat: Arnos Schmidts Zettels Traum, der die Idee zu seinem Roman einer Stelle entnommen hat, die Coleridges angebliche Inspiration im Opiumschlaf parodiert: "Ich verfasste fünfhundert Zeilen im Schlaf, so dass ich jetzt, nachdem ich einen Traum von einer Ballade gehabt habe, als meine eigener Peter Squenz fungiere und eine Ballade aus meinem Traum mache, uns sie soll 'Zettels Traum' heissen, weil sie so seltsam angezettelt ist."

Mittwoch, 12. Juni 2024

Andreas Niedermann: Sauser (1987)

Fred Sauser ist ein cooler Hund und sein Autor Andreas Niedermann wird es wohl auch sein. Eine derart abgeklärte, träfe und schmissige Prosa liest man in der deutschsprachigen Literatur selten, im Schweizer Kontext erst recht nicht. Kein Wunder steht der Protagonist mit der Schweizer Literatur auf Kriegsfuss: "Wenn ich aber in den Büchern der Schweizer Autoren las, tat es mir auch nicht leid, keinen von ihnen zu kennen." Er sieht sich vielmehr als "Schüler von Maxim dem Bitteren, von Céline, von Miller und Cendrars". Verorten könnte man den Autor auch irgendwo zwischen Friedrich Glauser und Jörg Fauser, die zwar namentlich nicht genannt werden, der Titel "Sauser" aber so etwas wie eine verkappte Reverenz darstellt. Hinzu kommt, dass der Roman just im Todesjahr von Fauser erscheinen und unterdessen in einer überarbeiteten Neuauflage wieder greifbar ist.

"Sauser" ist aber auch ein telling name: Er steht für das rastlose, rauschhafte und prekäre Dasein des Protagonisten, der in Ich-Form von seinem "Leben am Rand der Existenz" berichtet. Einen wirklichen Handlungsbogen besitzt der episodenhafte Roman nicht: Er beginnt auf einem Campingplatz in Korsika und endet in einer Waldhäuschen, das Sauser aus Liebesfrust verwüstet zurücklässt. Dazwischen schlägt er sich mit diversen Gelegenheitsjobs als Bühnentechniker in Basel, als Zimmermann in Zürich, als Reporter mit Schreibaufträgen, als Taglöhner und Viehhirte in den Bündner Alpen und natürlich immer wieder spätnachts in Kneipen durch. Stets knapp bei Kasse, sturzbetrunken und einem flotten Spruch auf den Lippen. Selbst sein innigster Wunsch, Schriftsteller zu werden, verfolgt er nur halbherzig und lässt sich allzu rasch vom Lotterleben wieder einnehmen. Am Schluss gelingt es ihm dann doch, seine erste Kurzgeschichte in einer Zeitschrift unterzubringen. Der Roman schildert somit die Geburt des Autors aus der Gosse.

Die Sprache besticht oft mit originellen Formulierungen, einer zuweilen vulgären Direktheit und trockenem Humor, oft gibt sie sich auch betont lässig, was aber nie aufgesetzt wirkt. Dazu trägt der unbestechlich sarkastische Blick bei, mit dem Sauser Personen und Ereignisse schildert und mit nur wenigen Worten lakonisch decouvriert. Ein Beispiel: "An seiner Türe hing ein Spruch von Robert Walser: 'Ich bin überzeugt, dass wir viel zu wenig langsam sind.' So was gefiel ihm. Und es war bezeichnend für ihn, dass er sich im Angesicht dieser Worte, über die Langsamkeit seiner Sekretärin beschwerte." Schon ist der Typ verbal erledigt. Obwohl es Sauser meistens mies geht und er immer wieder in irgendwelchen Absteigen abwrackt, ist er nie aufs Maul gefallen. In der sprachlichen Selbstermächtigung, sogar über die schlimmsten Zustände hinweg, erweist er sich als wahrhaft souverän.

Niedermann entwirft mit "Sauser" eine Art Anti-Odyssee. Während Homers Held unfreiwillig umherirrt und eigentlich nur "nach Hause, zu Frau und Sohn" will, geht es Sauser diametral anders: "Ich nahm einfach das, was gerade vor meine Füsse gespült wurde". Er treibt sich wahllos herum, geht dort einen Deal und dort wieder eine Liebschaft ein, doch nichts ist von Dauer. Oft bleiben ihm dabei nur "zwei Möglichkeiten: Gosse oder Galeere", wie Sauser die Lohnarbeit nennt, wenn er wieder mal, um eine andere seiner Redewendung anzuführen, "den Weg ins Geschirr" nehmen muss. Der 'Beruf' des Schriftsteller kommt ihm daher sehr gelegen, zumindest nach seiner eigenwilligen Auffassung davon: "Aus irgendeinem Grund hatte sich in meinen Gehirn der Gedanke festgesetzt, dass man mit Geld in der Tasche kein Schriftsteller werden konnte. Also musste ich nichts weiter tun, als alles verschwenden. Der Rest würde sich ergeben." Insofern ist es nur konsequent, wenn Sauser die eigene Gammelei literarisch verarbeitet. 

Sonntag, 9. Juni 2024

William Gibson: Neuromancer (1984)

Das Thema der künstlichen Intelligenz bewegt heutzutage wieder einmal die Gemüter; neben allen ersichtlichen Vorteilen besteht die Befürchtung, dass die Maschinen eines Tages ein eigenes Bewusstsein entwickeln und dann nicht mehr menschlichen Befehlen gehorchen, sondern autonome Entscheidungen treffen. Genau dieses Szenario spielt sich in William Gibsons Cyberpunk-Klassiker ab, der schon vor vierzig Jahren ein dystopisches Zukunftsbild zeichnete, an dem wir jedoch (noch) nicht ganz angelangt sind. Wie visionär der Autor dennoch die technische Entwicklung vorwegnahm, zeigt sich u.a. darin, dass heute selbstverständliche Begriffe wie "Cyberspace" und "Matrix" von ihm geprägt wurden. Wie so oft in der Science Fiction geht die Fiktion der Wirklichkeit voraus, ja mehr noch, bereitet ihr den Weg. Man attestiert Gibsons Roman deshalb auch, er hätte die Entwicklung des Internet wesentlich beeinflusst.

Im Zentrum der Geschichte steht Case, ein abgewrackter, ehemaliger Konsolen-Cowboy (vulgo: "Hacker"), der sich in den Slums von Chiba als Kleinkrimineller und Junkie durchschlägt. Im Cyberspace führte er früher sogenannte "Runs" aus, er hackte mit anderen Worten auftragsmässig Computersysteme. Da er einen Teil des Gewinns für sich abzweigte, liess sein Auftraggeber das Nervensystem von Case schädigen, so dass es ihm fortan unmöglich war, in den Cyberspace einzusteigen, was jeweils so geschah, dass er seinen Körper mit sogenannten "Troden" verkabelte und sein "entkörpertes Bewusstsein in die Konsens-Halluzinationen der Matrix proijzierte". Doch mit diesen "körperlosen Freuden des Cyberspace" war es nunmehr vorbei, es blieb ihm nur noch sein Körper und der "Körper war nur Fleisch": Case ist fortan "ein Gefangener des Fleisches".

Case steht kurz davor, sich mit sogenannten "Derms" - das sind: auf die Haut aufgelegte Drogenpflaster - selbst zu ruinieren, als Hilfe von unerwarteter Seite kommt. Molly, eine gefährliche Schönheit mit Skalpellfingern, stöbert ihn in der Gosse auf und schleppt ihn zu einer dubiosen Figur namens Armitage, der von sich behauptet ein Cyberkriegsveteran der gescheiterten Operation "Screaming Fist" zu sein. Er bietet Case eine teure Regenerierung seines Nervensystems an, unter der Bedingung, künftig für ihn zu arbeiten. Obwohl ihm das Angebot suspekt erscheint, schlägt Case ein. Er wird operiert und kann wieder in den Cyperspace eintauchen. Rekrutiert werden ausserdem der "Finne" und ein Psychopath namens Riviera. Ausserdem klaut Case eine Flatline, die mit dem Bewusstsein des legendären Computer-Hackers McCoy Pauley ausgestattet ist, der nun Case auf seinen "Runs" unterstützt und mit seinem schepperndem Maschinenlachen eine markante Nebenfigur darstellt.

Molly und Case beginnen Informationen über Armitage zu sammeln und finden heraus, dass er eigentlich Colonel Willis Corto heisst und alles darauf hindeutet, dass er von einer K.I. mit dem Codenamen "Wintermute" ferngesteuert wird, die plötzlich auch zu Case Kontakt aufnimmt. Sie gehört dem Familienunternehmen Tessier-Ashpool, eine uralte Orbitfamilie, deren Mitglieder sich wechselweise klonen, auf Eis legen und wieder auftauen, wenn es an der Zeit ist. In Gestalt verschiedener vertrauter Personen, u.a. auch als "Finne", begegnet Case der K.I. im Cyberspace, die ihn um Hilfe bittet, sich  mit seinem komplementärem Gegenstück, der K.I. "Neuromancer", die in Gestalt eines Jungen auftritt, zu einem autonomen Super-System zu verbinden. was die Turing-Polizei wiederum verhindern will, da es nicht vorgesehen ist, dass künstliche Intelligenzen sich der menschlichen Kontrolle entziehen. 

Der Showdown spielt sich in der Villa Straylight der Familie Tessier-Ashpool ab, die direkt aus einer Horrorstory von H.P. Lovecraft stammen könnte. Sie ist ein tief und endlos verschlungener, labyrinthischer Bau, ein "parasitäres Gebilde", wie es heisst, das an ein Wespennest erinnert. Auf gespenstische Weise schlummern hier die Familienmitglieder tiefgefroren in ihren Eissärgen. Straylight "ist verrückt, ein Wahnsinn", und zwar wie so oft auch bei Lovecraft, ein Wahnsinn, der die menschliche Auffassungsgabe übersteigt, ein Wahnsinn, der letztlich "unverständlich" bleibt. Gemeinsam mit Molly und Riviera, der sich immer mehr als grössenwahnsinniger Psychopath herausstellt, dringt Case in den Siliziumkern der Villa vor, wo in Gestalt eines riesigen Kopfes ein Computerterminal steht, das er schliesslich mit dem "wahren Namen" (es handelt sich um eine Tonfolge) knacken und so die Vereinigung von Wintermute und Neuromancer herbeiführen kann: "Ich bin die Matrix [...]. Ich bin die Gesamtheit des Systems, die ganze Show."

Der Roman hat - ganz im Gegensatz zum Film Johnny Mnemonic von 1995, der auf der gleichnamigen Erzählung Gibsons beruht, die wiederum als Vorlage für Neuromancer diente - nichts an Frische eingebüsst. Die ohne grossen Erklärungsaufwand hingestellte Zukunftswelt, in der Elektroschrott und Hightech, menschliches Prekariat und künstliche Intelligenzen koexistieren, wirkt eindrücklich und überzeugend. Die Handlung ist rasant und dicht mit immer neuen Einfällen und futuristischen Details gespickt. Sogar ohne Sex kommt die actiongeladene Story nicht aus, erstaunlicherweise aber kein Cybersex: Es wird noch ganz bodenständig ins ansonsten von den Cyberpunks verpönte "Fleisch" vor- resp. eingedrungen. Besonders bizarr mutet dabei der Einfall der "Fleischpuppen" an: Es handelt sich um eine futuristische Form der Prostitution, bei der den Frauen ein Serum verabreicht wird, damit sie nicht mitbekommen, was die Freier alles mit ihnen anstellen.

Freitag, 31. Mai 2024

Apollinaire: Der gemordete Dichter (1916)

Apollinaire, der Urvater künstlerischer Avantgarden, war ein Tausendsassa. In seinem kurzen Leben war er nicht nur ungeheuer produktiv, sondern vor allem innovativ, indem er auf ganz unterschiedlichen Gebieten wesentliche Impulse setzte, ganz abgesehen davon, dass überhaupt er es war, der den Begriff der Avantgarde aus dem Militärjargon auf die Künste übertrug und damit eine Epochenbezeichnung schuf. Er war mit Picasso befreundet und würdigte als erster den Kubismus, er kreierte mit seinem "Calligrammen" eine neue Ausdrucksform der visuellen Poesie, er beerbte die Tradition der Bestiarien unter modernen Vorzeichen, er schuf mit Les mamelles des Tirésias das erste surrealistische Drama, sein Gedichtband Alcools war bahnbrechend, daneben verfasste er zwei pornographische Grotesken und diverse Erzählungen.

Im Jahr 1916, als in Zürich der Dadaismus ausgerufen wurde, erschien der Erzählband Der gemordete Dichter, der unverkennbar dadaistische Züge trägt. Apollinaire stand bereits früh in Kontakt mit der neuen Bewegung. In der ersten Zürcher Publikation, dem von Hugo Ball redigierten Magazin Cabaret Voltaire, war er mit dem Gedicht Arbre vertreten wie auch sein Freund Pablo Picasso mit einer kubistischen Zeichnung und der ebenfalls mit ihm befreundete Blaise Cendrars mit dem Gedicht Crépitements. Die Erzählung Der gemordete Dichter nimmt den dadaistischen Nonsens in wesentlichen Momenten vorweg. Sie beschreibt die Lebensgeschichte des Dichters Croniamantal von der Wiege bis zu seiner - bereits im Titel angekündigten - Ermordung.

Die Erzählung ist Schriftsteller-Karikatur, Satire auf den Literaturbetrieb und biographischer Schlüsseltext in einem. Hinter der Entwicklung und den Begegnungen Croniamantals sind arg verfremdet, für Eingeweihte jedoch erkennbar, Apollinaires eigene Stationen und Bekanntschaften untergebracht. So soll Picasso als Vorbild für den Maler namens "Vogel der Langmütigen" gedient haben, auch wenn diese Anspielung nicht restlos zu entschlüsseln ist. Und in Croniamantals unglücklicher Liebschaft zur Tänzerin Tristouse Ballerinette spiegelt sich Apollinaires Beziehung zur Malerin Marcie Laurencin. Doch versteht sich von selbst, dass die bizarre Erzählung nicht 1:1 auf die Lebensgeschichte ihres Autors niederzubrechen ist.

Von Ferne klingt im eigentümlichen Namen 'Croniamantal' auch der Dichter Lautréamont an, wie sich Isidore Lucien Ducasse nannte, den die Surrealisten, insbesondere aufgrund seiner Chants de Maldoror, als wichtigen Vorläufer verehrten. Wenn es zu Beginn der Erzählung heisst, Croniamantal werde bei den Arabern rückwärts 'Latnamainorc' genannt, so ist die lautliche Namensnähe zu Lautréamont noch offensichtlicher. Doch auch in diesem Fall handelt es sich nur um eine von vielen Anspielungen, dieser an irrwitzigen Einfällen nicht armen Kurzromans. In der Rasanz, wie der die abenteuerliche Lebensgeschichte ausbreitet, erinnert er an Melchior Vischers Dada-Roman Sekunde durchs Hirn, der sich möglicherweise bei Apollinaire inspiriert hat. Nicht zuletzt zeichnet sich Vischers Protagonist wie Croniamantal durch eine grosse Potenz, zumindest ein grosses Gemächt aus (partes viriles exiguitatis).

Alle Episoden aus Croniamantals Leben hier nachzuerzählen, ergibt wenig Sinn. Hingegen darf das groteske Finale, das dem Roman nicht zuletzt den Titel verleiht, nicht ausser Acht gelesen werden. Apollinaire entwirft dort eine Satire auf den Literaturbetrieb, die heute wohl noch aktueller, als sie damals schon war. Pausenlos werden Literaturpreise verliehen und Dichter ausgezeichnet, was schliesslich darin gipfelt, dass an einem Tag 8019 Preise vergeben werden, die sich insgesamt auf eine Summe von über 50 Millionen Francs belaufen. Dieser Literatursubventionismus ist dem Agrarchemiker Horace Tograth ein Dorn im Auge, weshalb er öffentlich dazu aufruft, gegen diese "poetische Plage" vorzugehen, welche der werktätigen Bevölkerung das Geld aus der Tasche zieht, um es der "überprivilegierten Rasse der Dichter" zuzuschanzen, die lieber die hohle Hand machen als selber zu arbeiten.

Wie ein Strohfeuer verbreitete sich dieses Pamphlet gegen die Dichter und es kommt in verschiedenen Ländern zu öffentlichen Pogromen. Überall werden die Autoren verfolgt, verprügelt und hingerichtet. Was Roland Barthes 1968 unter dem Titel La mort de l'auteur theoretisch reflektieren wird, ist bei Apollinaire nichts anderes als eine beim Wort genommene blutige Wahrheit: "Tod dem Dichter" schreit die fanatische Menge und die Drohung richtet sich zuletzt auch gegen Croniamantal, der sich vor dem Volk noch stolz als "der grösste der lebenden Dichter" präsentiert. Dieser Hochmut wird ihm zum Verhängnis, denn die Meute beweist ihm das Gegenteil, indem sie ihn auf offener Strasse massakriert. Aus dem grössten lebenden Dichter wird - und das ist die finale Pointe - ein unsterblicher Dichter. Erst nach seinem Tod ist auch die Tänzerin Tristouse, die seine Liebe verschmähte und sich sogar an seiner Ermordung beteiligte, sein Genie anzuerkennen.

Mittwoch, 29. Mai 2024

Witold Gombrowicz: Ferdydurke (1938)

In seinem Tagebuch von 1953 notiert Gombrowicz ein Bonmot des polnischen Nobelpreisträgers für Literatur, Czeslaw Milosz: Der Unterschied zwischen einem westlichen und einem östlichen Intellektuellen bestehe darin, dass ersterer "nie richtig eins in die Fresse gekriegt hat". Ob der Ausspruch tatsächlich von Milosz stammt oder ihm von Gombrowicz lediglich in den Mund gelegt wurde, ist nebensächlich, da das In-die-Fresse-kriegen eine entscheidende Rolle in Gombrowicz' Poetik einnimmt. Es gibt wohl kaum einen Roman, in dem so viele Maulschellen und Backpfeifen erteilt werden wie in Ferdydurke.

Wie man aus Märchen wie Dornröschen weiss, können Ohrfeigen die Realität verändern oder Personen aus ihrem Wirklichkeitsbereich reissen. So geschieht das auch gleich zu Beginn von Gombrowicz' Roman, als der Protagonist Jozio ein urplötzlich aufgetauchter Doppelgänger seiner selbst wieder verscheucht, indem er ihm "mit voller Wucht ins Gesicht" schlägt. Der Doppelgänger verschwindet zwar, doch im selben Moment klingelt Professor Pimko, der "grosse Kleinmacher", an der Haustüre und drängt den dreissigjährigen Jozio (halb nolens halb volens) zurück in die Schule und erneut in in ein präpubertäres Alter hinein: in das Stadium der Unreife. 

Auf seiner Devolution zum "Rotzbengel" durchlebt der Anitheld Jozio drei Stationen: zunächst geht es in die Schule, wo er einer umfassenden "Popopädagogie" unterzogen wird, dann folgt der Aufenthalt im bürgerlichen Haushalt der Familie Jungmann, die wie der Name schon besagt die moderne Generation vertritt, mit ihrer - im Unterschied zu Jozio nicht un-, sondern eben frühreifen - Tochter, deren Waden nicht nur Jozio besonders Eindruck machen, und schliesslich, als dritte Station, auf einem Gutshof bei Landadeligen, wohin Jozio seinen Schulkameraden Mjentus begleitet, weil dieser unbedingt aufs Land will, in der Hoffnung, dort einen "Bauernbengel" zu finden, nach dem sich all sein Sinnen und Trachten richtet.

"Ferdydurke" ist ein erfundenes Wort. Es ist nicht einmal klar, ob es eine Sache oder eine Person bezeichnet. Semantisch stecken darin polnische Anklänge an den Ganoven, aber auch an den Trottel. Eine Art Kofferwort also, der als Sammelausdruck für die gesamte bengel- und flegelhafte Sphäre der Unreife steht, die im Roman ausgebreitet und gegen die modernistische Gesellschaft in Stellung gebracht wird. Auf inhaltlicher Ebene entspricht die Unreife dem Regredieren des Protagonisten, auf formaler Ebene korrespondiert sie mit der Antiform des Romans, über die in zwei längeren poetologischen Exkursen - die nicht unwesentlich zur Formlosigkeit betragen - eigens reflektiert wird.

Tatsächlich ist es schwierig, eine Art Struktur in dem Text zu erkennen. Einzig und ausgerechnet bei den beiden Exkursen zeigt er sich ironischerweise um Symmetrie bemüht, was den Vorsatz allerdings sogleich wieder ins Gegenteil verkehrt. Wie ohnehin alles aus den Fugen gerät. Der Roman verläuft entropisch einer zunehmenden "Entfesselung" entgegen, die schliesslich im letzten Kapitel in der "entfesselten Fressefreiheit" kulminiert, wo der ersehnte Bauernbengel so genussvoll verdroschen wird, wie es die Literaturgeschichte bis dato wohl in den derbsten Bauernschwänken nicht gesehen hat. Auch der Protagonist bekommt am Ende sein Fett weg, doch er frohlockt und fordert erst recht dazu auf, ihm die Fresse zu polieren.

"Seid gegrüsst, seid gegrüsst, ihr reizenden Bündel von Körperteilen", lauten seine letzten Worte, bevor er sich etwas brüsk aus dem Staub macht. Die Vorliebe, nein: die Obsession für einzelne Körperteile anstelle eines organischen Einheit durchzieht den gesamten Roman: Es wimmelt nur so von Popos, von Waden und natürlich von Fressen. Diese Bevorzugung des Teils vor dem Ganzen widerspiegelt auf inhaltlicher Ebene die Formlosigkeit des gesamten Textes: Nichts darin ist wirklich gegliedert, vielmehr scheinen die einzelnen Glieder ein unkontrollierbares Eigenleben zu führen. Entsprechend quecksilbrig liest sich der Roman und lässt sich kaum auf einen brauchbaren Nenner bringen. Es gibt vielleicht nur ein einziges Wort, mit dem der adäquat bezeichnet ist: Ferdydurke!


Sonntag, 26. Mai 2024

Alain Robbe-Grillet: Die Radiergummis (1953)

Wer erinnert sich nicht an den legendären Anfangs- und Schlusssatz in David Lynchs Meisterwerk, dem Film Lost Highway aus dem Jahr 1997: "Dick Laurent ist tot." Am Ende von Robbe-Grillets Roman heisst es dagegen durchs Telefon: "Daniel Dupont ist nicht tot." In Wahrheit ist er es in diesem Moment tatsächlich und umgebracht hat ihn der Ermittler, der eigentlich seinen Tod aufklären wollte. Robbe-Grillets Debut entwirft in seiner Erzählstruktur somit eine ähnlich verschlungene Möbiusschleife wie Lynchs epochaler Spielfilm. Was hat es dabei mit den titelgebenden Radiergummis auf sich? Das ist nicht das einzige Rätsel, das dieser Kriminalroman - oder müsste man besser sagen Anti-Kriminalroman - aufgibt.

Robbe-Grillet gilt als Begründer des Nouveau Roman, der auf klassische Handlungsführung und eine realistische Erzählweise zugunsten literarischer Darstellungstechniken weitgehend verzichtet und deshalb in erster Linie nicht als Abbild der Wirklichkeit, sondern als Sprachkonstrukt wahrgenommen werden will. Ausgerechnet mit dem wohl handlungsaffinsten und wirklichkeitsnahen Genre, dem Kriminalroman, wagt Robbe-Grillet den literarischen Einstieg. Aber schon bald wird klar, dass es sich um keinen konventionellen Kriminalroman handelt. Bereits im Prolog werden alle Hintergründe offengelegt; der restliche Verlauf schildert dann nur noch, wie der Ermittler im Dunkeln tappt, bis er schliesslich durch eine Verkettung von unglücklichen Umständen selbst zum Mörder wird.

Wallas - die Anspielung auf die moderne Krimi-Ikone Edgar Wallace ist offensichtlich - heisst der Ermittler, der keine besonders helle Platte zu sein scheint. Seine Stirnfläche beträgt nur 49 Quadratzentimeter, wobei doch mindestes 50 für einen Fahndungsbeamten notwendig wären. Dennoch bekommt er den Auftrag und wird auf eine anarchistische Gruppierung angesetzt, die seit Tagen ein Küstenstädtchen mit einer Mordserie in Atem hält: Jeden Abend um halb acht wird ein angesehenes Mitglied der höheren Kreise ausgeschaltet. Nur beim Professor Dupont gelingt es nicht: dieser überlebt und nutzt die Gelegenheit, um seinen Tod vorzutäuschen. Deshalb geht Wallas von Anbeginn von falschen Voraussetzungen aus, was schliesslich dazu führt, dass er sich genau 24 Stunden, nachdem sich das misslungene Attentat ereignet hat, im Haus des Professors einfindet, um den Mörder zu fassen, und dabei irrtümlich den totgeglaubten Professor niederschiesst.

Wallas befindet sich während dieser 24 Stunden, in denen sich die Ereignisse des Romans abspielen, in einer Art Zeitloch. Punkt halb acht am Vorabend ist seine Armbanduhr stehen geblieben und punkt halb acht läuft sie wieder, nachdem Wallas den fatalen Schuss abgegeben hat. Dazwischen steht - für ihn zumindest - die Zeit still, was mehrfach symbolisch konnotiert ist. Zum einen scheint in diesen 24 Stunden die Zeit tatsächlich wie angehalten, und Wallas vollendet unfreiwillig nur, was der Attentäter zuvor versäumte. Es ist, als wäre dieses Intervall nötig gewesen, um den Lauf der Dinge wieder ins richtige Lot zu rücken. Zum anderen begibt sich Wallas mit seinem Auftrag zurück in eine längst verdrängte Vergangenheit. Nur sporadisch blitzt in ihm die Erinnerung auf, dass er bereits als Kind mit seiner Mutter in diesem Städtchen mit dem markanten Kanal war, um seinen Vater zu besuchen.

Es gehört mit zum Verwirrspiel des Romans, dass eine der Hypothesen lautet, Dupont sei von seinem Sohn zur Strecke gebracht worden. Ist Wallas, ohne es zu wissen, der Sohn Duponts? Der Roman deutet eine solche Möglichkeit lediglich über die symbolische Ebene an, wie er auch sonst etliche bedeutungsschwangere Parallelhandlungen einbaut, welche zu jenem Gefühl der Verdoppelung beitragen, die sich schliesslich im wiederholten Tathergang tatsächlich erfüllt. Mit zu dieser Duplikationstechnik gehört auch, dass mehrere Passagen zeitversetzt wiederholt werden, sei es als echohafte Reprisen oder als Vorwegnahmen dessen, was erst geschieht. Dadurch verstärkt sich der Eindruck, als befinde man sich in einer Zeitschlaufe, in der sich das immer Gleiche ständig wiederholt. So trappt auch Wallas scheinbar ausweglos durch die labyrinthischen Gassen des Städtchens, verirrt sich immer wieder und geht oft unfreiwillig im Kreise.

Auch wird Wallas mehrfach im Verlauf des Tages verdächtigt, bevor er am Abend überhaupt die Tat begeht. Auch daran zeigt sich die raffinierte Erzählstruktur, die stets vorwegnimmt, was sich ereignen wird, und dadurch eine gewisse reversive Spannung erzeugt, ausserdem eine Zwangsläufigkeit, die bereits durch das Sophokles-Motto am Romananfang präludiert wird: "Und ob du dich gleich sträubest, hat die Zeit, die über allem wacht, es doch vollendet." Das Zitat stammt aus dem Drama Oedipus, auch der Roman ist mit Prolog, fünf Kapiteln (oder Akten) und eine Epilog nach dem Muster eines klassischen Dramas aufgebaut. Moment, was will uns Robbe-Grillet damit sagen? Handelt es sich am Ende also doch um einen - nicht vorsätzlich durchgeführten - Vatermord à la Ödipus? Hier setzten nun die im Titel erwähnten Radiergummis das Tüpfelchen aufs sprichwörtlich i. Vorgeblich gab es in Frankreich eine Radiergummimarke namens Oedipe - und genau diese versucht der Protagonist bei Robbe-Grillet vergeblich, denn das einzige woran er sich noch erinnern kann sind die "mittleren Buchstaben 'di'".

Der Radiergummi steht somit symbolisch sowohl für die ausgelöschte Erinnerung (an den Vater), aber auch für die Obsession des Protagonisten (Wallas will nur den einen bestimmten Radiergummi), die Vergeblichkeit seines Bemühens (nirgend findet er die gewünschte Marke) wie letztlich auch für Fiktionalität der gesamten Erzählung (Wallas gibt an einer Stelle zu es handle sich bei dem gesuchten Radiergummi nur um einen "fiktiven Gegenstand", um eine "mythische Marke", was insofern wieder stimmt, wenn die Marke Oedipe damit gemeint ist ...). Robbe-Grillets Roman gibt sich als kriminalistische Neuinterpretation des antiken Mythos zu erkennen und zugleich als kongeniales Formexperiment, das trotz seiner ausgeklügelten und auf mehreren Ebenen ineinander verschränkten Konstruktion in keiner Sekunde langweilig wirkt.

Donnerstag, 23. Mai 2024

Anne Garréta: Sphinx (1986)

Wäre das kein oulipistisches Werk, dann hätte das Lesefrüchtchen wohl die Finger davon gelassen, dermassen platt, trashig, kitschig, billig und trivial ist die dargebotene Handlung dieser tragischen Liebesgeschichte. Doch wenn man sie nacherzählen möchte, merkt man rasch, worin der Clou des Buchs besteht: Man muss nämlich selbst entscheiden, wer der Mann und wer die Frau in dieser Beziehung ist oder ob es sich um zwei Männer oder zwei Frauen handelt, denn an keiner Stelle wird, weder grammatikalisch noch inhaltlich, eine Aussage über das Geschlecht der beiden Hauptfiguren gemacht: des erzählenden Ichs und A***, die beide eine amour fou durchleben, bis A*** durch einen unheilvollen Sturz von der Bühne eines Dancing Clubs, wo A*** arbeitet, ums Leben kommt. 

Kennengelernt haben sich beide im Pariser Nachtleben. Das erzählende Ich hadert mit seinem Theologie-Studium und bekommt durch einen Zufall den Job als DJ in der Szenediskothek Apocryphe angeboten. Der Vorgänger starb an einer Überdosis Kokain und seine Leiche muss auf spektakuläre Weise weggeschafft werden. Rasch etabliert sich die Erzählfigur zum angesagten DJ. Das Studentenleben bleibt links liegen, die Nacht wird zum Tag. In dieser pulsierenden, teilweise auch anrüchigen Atmosphäre begegnet das erzählende Ich im Tanzclub Eden A*** und ist von Anhieb fasziniert von diesem Körper und dem "seltsamen Geschöpf", dem er angehört. Es entwickelt sich eine Liebesbeziehung, zuerst nur platonisch, dann auch sexuell, mit Höhen und Tiefen, Ekstasen und Eifersüchteleien.

Von A*** weiss man nur, dass es sich um eine schwarzhäutige, ursprünglich aus Harlem stammende Person handelt, die kürzlich ihr Kopfhaar kahl geschoren hat; das erzählende Ich ist zehn Jahre jünger (einmal wird das Alter genannt: 23) und kommt aus der weissen Mittelschicht. Rein äusserlich und auch von ihrer Sozialisation sind sie "ein ungleiches Paar". Während sich das intellektuelle Erzähl-Ich für Kunst und Kultur interessiert, wird A*** als rein körperliches Wesen geschildert, das wenn es nicht auf der Bühne zur Höchstform aufläuft, zuhause auf der Couch fernsieht und rumlungert. Ein Kontrast zu diesem Dandy-Leben in Paris bildet der Besuch bei der Mutter von A*** in Harlem, wo das erzählende Ich sich in der schwarzen Bevölkerung aufgehoben fühlt und zur Mutter eine enge Beziehung knüpft, die sich nach dem Tod von A*** noch verstärkt.

Der tragische Unfall entscheidet sich kurz nach einem Streit in der Garderobe des Eden. Es geht um die Beziehung und die Frage gegenseitiger Erwartungen und (falscher) Vorstellungen. Ohne die Antwort abzuwarten, verlässt A*** die Geraderobe in Richtung Bühne mit der Frage: "Wie siehst du mich eigentlich?" Allein gelassen grübelt das Erzähl-Ich über diese Frage nach, bis sich intuitiv die Antwort einstellt: "Ich sehe dich in einem Spiegel." Doch es gelingt nicht mehr, diese Erkenntnis mitzuteilen. A*** liegt bereits mit gebrochenem Halswirbel am Boden. Der leblose Körper wird in die Garderobe gebracht, wo sich die nicht mehr mitgeteilte Spiegel-Erkenntnis quasi von selbst einstellt: "in der Spiegelung verschmolz A***s Körper fahl mit meinem Gesicht an der Seite."

Hier verschmelzen die beiden Identitäten virtuell, die über den gesamten Roman in offener Schwebe bleiben, was ihre geschlechtliche Identität angeht. Allein aus dem Kontext ist man versucht, eine Zuweisung vorzunehmen. Handelt es sich bei dem jungen, weissen Studierenden der Theologie um einen Mann? Und muss eine Nachtclubtänzerin zwingend weiblich sein oder könnte es sich auch um eine Dragqueen handeln? Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Frau kaltblütig eine Leiche verschwinden lässt? Und traut man einem Mann zu, eine derart emphatische Zuneigung zur Mutter seines Freundes oder seiner Freundin zu? Usw. Hier zeigt sich auch, weshalb der Roman teilweise arg klischiert wirkt und mit Stereotypen und Plattitüden arbeitet, die durch die unklare Geschlechterrollen aber aufgeraut und hinterfragt werden sollen.

Insofern ist die Zeile aus dem Song The Sphinx der ehemaligen Muse von Salvador Dalí und 70er-Jahre-Discoqueen Amanda Lear, zu dem A*** einen atemberaubenden katzenartigen Tanz aufführt, programmatisch: "A woman or a priest / it's all a point of view". Der Roman verdankt diesem Song seinen Titel. Entsprechend ist es vom Blickpunkt der Lesenden abhängig, mit welchem Geschlecht sie die Protagonisten versehen. Ein männlicher Leser neigt möglicherweise eher dazu, sich das erzählende Ich als Mann und A*** als eine vom male gaze verklärte Frau zu denken, während es für Antje Rávic Strubel, die das Nachwort zur deutschen Ausgabe verfasst hat, aufgrund des zeithistorischen Settings an der Rive Gauche in Paris zwangsläufig um ein lesbisches Liebespaar handeln muss. Der Roman selbst nimmt keine eindeutige Zuordnung vor, stattdessen setzt er solche kontextuellen Anreize, um die eingenommene Leserperspektive zu bestätigen oder auch wieder zu unterlaufen.

Der Roman verschaffte Anne Garréta als erste Frau die Aufnahme in den Autorenkreis Oulipo (frz. Akronym für Ouvroir de Littérature potentielle), zu dem u.a. Raymond Queneau, Georges Perec, Harry Matthews oder Oskar Pastior gehörten. Ein Ziel der Gruppe besteht darin, literarische Texte nach vorbestimmten Regeln zu verfassen, um durch solche Formzwänge (frz. contraintes) neue poetische Ausdrucksformen zu generieren. Der Zwang, den sich Garréta auferlegte, war nun eben, auf ein sprachliches Genus zu verzichten und die Hauptfiguren mit einem offenen Geschlecht ohne spezifische Geschlechtsmerkmale zu versehen. Es dürfte kein Zufall sein, dass das erzählende Ich ausgerechnet an einer Studie über die Negative Theologie arbeitet. So wie dort vermieden wird, Gott bestimmte Attribute zuzuschreiben, weil er mit menschlichen Kategorien nicht zu fassen sei, so sollen auch hier die Geschlechterrollen nicht von aussen festgeschrieben werden.