Mittwoch, 6. Dezember 2023

Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen (1814)

Heinrich Zschokke, ein äusserst produktiver Vielschreiber und engagierter Politiker um 1800, ist heute kaum noch dem Namen nach bekannt. Vielleicht weiss man noch, dass sich Zschokke als Grossrat des Kantons Aargau stark für eine moderne Verfassung der Schweiz einsetzte und dass er in jüngeren Jahren zusammen mit Heinrich von Kleist und Christoph Martin Wielands Sohn Ludwig einen Schreibwettbewerb durchführte. Als er 1802 noch in Bern wohnte, hing in seinem Zimmer ein Kupferstich mit dem Titel La cruche cassé, zu dem jeder der drei Freunde eine Geschichte erfinden sollte. Kleist schrieb sein noch heute berühmtes Lustspiel Der zerbrochene Krug, Zschokke eine gleichnamige Erzählung, die wie sein gesamtes Oeuvre mittlerweile als vergessen gelten muss.

Literarisch überlebte von Zschokke lediglich die sprichwörtlich gewordene Gestalt des Hans Dampf in allen Gassen. Sie entstammt einer Erzählung gleichen Titels, die lose an die frühneuzeitlichen Schwankgeschichten der Schildbürger aus dem Lalebuch von 1597 anknüpfen, die später wiederum als Vorbild für Gottfried Kellers Seldwyler-Geschichten dienten. Aus dem Dorf Schilda im Lalebuch wird bei Zschokke die Stadt Lalenburg und bei Keller schliesslich das Zürcherische Seldwyla. Möglicherweise kannte Keller sogar Zschokkes Adaption, jedenfalls klingt seine ebenfalls sprichwörtlich gewordene Seldwyler-Erzählung Kleider machen Leute bei Zschokke bereits an: "Das Kleid macht den Mann!"

Multum non multa lautet eine lateinische Spruchweisheit, die besagt, man soll sich auf eine Gesamtheit konzentrieren, anstatt sich in Vielerlei zu verzetteln. Genau letzteres macht aber Hans Dampf aufgrund der ihm angeborenen "Schmetterlingshaftigkeit seines Gemüts". Er ist ein unruhiger Geist: "Zu sogenannter Gründlichkeit des Wissens fehlten ihm ohnehin Laune und Beruf. Er war rastlos tätig, man möchte sagen, ein quecksilberner Mensch, mischte sich in alles, wollte alles wissen, alles sagen, alles tun -". Bei den einfältigen Lalenburger gelten diese Eigenschaften gerade umgekehrt für "Universalgenialität" und Hans Dampf, der Sohn des Bürgermeisters gar als "Alkibiades", dem die Frauenherzen nur so zufliegen.

Doch im Unterschied zum historischen Alkibiades erweist sich Hans Dampf, wenn wundert's, alles andere als ein grossartiger Staatsmann von Format. Vielmehr vergnügt er sich als Schürzenjäger, da er es partout vermeiden will, mit der ihm zugedachten Rosina liiert zu werden, die zwar aus reichem Elternhaus stammt, leider aber bucklig ist. Als er bei einem seiner nächtlichen Abenteuer direkt aus dem Fenster auf das kostbare Geschirrladung des unten in der Gasse durchfahrenden Töpfers kracht, bringt er die Bevölkerung gegen ihn auf und landet als "Stifter alles Übels" im Kerker, aus dem er aber mit einer List wieder entfliehen kann. Die Stimmung im Dorf ändert sich schlagartig wieder, als Hans Dampf vom Fürst Nikodemus an den Hof gerufen wird, weil er angeblich Tieren das Sprechen beibringen kann.

Mit dieser Kunst ist es genauso wenig weit her wie mit allen anderen Fähigkeiten Hans Dampfs. Er ist nicht einmal in der Lage die soignierten französischen Einsprengsel in der Rede des Fürsten richtig zu verstehen. Als er mit "mon cher" angesprochen wird, meint er, es gehe um seine 'Scher' (Schere). Mehr als ein kläffendes "Ma Ma" vermag er dem Hund auch nicht antrainieren, trotzdem zeigt sich der mindestens ebenso naive Fürst beeindruckt, als der Hund coram publico vollkommen korrekt die Frage beantwortet, wen ein Kind zuerst im Leben erblickt (eben seine 'Mama'). Immerhin erweist hier Hans Dampf einen Restwert an Bauernschläue, getreu nach dem Motto: Im Reich der Idioten gilt selbst ein schwaches Licht als helle Birne.

Nach diesem Muster reihen sich Episoden an Episoden, die allesamt dem Grundsatz sancta simplicitas verpflichtet sind. Als Ouvertüre beginnt die Erzählung mit eine satirischen Absage an die Aufklärung: Eine lalenburgische Maxime besteht darin, "dass Aufklärung und Kenntnisse die tödlichsten Gifte sind, welche man einem Volke beibringen kann. Europa hat den grössten Teil seiner Übel nur der Selbstdenkerei zu verdanken." Zschokkes Geschichte entpuppt sich damit als eine weitere Variante von Erasmus' Lob der Torheit, das unter ironischem Deckmantel die Vorzüge der Dummheit preist und damit eigentlich eine Gesellschaftskritik qua Affirmation vornimmt. Die Geschichte endet denn auch mit einer längeren Rede von Hans Dampf, der kurz vor seiner Ernennung zum Konsul seine 'Klugheitslehre' zum Besten gibt, die nichts anderes als ein Lob der Einfalt ist: "Selig sind die Armen im Geiste. Die sehen in ihrer Einfalt mehr als die von Weisheit Verblendeten."

Donnerstag, 30. November 2023

Chris Kraus: I love Dick (1997)

Nachdem das Lesefrüchtchen mit G. einen Roman gelesen hat, der die unbeholfene Strichzeichnung eines Pimmels enthält, scheint ihm ein Buch mit dem Titel I love Dick die folgerichtige Lektüre zu sein. Der Titel ist natürlich zweideutig zu verstehen - oder mehr noch ist der Titel zunächst nichts anderes als eine plakative Provokation. Denn 'Dick' bezeichnet auf der Erzählebene weniger das männliche Gliedteil als ein erfolgreicher Universitätsprofessor namens Dick, der aber tatsächlich als Sinnbild des inkarnierten Phallogozentrismus figuriert, seinen Namen symbolisch folglich zurecht trägt. 

Das Buch gilt als Referenzwerk, ja als Klassiker feministischer Literatur. Um das zu begreifen, braucht es einige Zeit. Erst in der zweiten Hälfte entfaltet das Buch sein wahres Potential und beginnt wütend, kontrovers und politisch zu werden. Die Geschichte hebt damit an, dass die Ich-Erzählerin, die weitgehend identisch mit der Autorin Christ Kraus ist, und ihr Mann bei Dick eingeladen sind, wo sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Was sich zwischen den beiden an diesem Abend abspielt, nennt Kraus einen "Konzeptfick". Wie bei der Konzeptkunst geht es wohl auch da weniger um die tatsächlich Ausführung, sondern um die reine Idee. 

Aus dem Konzeptfick entwickelt sich daher naheliegender Weise ein Kunstprojekt. Chris und ihr Mann Sylvère beginnen Liebesbriefe an Dick zu schreiben, die sie jedoch nicht abschicken. Was als Spass anfängt, wird für Chris immer ernster, so dass sie sich schliesslich von ihrem Mann trennt, unter anderem weil sie erkennt, dass sie nicht mehr als eine bessere Partybegleitung ihres angesehenen Gatten ist, in dessen Schatten ihre eigene Existenz als Regisseurin gleichsam "ausgelöscht" wurde. Sie übergibt Dick die Briefe und verbringt sogar eine Nacht mit ihm, was jedoch nur zu erneuter Enttäuschung führt, als sie post coitum feststellen muss, dass für Dick der "subtilste, psychowissenschaftliche Blowjob überhaupt", den sie ihm verpasste, nicht mehr als eine willkommene Nummer war, weil er beschlossen habe, "niemals mehr Nein zu sagen".

Selbst beim romantisch idealisierten Dick fühlt sich Chris also einmal mehr als Frau ausgenutzt, gedemütigt und beschämt. Scham ist ein entscheidendes Stichwort für den zweiten Teil des Buches, wo Kraus die Frage erörtert, weshalb für Frauen sooft schambehaftet sei, was Männer berühmt mache, zum Beispiel das Schreiben "in der 1. Person", sich selbst zum Thema zu machen. Gerade dies verfolgt Chris Kraus jedoch konsequent in ihrem Buch, das nicht nur die radikale Ich-Perspektive wählt, sondern überdies mit Klarnamen arbeitet. Alle Personen sind leicht als ihre realen Vorbilder identifizierbar, selbst Dick, dessen Nachname zwar nie genannt wird, hinter dem jedoch unverkennbar der Medientheoretiker Dick Hebdige steht. Die autofiktionale Vermischung zwischen Text und Lebenswelt führt sogar so weit, dass das Buch im Verlag von Sylvère Lotringer, der Edition Semiotext(e), erschienen ist.

Obschon die Desillusionierung mit Dick quasi die feministische Wende bei Chris Kraus initiiert, hört sie nicht auf, Dick Briefe zu schreiben. Bloss sind es nun keine Liebesbriefe im eigentlichen Sinne mehr, sondern ein "Manifest" mit dem provokanten Titel "Jeder Brief ist ein Liebesbrief", das sich insbesondere mit feministischer Kunst auseinandersetzt, mit Ausstellungen von Eleanor Antin, Miriam Shapiro, Hannah Wilke, Judy Chicago u.a. oder mit feministischen Vordenkerinnen wie Simone Weil. Aber auch die Marginalisierung durch das eigene Judentum (das "Itzig"-Sein) kommen zur Sprache und vor allem die fehlende öffentliche Anerkennung von Frauen. Die Frage: "Wer darf sprechen und warum?" ist leitend und die von der Autorin gezogene Bilanz ernüchternd: nach wie vor werde der weibliche Diskurs strukturell unterdrückt. 

Aus dieser Bilanz, dass es "nicht genug niedergeschriebene weibliche Unbändigkeit gibt", leitet Chris Kraus das Kernanliegen ihres Buches ab, das sich in einer Schlüsselpassage verdichtet, die es verdient, ausführlich zitiert zu werden: "Ich habe mein Schweigen und alles Verdrängte mit dem Schweigen des gesamten weiblichen Geschlechts zusammengeführt, und mit all dem, was es verdrängt. Ich glaube, dass es sich bei der blossen Existenz von sprechenden, seienden, paradoxen, unerklärlichen, schnoddringen, selbstzerstörerischen, doch in allererster Linie öffentlichen Frauen um das überhaupt Allerrevolutionärste auf der ganzen Welt handelt." Aus diesem Statement erklärt sich auch die radikale Selbstentblössung, die sich die Autorin gibt. Ihr Ziel ist es, eine "Ehrlichkeit" zu erreichen, welche - einem zitierten Wort René Crevels zufolge - die "Ordnung bedroht".

Ordnung - gemeint ist in diesem Kontext selbstredend die patriarchale Ordnung, mit der das Buch auf eine fulminante, schamlose und deshalb mitunter auch exhibitionistische Weise abrechnet. Doch ist die Autorin zu klug, als dass sie dies nicht mit in ihre Erzählstrategie einkalkuliert, denn erst die Tabuverletzung vermag ihrer Ansicht nach eine Enttabuisierung herbeizuführen. Ist das Experiment gelungen? Dem Buch selbst ist - als ironische Volte - das eigene Scheitern eingeschrieben. Dick liest die an ihn gerichteten Briefe, insbesondere das "Manifest", erst gar nicht, dann nur flüchtig, ignoriert die Absenderin und ihr Anliegen also weitgehend, und bequemt sich erst durch die nachdrückliche Bitte des Ex-Partners Sylvère endlich zu einer Antwort. Diese ist denn auch an Sylvère direkt und nicht etwa an Chris gerichtet - sie bekommt lediglich dasselbe Schreiben in Kopie. Krasser könnte der postulierte weibliche Diskursausschluss nicht demonstriert werden.


Donnerstag, 16. November 2023

John Berger: G. (1972)

G. - so lautet das Initial des Protagonisten, der - wenn es nach seinem Vater gegangen wäre - Giovanni heissen würde. Den wirklichen Namen erfahren wir nie, dafür wissen wir, dass der Junge in der Schule den Übernamen Garibaldi (nach dem italienischen Freiheitskämpfer) erhielt, weil sein (unehelicher) Vater Italiener war. Im Deutschen besitzt G. - ausgesprochen als 'G-Punkt' - freilich noch eine weitere, sexuelle Bedeutung: Gemeint ist damit landläufig die sogenannte Gräfenberg-Zone, die erogene Zone der weiblichen Vagina. Ob diese Allusion auch im Englischen, der Original-Sprache des Romans, mitschwingt, weiss das Lesefrüchtchen nicht. Ganz unpassend wäre es jedenfalls nicht, zumal dieser G., dieser ungenannte Giovanni, seinem Namen mehr als nur gerecht wird: Handelt es sich doch um "Don Juan" höchstpersönlich.

Wer nun einen erotischen Roman erwartet, liegt falsch, obschon es explizite Szenen gibt, ja sogar pennälerhafte Strichzeichnungen von Geschlechtsteilen, was aber niemals pornographisch wirkt, da die Prosa durchwegs durch- und metareflektiert ist, was den Roman zu einem (frühen) Vertreter der literarischen Postmoderne macht. Wie schon in den klassischen Bearbeitungen des Don Giovanni-Stoffes ist auch hier die Verführer-Geschichte eingebettet in einen zeithistorischen Kontext. Der Roman bietet ein episches Panorama vom Burenkrieg in Südafrika bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im mittleren und zentralen Teil wohnen wir der ersten Überquerung der Alpen in einem Flugzeug bei. Ein historisch verbürgtes Spektakel, das anno 1910 der Luftfahrtpionier Jorge Chavez unternahm, der im Roman unter der Schweizer Variante seines Klarnamens auftaucht: Geo Chavez. Auch er ein G.

Nicht von ungefähr: Das Schicksal dieses Flugpioniers ist in mehrerer Hinsicht mit demjenigen des Protagonisten G. verknüpft. Nicht allein, dass G. beim Start des Flugzeugs in Brig ein Zimmermädchen kurz vor ihrer Heirat vernascht, und nach der Bruchlandung in Domodossola einem wohlsituierten Herrn die Ehefrau ausspannt (der ihn sodann mit der Pistole verfolgt), nein, worin sich Geo und G. vor allem gleichen, ist die Sorglosigkeit ihres Tuns: "Wie der Flieger mochte auch er sorglos gewesen sein." Beide riskieren alles, um auf den G-Punkt zu gelangen - wahlweise die sexuelle Erfüllung oder die maximale Flughöhe - und beide gehen schliesslich an ihrem Wagemut zu Grunde. Geo Chavez erliegt nach dem Absturz im Spital den Verletzungen, G. wird Jahre später in Triest zum Opfer eines Überfalls kurz vor dem Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg, weil er fälschlicherweise als österreichischer Agent und Aufwiegler verdächtig wird.

Wie Zeno Cosini bei Italo Svevo findet sich auch G. ähnlich unbeteiligt von den politischen Geschehnissen bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Triest. So geht er auch seltsam gleichgültig in den Tod: Weder setzt er sich gegen seine Angreifer zur Wehr, noch legt beweist er eine heroische Todesbereitschaft. Er lässt es mit sich geschehen. Entsprechend lapidar wird der Tathergang erzählt. G. spürt noch den "Geschmack der Milch" als "Wolke des Unwissens" in seinem Mund. Dann wird er ins Meer geworfen. In einem filmreifen Schwenk führt der Blick hinaus ins offene Meer, wo sich die untergehende Sonne in den glitzernden Wellen spiegelt. Der letzte Satz lautet: "Der Horizont ist nur wie die gerade Bodenkante eines Vorhanges, der willkürlich plötzlich am Ende einer Vorstellung herabgelassen wird." Aufführung vorbei. Schluss.

Ein rätselhafter Tod, der sich vielleicht narratologisch dadurch erklärt, dass G. als Don Juan längst zur "Legende" geworden ist, was aber sich so anfühlt, wie es gegen Ende des Romans heisst, als sei man "lebendig begraben". G. erkennt intuitiv, dass seine "Zeit" vorbei ist, dass er sein sozialrevolutionäres Potential als ewiger Verführer eingebüsst hat. "Es war nicht mehr die Zeit an sich, die ihn weiterbringen konnte, denn die Zeit war bedeutungslos geworden." Deshalb entscheidet er sich, gleichsam in einem acte gratuit, sein Image abzulegen, indem er die Frau eines österreichischen Bankiers entgegen der ursprünglichen Absicht gerade nicht verführt (wohl auch weil es für ihn uninteressant wurde, da sie sich als Nymphomanin geradezu aufdrängt und ihr Mann, der in Anlehnung an Tolstois Ehebruch-Roman Anna Karenina, kein "Karenin" sein will, es sogar gönnerhaft zulässt). Stattdessen hilft er einer jungen Slowenien - und besiegelt damit sein Schicksal.

Neben seiner thematisch komplexen Verknüpfung von Sexualität, sozialen Fragen und zeitgeschichtlichen Hintergründen besticht der Roman durch seine chronologisch lose Erzählweise, die durch die vielen mit Leerzeilen getrennten Abschnitte auch visuell erkennbar ist. Es sind Bausteine, die eher mosaikartig als kontinuierlich, die Ereignisse umkreisen, mit Wiederholungen, Disruptionen, Pro- oder Metalepsen und ständig durchsetzt mit Reflexionen des Erzählers, der Probleme der Darstellbarkeit diskutiert oder die Geschicke seines Helden kommentiert. Jedoch nicht als souveräne auktoriale Stimme, der über alles beredt Auskunft gibt, sondern quasi aus der Position eines aussenstehenden Beobachters, dem vieles, was sich ereignet, genauso erklärungsbedürftig scheint wie den Lesenden. 

Samstag, 11. November 2023

Edgar Allan Poe: Der wahre Sachverhalt im Falle Valdemar (1845)

Eine späte Kurzgeschichte des Godfathers of Grusel in Form eines Rechenschaftsberichts: Ein anonymer Ich-Erzähler, der sich seit einiger Zeit mit dem Phänomen des Mesmerismus, eine bis ins 19. Jahrhundert virulente Heilmethode, beschäftigt, schildert eine sonderbare Begebenheit. Der Mesmerismus - begrifflich abgleitet von Franz Anton Mesmer, dem Entdecker des sogenannten 'animalischen Magnetismus' - basiert auf Hypnosetechniken, die dem Körper zu neuer Vitalität verhelfen sollen. Doch wie dem Erzähler auffällt, wurde bislang kein Mensch "in articulo mortis mesmeriert". 

Zufälligerweise kennt der Erzähler einen Freund, Ernest Valdemar, der aufgrund seines nervösen Charakters schon früh ein dankbares Versuchskaninchen für magnetische Experimente war und der nun im Sterben liegt. Es soll deshalb der Versuch gewagt werden, ob der Mesmerismus auch als lebensverlängernde Massnahme taugt. Als die Ärzte erstaunlich präzise die Todesstunde bestimmen können, eilt der Erzähler zu seinem Freund und mesmeriert ihn auf dem Sterbebett, indem er ihm - wie es die Regeln der Kunst verlangen - mit Handstrichen magnetische Energie zuführt.

Zuerst scheint die Übung wirkungslos, Valdemar ist im Begriff dahinzuscheiden, sein Puls lässt nach, sein Atem erlischt, dann jedoch zeigen sich "unleugbare Anzeichen des mesmerischen Einflusses". Er befindet sich nun in Hypnose und der Erzähler versucht eine erste Kontaktaufnahme. Auf die Frage, ob er schlafe, antwortet er im Flüsterton: "Ja, ich schlafe jetzt - wecken Sie mich nicht. - Lassen Sie mich so sterben." Als im Verlauf des Abends die Frage wiederholt wird, antwortet Valdemar erneut, nun aber mit einer schauerlichen Stimme, die wie "aus weiter Ferne", "aus einer tiefen Höhle im Innern der Erde" zu kommen scheint: "Ja - nein - ich habe geschlafen - und nun - nun - bin ich tot."

Obschon diese Nachricht und vor allem der "schauerliche" Ton, in dem sie vorgebracht wird, allen Anwesenden "zähneklapperndes Grauen" erregt, beschliesst man den Sterbenden weiterhin in seinem hypnotischen Zustand zu belassen, da man der allgemeinen Überzeugung ist, der Eintritt des Todes sei "durch den magnetischen Prozess" aufgehalten worden. Ganze sieben Monate observieren die Ärzte und der Erzähler den "Schlafwachenden", dessen Zustand unverändert apathisch bleibt, und einzig "im Vibrieren der Zunge" noch "Anzeichen einer magnetischen Einwirkung" erkennen lässt. 

Endlich entscheidet man sich, den Hypnotisierten wieder zu wecken und damit ins Leben zurückzurufen. Doch entgegen aller Erwartung steht Valdemar nicht wieder auf, sondern verfault vor den entsetzend Augen aller Anwesenden. Die Erzählung schliesst mit einer Gore-Szene par excellence: Als der Erzähler seine "magnetischen Striche" macht, "schrumpfte, zerbröckelte, verfaulte sein ganzer Körper unmittelbar, im Verlauf einer einzigen Minute oder nicht einmal einer Minute, unter meinen Händen. Auf dem Bett, vor den Augen der ganzen Gesellschaft, lag eine nahezu flüssige Masse von ekelhafter, abscheuerregender Fäulnis."

Valdemar war schon lange tot, der Magnetismus hat lediglich den physischen Verfall seines Körpers aufgehalten, der nun in Sekundenschnelle abläuft. Den Geist weiterhin am Leben bzw. im Körper zu halten, vermochte er jedoch nicht. Die Antworten mit der schauerlichen Stimmen kamen bereits aus dem Totenreich.


Mittwoch, 1. November 2023

Blaise Cendrars: L'Eubage. Aux Antipodes de l'Unité (1917)

Nachdem das Lesefrüchtchen mit Terra! kürzlich eine Space Opera par excellence gelesen hat, folgt hier erneut ein Weltraum-Abenteuer, das jenes um einiges überbietet, obschon es wesentlich kürzer ist. L'Eubage (auf deutsch: Im Hinterland des Himmels, 1987) ist ein ultraknappes Buch, manche Kapitel sind lediglich eine Seite lang, man hat es in Windeseile gelesen, ja man muss es fast in einem Zug lesen, weil es einen solchen Sog erzeugt. Denn trotz des geringen Umfanges ist es unendlich reich, lebt von seiner urwüchsigen, visionären Kraft und seiner zugleich präzisen wie pulsierenden Beschreibungskunst.

Man begleitet den "Wissenschaftler" (oder etwa "Hochstapler?") Eubage - so nannten die Gallier früher ihre Astronomen - auf seiner rasanten Reise ins All. In Sekundenschnelle wird man in kosmische Sphären katapultiert, durchläuft Äonen und Lichtjahre, taucht in die unbekannten Tiefen des Alls ein mit seinen Planeten, Gestirnen und gigantischen Urwesen, bis die fulminante Fahrt jäh endet und - ehe man es sich's versieht - zu reinster Sonnenmaterie zerstäubt sich mit dem Elementaren verbindet. Der letzte Satz, bevor das Raumschiff wieder in die Atmosphäre eindringt, ist so atemlos und orgiastisch wie der gesamte Text: "Fragezeichen? Zickzacklinie! Explosion."

Ein Buch wie ein Urknall: äusserst verdichtet, doch breitet sich darin ein ganzer Kosmos aus. Tatsächlich wohnen wir in den beiden längsten und wohl auch zentralsten Kapiteln der Geburt der Sternzeichen und der Sterne (in Form von Getreidenamen!) bei. Die faktische Reise dauert zwar nur ein Jahr - die einzelnen Kapitel sind eingeteilt von März bis Februar -, durchmessen wird dabei ein ganzes Weltalter. Der Ich-Erzähler, der den Tractatus Secundus von Robert Fludd stets mit sich führt, ist dabei eine Mischung zwischen Genie und Hasardeur. Mitunter kann er das Gelingen seines tollkühnen Unternehmens selbst nicht richtig fassen, dann wiederum stürzt er sich mit Wonne ins All.

Die interstellare Reise ist (wie in Terra! und so vielen anderen SF-Geschichten) auch hier eine Reise in die Vergangenheit: "Die Uhr - die Uhr läuft unerbittlich rückwärts. 1000 Jahre, 10'000 Jahre, 100'00 Jahre." Mehr noch ist es eine Reise ins Innere der Hirnrinde. An einer Stelle sagt der Ich-Erzähler: "Ich bin nur noch Geistesschärfe!" Insofern gibt sich die Erzählung auch unumwunden als reine Phantasmagorie zu erkennen - als eine Art eine Schöpfungsgeschichte, die sich quasi selbst hervorbringt. Oder wie es der Autor in einem Brief an seinen Förderer, den Modeschöpfer Jacques Doucet, erwähnt: "das Hinterland des Himmels sozusagen, wo die Gewalten und Formen entspringen, was man Geist und Leben nennt".

Blaise Cendrars schrieb diese Weltraum-Rhapsodie, die er selber ein "kleines Büchlein über gar nichts" nannte, 1917 in einer Scheune ausserhalb von Paris, als er als Kriegsfreiwilliger von der französischen Front heimkehrte - auf dem Feld hatte er seinen rechten Arm verloren. Es handelt sich um seinen ersten Prosatext, der bereits die ersten Akzente für seine späteren Romane setzt: die Durchdringung des Textes mit purer Lebenskraft, die Sprachgewalt und die schier enzyklopädische Fülle. Die deutsche Ausgabe enthält im Anhang eigens ein Glossar zur Erklärung der biologischen und astronomischen Fachbegriffe. Reinste "Hirnsaat".




 - 

Sonntag, 22. Oktober 2023

Stefano Benni: Terra! (1983)

Bennis Debütroman ist ein schräges, vollkommen durchgeknalltes Weltraum-Abenteuer. Wer nun einen astreinen Science-Fiction-Roman erwartet, liegt falsch, denn die 'Space Opera' dient eigentlich nur als Kulisse für eine grossangelegte Parodie und Gesellschaftssatire. Der Hauptplot ist denn auch rasch nacherzählt. Die Erde im Jahr 2157 wird von drei Grossmächten regiert: der Sinneuropäischen Föderation, dem Aramerussischen Reich (einem Zusammenschluss von arabischen Scheichs mit den Russen und den Amerikanern) und dem japanischen Militärreich SAM. Alle drei sind auf der Suche nach einem neuen bewohnbaren Planeten, da die Erde nach sechs Atomkriegen von einer dicken Eisschicht überzogen und an der Oberfläche nicht mehr bewohnbar ist. Die Bevölkerung lebt in gigantischen Stollenanlagen unter der Erde. 

Als nun eine Meldung des Weltraum-Wikingers Van Cram die Regierung der Sinneuropäischen Föderation erreicht, er habe einen natürlichen Planeten entdeckt, schickt diese sofort eine Sondereinheit mit dem Raumschiff Proteus Tien ins All, um Van Crams Entdeckung nachzuspüren. Zugleich heften sich auch Raumfahrt-Delegationen der anderen beiden Supermächte an ihre Fersen. Der Kampf um die Eroberung von "Erde 2" beginnt. Während die Trupps im All ein Abenteuer nach dem anderen bestehen, läuft auf der Erde die geheime Ausgrabung einer alten Inka-Stätte, weil man dort eine verborgene Energiequelle vermutet. Am Ende steuert die Proteus in ein schwarzes Loch und verschwindet, derweil man bei der Ausgrabung auf eine Art Batterie stösst, die solare Energie in so starker Konzentration enthält, das alle Probleme auf der Erde gelöst sind.

Es stellt sich heraus - und das ist eine Parodie auf die Theorien über urzeitlichen Astronauten des Schweizer Ufologen Erich von Däniken -, dass diese Batterie von der Besatzung der Proteus angelegt wurde, als sie durch das schwarze Loch, das sich als Zeitloch erwies, in die Vergangenheit katapultiert wurden und auf der Erde bei den Inkas landeten. Den Planeten, den Van Cram entdeckt zu haben glaubte, als auch er durch das Zeitloch flog, war nichts anderes als die frühere Erde. Den Inkas erschienen diese Besucher aus dem Weltraum als Ausserirdische oder Götter, die ausserdem über ein überlegenes technisches Wissen verfügten. Unter ihrer Anleitung konstruierten sie den Energietank und verwahrten das Geheimnis für die Zukunft. Die Erdlinge im Jahr 2157 haben somit entdeckt, was ihnen die Zeitreisenden in der Vergangenheit auf der Erde hinterlassen haben. 

Doch dieser Handlungsstrang ist, wie gesagt, nurmehr das Gerüst für eine wilde Weltraum-Burleske, die ähnlich gelagerte Unternehmen wie Mel Brooks Komödie Spaceballs von 1987 vorwegnimmt und in vielfacher Hinsicht auch überbietet. Der Erfindungsreichtum, die Fabulierfreude und die überbordende Phantasietätigkeit des Autors sind berauschend. Alles wird in grellen Farben ausgemalt, in comicartige Episoden gegossen und in übertriebener Weise dargestellt. Vor allem die unzähligen Binnengeschichten, in die der Roman zerfällt, sind kleine Meisterstücke in Parodie und Satire. Im Grunde ist der gesamte Roman eine Anthologie solcher humorvoll gesellschaftskritischer Miniaturen, mit denen sich der Autor später auch einen Namen machte, u.a. mit dem Erzählband Es gibt keine schlechten Menschen, sagte der Bär, wenn sie gut zubereitet sind (ital. Original: L'ultima lacrima, 1996).

In diesen Binnensatiren beweist der Autor, dass er tatsächlich alle Register beherrscht: vom Liebesbrief über Märchen, Mythen und Sagen bis hin zu Predigten, wissenschaftlichen Referaten, Stegreif-Reden, Fussball-Livekommentaren, Werbesendungen, und sogar Speisekarten wird nichts ausgelassen und alles durch den parodistischen Fleischwolf gedreht. Auch literarische Anspielungen gibt es zuhauf. Besonders schön der Auftritt des Astronauten Kook an Bord der Proteus Tien: "Kook stieg die Treppen zu dem kleinen Beobachtungsturm des Raumschiffs hinauf, in den Händen ein Seifenbecken, einen Spiegel und ein Rasiermesser." So beginnt auch der wohl berühmteste Roman des 20. Jahrhunderts - Ulysses von James Joyce, mit dem Unterschied freilich, dass dort Buck Mulligan mit den genannten Utensilien auf einen Turm steigt.

Es wäre witzlos, die komischen Erzählstücke irgendwie paraphrasieren zu wollen, denn der Witz, vor allem eben der Sprachwitz, entzündet sich am besten bei der Lektüre des Romans selbst. In dieser Hinsicht hat auch die Übersetzerin Pieke Biermann ein grosses Verdienst, wie sie die Sprachspielereien aus dem Italienischen ins Deutsche gebracht oder im Deutschen nachgebildet hat, wobei ihr mitunter originäre Wortspielerein im Deutschen gelingen, die das italienische Original nicht aufweisen kann, wie etwa, wenn von der "heiligen Dreifeistigkeit - Sahne, Stips und Schokolade" die Rede ist. Eine besondere Sprachleistung markiert ausserdem der Besuch bei der Weltraum-Hexe, die alle Sprachen des Alls in einem fürchterlichen Kauderwelsch gleichzeitig spricht, was schliesslich auch auf andere abfährt, so dass "all of uns speak geschnitzelt et zungensaladesk".

Angesicht der Energieproblematik handelt es sich bei Terra! um ein hochaktuelles Buch und kann ein Stück weit auch als Climate Fiction gelesen werden. Hier zeigt sich Benni in seiner politischen Haltung sehr deutlich: Es sind die skrupellosen und raffgierigen Machthaber, welche die irdische Biosphäre durch Kapitalismus, Krieg und Technologie kaputtmachen. Ad absurdum bringt diese Dynamik die Aussage eines Scheichs auf der Krisenkonferenz: "Die militärtechnologische Zivilisation des dritten Jahrtausends braucht diese Energie, und das genügt. Wenn wir diese Erde retten sollen, dann müssen wir sie zerstören ..."




Montag, 16. Oktober 2023

Antonio Tabucchi: Erklärt Pereira (1994)

"Es gibt kein richtiges Leben im falschen." So lautet eine berühmte Sentenz aus Adornos Minima Moralia, von Robert Gernhardt auch parodiert als: "Es gibt kein richtiges Leben im valschen." Diese Maxime trifft auf den Antihelden aus Tabucchis Roman zu, den portugiesischen Feuilletonredaktor Pereira der neu gegründeten Tageszeitung Lisboa. Er lebt scheinbar unbeteiligt und konform unter der Salazar-Diktatur, doch verspürt er - isoliert in seiner Redaktionskammer - innerlich ein Unbehagen, das immer deutlicher zutage tritt, als er zufällig mit einer Gruppe von Widerstandskämpfern in Kontakt gerät.

Pereira ist Witwer, kinderlos, ernährt sich bevorzugt von Kräuteromeletten und gezuckerter Limonade und ist entsprechend "fett und herzkrank" - letzteres in doppeltem Sinne: Tatsächlich leidet er an Herzproblemen, doch diese sind quasi nur die kardiologische Realmetapher für seine seelischen Nöte, seinen Herzensleiden rein psychologischer Natur. Er lebt nicht das Leben, das er eigentlich möchte. Nicht zufällig wird ihn während eines Kuraufenthalts ein Kardiologe, der gleichzeitig auch als Psychiater ausgebildet ist, auf den leib-seelischen Zusammenhang aufmerksam machen und ihm die Augen öffnen.

Pereiras Problem besteht darin, dass seit dem Tod seiner Frau nurmehr in der Vergangenheit lebt: Die Weltgeschichte zieht unbemerkt an ihm vorbei. Obwohl er seit dreissig Jahren für die Zeitung schreibt, ist er über das Zeitgeschehen gänzlich uniformiert und verlässt sich lediglich darauf, was ihm der Kellner seines Stammlokals berichtet. Das einzige, was ihn beschäftigt ist die Literatur; er flüchtet sich nachgerade aus der Realität in die Welt der französischen Romanciers, bevorzugt Schriftsteller der Renouveau catholique, wie François Mauriac oder Georges Bernanos. Daneben beschäftigt sich Pereira vorwiegend mit dem Tod, so dass er irgendwann selbst auf den "groteske[n] Gedanken" kommt, dass "er vielleicht gar nicht lebte, sondern schon so gut wie tot war."

So treffen wir den Protagonisten zu Beginn des Romans an, wie er über den Tod sinniert, genauer über die Frage der Auferstehung. Pereira glaubt an die Auferstehung der Seele, ist hingegen überzeugt, "das ganze Fleisch, das Fett, das seine Seele umschloss, das würde nicht auferstehen". Pereira hat sich einen Fettmantel, einen Körperpanzer angefressen, hinter dem sein Ich genauso wie sein krankes Herz verborgen liegt. Das Fett umhüllt und schützt ihn vor der Gegenwart, es hindert aber auch sein Herz daran, sich frei zu bekennen. Erst durch eine schicksalshafte Begegnung beginnt sich die unter der Korpulenz erstickte Herzensstimme allmählich wieder zu regen.

In einer katholischen Avantgardezeitschrift wird der Redakteur auf die neue Dissertation eines gewissen Monteiro Rossi aufmerksam, die den Tod behandelt, was natürlich Pereira Interesse weckt, weshalb er umgehend beschliesst, den Verfasser zu kontaktieren. Obwohl dieser umstandslos eingesteht, dass ihn das Leben viel mehr als der Tod interessiere und er bei der Dissertation auch grösstenteils bei anderen Philosophen abgeschrieben habe, will Pereira dem jungen Menschen eine Chance geben und ihn als Praktikant im Feuilleton engagieren. Als promovierter Todesexperte bekommt er die Aufgabe, im Voraus Nachrufe auf berühmte Schriftsteller zu verfassen.

Doch das Resultat fällt zunächst nicht nach Pereiras Vorstellungen aus. Anstelle seiner katholischen Favoriten, wählt Rossi stets dezidiert politisch engagierte Schriftsteller wie García Lorca oder Filippo Marinetti, so dass seine Nekrologe weniger eine Würdigung des Lebenswerks als richtiggehende Pamphlete sind, die - wie sich später herausstellt - auf das Konto von Rossis rothaariger Freundin Marta gehen. Sowohl ihre Haarfarbe wie auch sein Name deuten überdeutlich an, dass es sich um Revolutionäre handelt, die von Portugal aus die Freiheitskämpfer im Spanischen Bürgerkrieg unterstützen. Entsprechend wird Lorca als "Umstürzler" gelobt, während Marinetti als Gewalttäter Kriegstreiber verurteilt wird.

Pereira versucht Rossi klarzumachen, dass er solche Artikel mit politischer Schlagseite in einer 'unabhängigen' Tageszeitung keinesfalls veröffentlichen könne, macht ihm zugleich aber auch Mut, auf die "Stimme des Herzens" zu hören, obwohl er ihm lieber den gegenteiligen Rat erteilen möchte, da er weiss: wenn man "mit dem Herzen schreiben" will, wird man "grosse Schwierigkeiten" bekommen. Doch Rossi ist ihm sympathisch: In dem jungen Mann erkennt er einen Teil von ihm selbst, sein jüngeres Ich bzw. seinen nie geborenen Sohn, den sich Pereira so sehr gewünscht hatte. Entgegen allen Vernunftgründen unterstützt Pereira daher den jungen Rebellen finanziell, trifft sich mit ihm zu konspirativen Treffen im Café Orquídea und hilft sogar, einen Cousin Rossis heimlich unterzubringen.

Pereira ist eine ambivalente Figur: Zunächst scheint sie vollkommen naiv und weltfremd, doch unterschwellig entfaltet sie ein subversives Potential, indem Pereira etwa seine Übersetzungen fürs Feuilleton so wählt, dass sie für den aufmerksamen Leser eine "Flaschenpost", also eine versteckte Botschaft, enthalten. So endet eine Erzählung La dernière classe von Alphonse Daudet mit dem freiheitlichen Ausruf: "Vive la France!" Eine Provokation im diktatorischen Portugal. Balzacs Erzählung Honorine wiederum wählt Pereira, weil er sie als Bedürfnis zu Reue versteht, die er auch selber verspürt: "ich sehne mich nach Reue", sagt der zum Kardiologen. Es sei "eine merkwürdige Empfindung, die sich am Rande meiner Persönlichkeit befindet".

Diese Denkfigur einer "Reue auf 'periphere' Art" gibt Situation eines verdrängten (wahren) Lebens im falschen sinnfällig wieder. Für Pereira gilt sie in doppelter Hinsicht: Zum einen biographisch, weil er sein Leben verpasste und sich nicht nach seinem Wunsch selbst verwirklichen konnte, zum anderen politisch, weil er in einem Land lebt, das die freie Meinungsäusserung systematisch unterdrückt. Pereira gehen in dem Moment die Augen auf, als er erfährt, dass sich seine Lieblingsschriftsteller Bernanos und Mauriac sich beide politisch äusserten und gegen den Faschismus protestierten. Eine Schlüsselstelle diesbezüglich bildet der Besuch bei Pater António, Pereiras Vertrauensmann und Beichtvater, der ihn unverblümt mit der Wahrheit konfrontiert.

Pater António nimmt kein Blatt vor den Mund. Über Paul Claudel, der sich auf die Seiten des Faschismus schlug und eine hetzerische Propagandaschrift verfasste, sagt er: "dieser Claudel ist ein Hurensohn, genau das ist er, und es tut mir leid, dass ich diese Worte an einem heiligen Ort aussprechen muss, denn ich würde sie dir gern in aller Öffentlichkeit sagen". Doch das geht eben nicht, weil der öffentliche Diskurs kontrolliert und zensiert wird, was Pereira bald selbst erfahren muss, als ihm der Herausgeber der Zeitung künftig untersagt französische Schriftsteller zu bringen und ihm stattdessen traditionelle portugiesische Dichter aufdrängt. Der Raum, dessen was man sagen darf, wird immer enger, und die Situation spitzt sich dramatisch zu.

Eines Abends als Pereira für Rossi zum Abschied Spaghetti kochen will, wird seine Wohnung von Schergen der Geheimpolizei gestürmt. Im Dialog mit dem Rädelsführer entpuppt sich die ganze Perfidie und Niedertracht der Diktatur. Nach dem Wortduell mit Pereira wird die Truppe handgreiflich. Zwei Schläger verpassen Rossi, der die Drangsalierung tapfer erduldet, einen dermassen brutalen 'Denkzettel', dass er auf der Stelle stirbt. Pereira, entsetzt über das wahre Gesicht der portugiesischen Regierung, beschliesst am nächsten Tag einen Artikel in die Zeitung zu schmuggeln mit dem Titel "Journalist ermordet". Darin beschreibt er nicht nur den Tathergang, sondern klagt auch die Täter an.

Am Ende setzt sich Pereira mit einem gefälschten Pass nach Frankreich ab. Dass ihm die Flucht glückt, lässt der Untertitel des Romans vermuten, der da lautet: "Eine Zeugenaussage". Kein Verhör, wie wenn er geschnappt und wieder dem Regime in die Hände gefallen wäre, sondern die Aussage eines Augenzeugen, der aus der Diktatur entkommen ist und nun Zeugnis ablegt. "Pereira erklärt" fungiert deshalb als Inquit-Formel, welche den Text nicht nur eröffnet, sondern ihn insgesamt rhythmisiert. Es handelt sich demnach nicht um einen Bericht aus erster Hand, der in Ich-Form gehalten wäre, sondern um eine Art protokollarische Mitschrift, die festhält, wie Pereira den Hergang der Ereignisse schildert und sie (nicht nur sich) zu erklären versucht.

Ein sehr fein gearbeiteter Roman, bei dem jeder Dialog, jede intertextuelle Anspielung genau gesetzt ist. Der Text liest sich leicht, ist zuweilen fast humoristisch erzählt, und neigt vielleicht hie und da ein wenig zum Kitsch, weil an der Oberfläche doch allzu viel geglättet wird.