Mittwoch, 29. Mai 2024

Witold Gombrowicz: Ferdydurke (1938)

In seinem Tagebuch von 1953 notiert Gombrowicz ein Bonmot des polnischen Nobelpreisträgers für Literatur, Czeslaw Milosz: Der Unterschied zwischen einem westlichen und einem östlichen Intellektuellen bestehe darin, dass ersterer "nie richtig eins in die Fresse gekriegt hat". Ob der Ausspruch tatsächlich von Milosz stammt oder ihm von Gombrowicz lediglich in den Mund gelegt wurde, ist nebensächlich, da das In-die-Fresse-kriegen eine entscheidende Rolle in Gombrowicz' Poetik einnimmt. Es gibt wohl kaum einen Roman, in dem so viele Maulschellen und Backpfeifen erteilt werden wie in Ferdydurke.

Wie man aus Märchen wie Dornröschen weiss, können Ohrfeigen die Realität verändern oder Personen aus ihrem Wirklichkeitsbereich reissen. So geschieht das auch gleich zu Beginn von Gombrowicz' Roman, als der Protagonist Jozio ein urplötzlich aufgetauchter Doppelgänger seiner selbst wieder verscheucht, indem er ihm "mit voller Wucht ins Gesicht" schlägt. Der Doppelgänger verschwindet zwar, doch im selben Moment klingelt Professor Pimko, der "grosse Kleinmacher", an der Haustüre und drängt den dreissigjährigen Jozio (halb nolens halb volens) zurück in die Schule und erneut in in ein präpubertäres Alter hinein: in das Stadium der Unreife. 

Auf seiner Devolution zum "Rotzbengel" durchlebt der Anitheld Jozio drei Stationen: zunächst geht es in die Schule, wo er einer umfassenden "Popopädagogie" unterzogen wird, dann folgt der Aufenthalt im bürgerlichen Haushalt der Familie Jungmann, die wie der Name schon besagt die moderne Generation vertritt, mit ihrer - im Unterschied zu Jozio nicht un-, sondern eben frühreifen - Tochter, deren Waden nicht nur Jozio besonders Eindruck machen, und schliesslich, als dritte Station, auf einem Gutshof bei Landadeligen, wohin Jozio seinen Schulkameraden Mjentus begleitet, weil dieser unbedingt aufs Land will, in der Hoffnung, dort einen "Bauernbengel" zu finden, nach dem sich all sein Sinnen und Trachten richtet.

"Ferdydurke" ist ein erfundenes Wort. Es ist nicht einmal klar, ob es eine Sache oder eine Person bezeichnet. Semantisch stecken darin polnische Anklänge an den Ganoven, aber auch an den Trottel. Eine Art Kofferwort also, der als Sammelausdruck für die gesamte bengel- und flegelhafte Sphäre der Unreife steht, die im Roman ausgebreitet und gegen die modernistische Gesellschaft in Stellung gebracht wird. Auf inhaltlicher Ebene entspricht die Unreife dem Regredieren des Protagonisten, auf formaler Ebene korrespondiert sie mit der Antiform des Romans, über die in zwei längeren poetologischen Exkursen - die nicht unwesentlich zur Formlosigkeit betragen - eigens reflektiert wird.

Tatsächlich ist es schwierig, eine Art Struktur in dem Text zu erkennen. Einzig und ausgerechnet bei den beiden Exkursen zeigt er sich ironischerweise um Symmetrie bemüht, was den Vorsatz allerdings sogleich wieder ins Gegenteil verkehrt. Wie ohnehin alles aus den Fugen gerät. Der Roman verläuft entropisch einer zunehmenden "Entfesselung" entgegen, die schliesslich im letzten Kapitel in der "entfesselten Fressefreiheit" kulminiert, wo der ersehnte Bauernbengel so genussvoll verdroschen wird, wie es die Literaturgeschichte bis dato wohl in den derbsten Bauernschwänken nicht gesehen hat. Auch der Protagonist bekommt am Ende sein Fett weg, doch er frohlockt und fordert erst recht dazu auf, ihm die Fresse zu polieren.

"Seid gegrüsst, seid gegrüsst, ihr reizenden Bündel von Körperteilen", lauten seine letzten Worte, bevor er sich etwas brüsk aus dem Staub macht. Die Vorliebe, nein: die Obsession für einzelne Körperteile anstelle eines organischen Einheit durchzieht den gesamten Roman: Es wimmelt nur so von Popos, von Waden und natürlich von Fressen. Diese Bevorzugung des Teils vor dem Ganzen widerspiegelt auf inhaltlicher Ebene die Formlosigkeit des gesamten Textes: Nichts darin ist wirklich gegliedert, vielmehr scheinen die einzelnen Glieder ein unkontrollierbares Eigenleben zu führen. Entsprechend quecksilbrig liest sich der Roman und lässt sich kaum auf einen brauchbaren Nenner bringen. Es gibt vielleicht nur ein einziges Wort, mit dem der adäquat bezeichnet ist: Ferdydurke!


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