Sonntag, 14. Oktober 2018

Oskar Panizza: Eine Mondgeschichte (1890)


Die Menschheit ist seit jeher vom Mond fasziniert, der immer auch Spekulationen über die Bewohner dieses Gestirns evozierte. Bereits Plutarch verfasste einen Traktat über das vermeintliche Mondgesicht, wie sich auch die Literatur der phantastischen Mondreisen bis auf die Antike zurückführen lässt. Eine der skurrilsten Mondgeschichten stammt jedoch aus der Feder von Oskar Panizza, dem späteren Skandalautor, der gegen Staat und Kirche polemisierte. In diesem Zusammenhang notorisch bekannt geworden ist vor allem sein Stück Das Liebeskonzil (1894), das ihm ein Jahr Gefängnis wegen Blasphemie einbrachte. Bei der Mondgeschichte, 1890 im Verlag von Georg Müller erschienen, handelt es sich um den längsten zu Lebzeiten erschienene Text Panizzas.

Geschildert wird in der Ich-Form der Augenzeugenbericht eines jungen Studenten in Leyden, der nächtens aus Liebeskummer aufs offene Feld flüchtet und dort beobachtet, wie erst der Mond sich ruckartig bewegt, scheinbar auf die Erde gezogen wird und dort von einem Mann vergraben wird. Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, folgt der Student dem Mann, klettert hinter ihm eine Strickleiter hinauf, die bis in den Himmel zu führen scheint. Die Luft wird immer dünner, bis er schließlich in einer runden Baracke ankommt, die weit über der Erde schwebt. Zwei Monate lang hält sich der Student dort versteckt und observiert das seltsame Treiben in dem Gehäuse, von dem er annimmt, dass es sich um den von der Erde her vertrauten Mond handeln muss.

Bewohnt ist die schwebende Holzkugel vom einem keifenden Ehepaar mit zwölf Kindern. Sie ernähren sich ausschließlich von Käse, weshalb ihre Gesichter selbst schon ganz rund und gelblich sind. Nach und nach stellt sich heraus, dass der Mondmann einmal im Monat, nachdem ihm die Sonne die äußere Pechhülle des Hauses versengt hat, auf die Erde hinuntersteigt und dabei die brennende Pechschicht mitnimmt, um sie auf einem Feld zu begraben. Gleichzeitig nutzt er den Aufenthalt auf der Erde, die er mit seiner Familie den „großen Käse“ nennt, um sich mit Proviant (ausschließlich holländischer Käse) und Gebrauchsgegenständen versorgt, die er nachts unbemerkt mitlaufen lässt.

Das alles klingt natürlich phantastisch genug, doch der Erzähler versucht mit allen Mitteln die Glaubwürdigkeit seiner Erlebnisse zu beteuern. Der Text ist deshalb mit zahlreichen Authentizitätssignalen – darunter auch ein frühes Beispiel (vor Joyce, Schnitzler und Virginia Woolf!) einer Gedankenstromtechnik – ausgestattet, was mitunter zu umständlichen Erklärungen und einer Detailversessenheit führen, die aber alle im Dienst stehen, das Erzählte als wahr erscheinen zu lassen. Zuletzt versteigt sich der Student in eine waghalsige Theorie, der Mond sei nichts anderes als ein Räubernest, wo sich seit den Assyrern ein Zigeunergeschlecht eingenistet habe, um nicht entdeckt zu werden. Was wir von der Erde als Mond wahrnehmen sei bloß der Korb eines ungeheuren Ballons, mit dem die Zigeuner von der Erde geflohen sind und der jetzt als Trabant um die Erde kreist.

Auch diese Theorie wird in aller Ausführlichkeit und mit allen möglichen Einwänden vorgebracht und erwogen. In dieser Mischung zwischen absoluter Phantastik und pseudo-wissenschaftlicher Genauigkeit der Darstellung liegt der Reiz des Textes, der durch eine geschickte Leserführung überdies nie an Spannung einbüßt. Ganz offensichtlich stand – der einmal sogar namentlich erwähnte – Edgar Allan Poe (bzw. dessen Erzählung über die Abenteuer von Hans Pfaall) Pate für diese phantastische Reise zum Mond.

Samstag, 22. Juli 2017

Jean Cocteau: Thomas, der Schwindler (1923)

Wie viele Intellektuelle seiner Zeit reagierte auch der junge Jean Cocteau zunächst mit Begeisterung auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er sah darin eine willkommene Gelegenheit, sich von seiner bürgerlichen Herkunft zu lösen. Doch die erste Ephorie wich bald einer Ernüchterung, als er als freiwilliger Hilfssanitäter bei den Marinesoldaten die Kriegsgreuel hautnah erlebte. Die erschreckenden Erfahrungen verarbeitete Cocteau später in seinem Roman Thomas, der Schwindler, doch weder direkt anklagend noch moralisierend, auch nicht als Betroffenheitsprosa, sondern in einer zuweilen fast märchenhaften Geschichte. Im Vordergrund steht die Kritik an der eigenen Blauäuigkeit, mit der man sich damals ins Getümmel stürzte.

In der Figur von Thomas findet diese Blauäuigkeit ihre literarische Verkörperung. Thomas ist ein Junge von noch kindlichem Gemüt, aber gerade deswegen auch von einer so einnehmenden Art, dass er der Mitwelt mühelos vormachen kann, was er will. Er ist nicht der klassische Hochstapler, der andere zu seinem Vorteil betrügt, sondern ein Schwindler, der sich selbst in sein Lügengebilde verstrickt: „Man sieht, zu welcher Sorte von Schwindlern unser junger Guillaume gehört. Eine Sorte, der man eine Sonderstellung einräumen muß. Sie leben halb im Traum. Ihr Betrug setzt sie nicht herab, sondern rückt sie eher hinauf. Guillaumes Betrug war ohne Arg. Und es wird sich noch zeigen, daß er sein eigenes Opfer wurde. Er hielt sich für etwas, das er nicht war, wie ein Kind sich für Kutscher oder Pferd hält.“

Obwohl Thomas erst sechszehnjährig ist, glaubt er sich auf die Artillerieschule vorbereiten zu müssen. Als er zufällig in ein improvisiertes Lazarett gerät, gibt er vor, der Neffe des berühmten Genereals Fontenoy zu sein, was ihm sofort zu großem Ansehen verhilft. Der Name wird für ihn zum Schibboleth, das ihm alle Türen öffnet. So gelangt er schließlich mitten auf den Kriegsschauplatz in die Schützengräben. Von einem Bataillon von Marinefüsilieren wird er wie ein „Fetisch“ aufgenommen und wie ein „Abgott“ verehrt, so dass Thomas sich in jugendlicher Schwärmerei „in das Bataillon verliebt“. Noch immer versteht er den Krieg mehr als Spiel, selbst als sein Kamerad einem Schuss zum Opfer fällt. Bald darauf ereilt Thomas dasselbe Schicksal. Doch noch im Moment, als ihm die Kugel die Brust durchbohrt, hält er es nicht für real: „Wahn und Wirklichkeit waren nur noch eins in ihm.“

Zwei rivalisierende Frauen begleiten Thomas auf seinem Schicksalsweg. Die Prinzessien Clémence de Bromes und Madame Valiche. Beide zieht es als Sanitäterinnen ebenfalls magisch an die Front, weil sie sich ein grosses Abenteuer davon versprechen. Insbesondere die Prinzessin neigt dazu, das Kriegsschauspiel zu ästhetisieren, was in Metaphern und Vergleichen aus der Theaterwelt zum Ausdruck kommt: „Sie betraten die Kulissen des Dramas. Die Bühne kam immer näher.“ Oder: „Die Kulissen, dachte sie bei sich selbst. Das sind die Schauspieler, die Statisten, die sich ankleiden.“ Mit dieser naiven Haltung markiert die Prinzessin das weibliche Pendant zu Thomas. Wie dieser „wie ein Schlafwandler“ handelt, so agiert auch die Prinzessin wie eine „blinde Hellseherin“, die von Visionen getrieben wird, ohne die unmittelbare Realität zu erkennen.

Aus diesem Grund bleibt ihr lange verborgen, dass sich ihre Tochter Henriette unsterblich in Thomas verliebt hat. Zwar erwidert dieser zunächst ihre Neigung, gibt sich dann aber bedingungslos dem Soldatenleben hin. Seine Libido gilt allein seinem ihn abgöttisch verehrenden Bataillon. Verzweifelt will Henriette ihm ihre Liebe gestehen, doch der Brief erreicht ihn nicht mehr rechtzeitig vor seinem unheroischen Tod. Stattdessen wird ihr und ihrer Mutter die Todesnachricht von der schadenfreudigen Madame Valiche überbracht. Wie Mutter und Tochter „wilde Schreie“ ausstoßen und ihre Kleider zerreißen, besitzt fast das Ausmass einer antiken Tragödie. Insofern ist es mehr als nur eine Redewendung, wenn Madame Valiche zum Schluss dem Journalisten Presquel-Duport, der das Schauspiel mit distanzierter Kaltblütigkeit betrachtet, bewundernd zuruft: „Sie sind ein Gott.“ 

Presquel-Duport antwortet darauf mit der zynisch-distanzierten Bemerkung: "Es gibt keine Götter, Madame. Ich sehe die Dinge, wie sie sind; das ist alles." Mit dieser Aussage, die die Gottlosigkeit des Kriegs gleichermaßen wie die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schrecken betont, endet der Roman.

Montag, 10. Juli 2017

Albert Vigoleis Thelen: Sargmacher Quirinus (1930)

Sargmacher Quirinus ist die erste Novelle des damals 27jährigen Albert Vigoleis Thelen, dessen späterer Roman Die Insel des zweiten Gesichts (1953) zu den sprachmächtigsten Prosawerken der humoristischen Erzählliteratur im 20. Jahrhundert zählt. Davon ist der frühen Novelle kaum etwas anzumerken. Sie wirkt eher wie ein spätes symbolistisches Hurenkind. Was fehlt, sind die Sprachkomik, für die Thelen berühmt wurde, sowie das autofiktionale Spiel seiner Texte. In fast legendenhafter Strenge und versehen mit einem leicht wehmütigen Ton schildert ein nicht eigens markierter Erzähler die unerhörte Begebenheit aus dem ansonsten gleichförmigen Leben des Sargmachers. Kontrastreicher hätte man den Wechsel zwischen dem Iterativen des Immergleichen und dem unerwarteten Ereignis auch kaum ausgestalten können.

Quirinus gehört einer Sargmacherdynastie an, die seit Generation die Meisterschaft in einer kontinuierlichen Linie vom Vater auf den Sohn übergibt. Wann immer ein Vater im Sterben liegt, zimmert der Sohn innerhalb eines Tages dessen Sarg und übernimmt das Geschäft. So geht es seit Anbeginn und auf diese Weise erlangt auch Quirinus seine Meisterschaft. Doch nicht allein das Erlernen des Handwerks geht auf den Nachkommen über, sondern auch eine philosophische Ader, die von einem besonderen Blut durchpulst ist, wie der Vater und nach ihm sein Sohn mehrfach betonen: „Es ist das Kneemeyersche, das wir im Blute haben“.

Kennzeichnend dafür ist eine Sensibilität für das Thema des Todes, das – getreu nach dem Motto „Philosophieren heisst sterben lernen“ – die Kneemeyers ihr Handwerk pietätvoll und mit einer tiefen Ehrfurcht verrichten lässt. Dieses spezielle Gespür ist bei Quirinus stärker ausgeprägt, neigt er doch weit mehr als seine Vorfahren zum Grüblen, was sich auch in seiner Arbeit niederschlägt. Er sieht seine Aufgabe darin, den Sarg dem Toten gewissermassen auf den Leib zu schneidern: ihm je nach Lebenswandel und Sterbensart einen individuell zugerichtete „letzte Kammer“ zu schaffen: „Und das ist die Kunst, [...] das Kneemeyersche, das wir im Blute haben: einem toten Menschen anzusehen, wie ihm das Leben fortging.“

Dieses Kneemeyersche Blut gerät eines Tages unverhofft in Wallung, als Quirinus vom benachbarten Bäcker beobachtet wird, wie er ein paar alte Kistenbretter auf dem Markt zusammenliest und in sein Wägelchen legt. Der bullige Bäcker spottet bei diesem Anblick: „Unser Meister Nachbar, der heilige Quirinus, er sammelt sich das Holz für seine Särge.“ Eine solche Verhöhnung beleidigt nicht nur den Berufsehre des Sargmachers, sondern sein ganzes väterliches Erbe. Er wird, wie es im Text heißt, „bis aufs Blut“ gereizt, bis auf jenes Blut eben, das ihn in seiner Existenz auszeichnet. Wie „ein Tigertier“ springt er dem Bäcker an die Gurgel, der ihn aber bloß wie ein lästiges Insekt abschüttelt und ihn dabei so zugerichtet, dass Quirinus wochenlang das Bett hüten muss.

Obwohl er dank seinem „Kneemeyerschen Blut“, das wie ein „Lebenselixier“ wirkt, körperlich wieder genesen ist, bleibt doch ein seelischer Schaden zurück, der niemals wieder heilt. So bangt Quirinus in den Todesstunden noch, ob sein Sohn ihm vielleicht ein Sarg aus Brettern bauen wird, die er „wie ein Bettler“ auf dem Markt zusammen gelesen habe. Doch die Erzählung endet zuversichtlich: Im Sohn regt sich im selben Moment das familiäre Blut und er beginnt stillschweigend, aber mit einer vor „Inbrunst“ geschwellten Seele sein Erbe anzutreten. So nimmt die Tradition unverändert ihren Lauf, als sei nichts gewesen. Das Blut erweist sich stärker als das böse Wort.

Sonntag, 9. Juli 2017

Paul Scheerbart: Rakkóx der Billionär (1900)

Diese kurze Geschichte, die in der Erstausgabe knapp drei Dutzend Seiten umfasst (und deshalb mit Die wilde Jagd durch einen weiteren Text ergänzt werden musste), einen Roman zu nennen, ist eine masslose Übertreibung, erst recht, wenn er sogar als „Protzenroman“ ausgewiesen wird. Doch solche Spezifierungen der Romanprosa sind ein Markenzeichen Scheerbarts, der sich auch für einen Asteroiden-Roman, einen Nilpferd-Roman, einen Königsroman etc. verantwortlich zeigt. Inhaltlich bringt der Roman die typisch Scheerbartsche Mischung zwischen Nonsens, Utopie, Science Fiction, Phantastik, Parabel und Satire.

Die Geschichte selbst ist so rasch nacherzählt, dass sie fast lachhaft abstrus wirkt: Unzufrieden mit seiner Erfindungsabteilung, entlässt der steinreiche Rakkóx sein Obergenie Schultze VII. und heuert stattdessen den jungen Erfinder Kasimir Stummel an, der den Billionär dazu bewegt, in „Kolossalbauten“ zu investieren. Der wahnsinnige Schultze, der die von Rakkóx ausgesprochene Beleidigung „Rhinozeros!“ nie verdaut hat, will sich rächen und verbündet sich zu diesem Zweck mit dem Kaiser von China, um das Bauprojekt zu sabotieren, was in Ansätzen auch gelingt. Die Geschichte endet abrupt damit, dass Schultze eine Horde blutrünstiger Indianer auf Rakkóx loshetzt, die ihn richtiggehend zerfleischen, während Schultze mit dem wütenden Ausruf Rhinozeros! triumphiert.

Daraufhin folgt der kollektive Niedergang. Rakkóx Billionen werden restlos verteilt, die von Stummel errichteten Gebäude zerfallen und Schultze versinkt in Selbstverachtung. Allein Peking triumphiert und kürt den Kehrreim „Sic transit gloria Rakkóxi“ zur populären Siegeshymne. So endet die Erzählung ohne besondere Moral oder Pointe, sondern so unerwartet und unmotiviert, wie sich oft auch die Handlung fortentwickelt. Auch im Namen Rakkóx dürfte kein versteckter Hintersinn, nur purer Sprachklang stecken. Scheerbart - der vor den Dadaisten erste Lautgedichte verfasste - demonstriert auch in dieser Erzählung die radikale Autonomie der Erfindung, die sich keiner Logik verpflichtet fühlt. 

Alles scheint in Scheerbarts Geschichten möglich ohne die mindeste Rücksicht auf Wirklichkeitsbezug. Mit wenigen Worten werden ganze Welten errichtet oder wieder zum Einsturz gebracht. Wenn Schultze beschließt, den chinesischen Kaiser für seine Sache zu gewinnen, dann ist das mit einem lapidaren Satz getan. Umgekehrt gibt es längere deskriptive Passagen, die Interieurs von Rakkóx Domizil in allen nur erdenklichen Einzelheiten schildern. Ob solche arabesken Ausschmückungen oder phantastisch rasante Handlungsverläufe - in beiden Fällen dominiert die Fabulierfreude über die Plausibilität der Geschichte.

Damit sei nicht gesagt, dass Scheerbarts Prosa sinnlos und ohne allen Zusammenhang wäre. Im narrativen Gewimmel finden sich immer auch wieder kleinere Exkurse mit Überlegungen, hier zum Beispiel visionär zur submaritimen Kriegsführung, politisch zum Nationalismus sowie psychologisch zu verschiedenen Arten des Humors: Die drei Protagonisten verkörpern alle eine spezielle humoristische Ausprägung: Schultze den aggressiven Humor, Stummel eine geschäftliche Art des Humors und Rakkóx schließlich den unfreiwilligen Humor.

Rakkóx, darüber alles andere als glücklich, beklagt diesen Zustand mit folgenden Worten: „Ich habe das fatale Talent, bei jedem nur die lächerlichen Seiten zu sehen – und was man belachen kann, nimmt man nicht krumm. Doch durch diese Gutmütigkeit verliert man den Respekt. Die Leute glauben schließlich nicht, daß man mehr will – als Lachenkönnen.“ Diese Aussage trifft in Analogie auch auf den Autor zu: Auch seine Inklination zum Humoresken und Phantastischen ist mitunter so stark, dass man gar nicht auf die Idee kommt, es könne mehr als Jux und Dallerei dahinterstecken.

So könnte man im Billionär Rakkóx letztlich auch ein verstecktes Selbstporträts Scheerbarts sehen, der über einen unendlichen (Sprach-)Reichtum verfügt, mit dem er nicht weniger verschwenderisch umgeht als sein Protagonist. Das Resultat sind Texte, die wie Rakkóx Teppiche mit "Millionen geheimnisvoller Zeichen" versehen sind, die zu betrachten bzw. lesen eine gewisse Faszinationskraft ausüben kann, die zu verstehen aber eine vielleicht vergebliche Herausforderung darstellt.

Dienstag, 27. Juni 2017

Marcel Schwob: Das Buch Monelle (1894)

Das Livre de Monelle gehört neben den Vies imaginaires (1896) zu den bekanntesten Werken des dem Symbolismus nahe stehenden französischen Schriftstellers und Übersetzers Marcel Schwob. Die Bibel kennt viele Bücher: Buch Mose, Buch Josua, Buch Esra, Buch Esther, Buch Ruth etc. Schwob setzt mit dem Livre de Monelle ein weiteres, apokryphes dazu. Es ist kein kohärentes Werk, sondern wie die biblischen Bücher eine Ansammlung von Sentenzen, Gleichnissen, Parabeln, allegorischen Geschichten, Träumen und Visionen, oft dunkel und rätselhaft – der Auslegung bedürftig.

Im Unterschied zu den biblischen Büchern wird im Buch Monelle jedoch keine Heilsgeschichte verkündet. Was Monelle, die in einer Art Prolog direkt zu ihrem Geliebten spricht, verkündet, ist ein dekadentes Evangelium der reinen Präsenz, der Augenblicksversessenheit, die keine dauerhaften Werte duldet. Erinnerung, Wahrheit und Arbeit sind Tugenden, die sie kategorisch verwirft. Dafür propagiert sie eine Kultur der Flüchtigkeit, des Vergessens und der Lüge. Schöpfung geht nur einher mit Zerstörung, sie ist kein rein kreativer, vielmehr ein destruktiver Zustand. So wird im Stil einer Predigt oder Unterweisung zugleich auch eine typische Ästhetik des Fin de siècle entworfen.

Wer Monelle aber ist, das weiss man nicht. Mal erscheint sie als Geliebte, dann als Prostiuierte, dann als Anführerin kleiner Kinder, die nicht erwachsen werden wollen. Sie ist Kindfrau und Femme fatale, Priesterin und Verführerin, Heilige und Hure zugleich. Peter Krumme vermutet in seinem Nachwort, es handle sich um die personifizierte Literatur selbst. Das scheint ein wenig hoch gegriffen. Und da das Buch neu in der Ullstein-Reihe „Die Frau in der Literatur“ aufgelegt wurde, ist es eigentlich naheliegender, in Monelle den Archetypus des Weiblichen zu sehen. Sie ist das Urweib par exellence, während ihre Schwestern, die in den märchenhaften Geschichten des Mittelteils porträtiert werden, verschiedene feminine Phänotypen darstellen.

Sie werden als die Egoistin, die Wollüstige, die Perverse, die Betrogene, die Wilde, die Getreue, die Auserwählte, die Träumerin, die Erhörte, die Gefühllose und die Geopferte vorgestellt. Morelle selbst aber ist die ewig Flüchtige (man denke an Prousts La Fugitive), diejenige, die sich dem Moment ebenso sehr hingibt, wie sie sich einer festen Bindung entzieht. (Möglich, dass sich ihr Name von gr. mónos herleitet, gleichbedeutend mit allein als auch einzigartig.) Wie dem auch sei - Monelle als das Weibliche schlechthin werden die Herren der Schöpfung niemals begreifen: „denn wenige Männer haben mich gesehen, und keiner hat mich verstanden. Der Ton des Buchs ist ebenso enigmatisch wie prophetisch. Es ist weniger eine Erzählung als ein poème en prose, ein Hohelied auf den Erotisme.

Montag, 26. Juni 2017

Edward Bulwer-Lytton: Eugene Aram (1832)

Dieser „Kriminalroman“ des heute hauptsächlich noch für den historischen Wälzer Die letzten Tage von Pompeij bekannten englischen Romanciers beruht auf einer wahren Begebenheit: Eugene Aram (1704-1759), ein angesehener, aber etwas verschrobener Philologe, wird 1759 des Mordes angeklagt und schließlich zu Tode verurteilt. Am Abend von seiner Hinrichtung gesteht er die Tat, die er vor Gericht noch in einer beeindruckenden Verteigungsrede geleugnet hat. Der Prozess bewegte damals die Bevölkerung stark und gehörte zu den aufsehenerregensten Rechtsfällen in England. Bulwer-Lytton musste deshalb davon ausgehen, dass die Geschichte im kollektiven Gedächtnis verankert war, entsprechend konnte in der Entdeckung des Mordes nicht das narrative Spannungsmoment liegen. So schreibt der Autor auch zum Schluss seines Buchs: „beinahe von Anfang an ließ ich ihn [den Leser] in Arams Geheimnisse eindringen und habe ihn auf die Schuld vorbereitet, mit welcher andere, wenn sie diese Geschichte erzählt hätten, vielleicht zu überraschen getrachtet haben würden“.

Bulwer-Lytton legt also das Bekannte von Anbeginn als offensichtliche Spur aus, wenn er den Gelehrten als grüblerische, misanthrope Person schildert, an dessen Minenspiel und seltsamen Gebaren sich ablesen lässt, dass ihn eine düstere Vergangenheit bedrückt. Um dem Roman angesichts des vorausschaubaren Endes trotzdem eine gewisse Spannung zu verleihen, greift Bulwer-Lytton zu einer doppelten poetischen Lizenz. Zum einen, indem er dem historisch verbürgten Gelehrten eine Geliebte hinzuerfindet, um die Tragik des Geschehens zusätzlich zu steigern. Zum anderen, indem er ihm mit Walter Lester zudem einen fingierten Gegenspieler zur Seite setzt, der seinerseits ein Auge auf Arams Geliebte geworfen hat. Hier ist der Konflikt bereits vorgebahnt, der zunächst nichts mit dem Mordfall zu tun haben scheint. Doch die Dinge erweisen sich letztlich verwickelter. Der durch Arams Schuld zu Tode Gekommene ist niemand anders, als der verschollene Vater Lesters. Hier berühren sich beide Biographien an einem dunkeln Punkt, auf den die Erzählung analytisch zuarbeitet. Insofern ergibt sich zwischen Aram und Lester eine spiegelbildliche Konstellation: Während Lester darum bemüht ist, die Vergangenheit seines Vaters aufzudecken, setzt Aram alles daran, seine schlimme Vergangenheit vor der Welt zu verbergen. Aus diesem gekonnt geschnürten Schicksalsknoten, welche die beteiligten Figuren auf intrikate Weise miteinander verknüpft, zieht der Roman sein Spannungsmoment.

Hinzu kommt die anfangs unheimliche Figur des Richard Houseman, der den verschrobenen Gelehrten zu bedrohen scheint. Diese mysteriöse Gestalt mit dem furchterregenden Antlitz, die zu Beginn unversehens in die Idylle von Grassdale einbricht, trägt ebenfalls zur Spannung des Romans bei. Wie sich herausstellt, handelt es sich um einen entfernten Verwandten Arams, der gemeinsam mit ihm die Untat begangen hat, und - unterdessen auf krumme Wege geraten - ihn mit diesem Wissen zu erpressen trachtet. Kurz vor der Heirat mit seiner Geliebten will Aram das künftige Glück nicht durch seine dunkle Vergangenheit trüben lassen, weshalb er Houseman eine jährliche Rente als Schweigegeld anbietet unter der Bedingung, dass er das Land verlassen muss. Dieser willigt in einem geheimen Treffen nahe der Küste während einer schauerromantischen Gewitternacht ein, weil er sich dadurch einen sicheren Unterhalt für seine Tochter verspricht. Alles scheint sich zum Guten zu wenden, wenn nicht unerwartet Housemans Tochter sterben und damit der Grund wegfallen würde, sich weiterhin an die vereinbarte Schweigepflicht zu halten. In einer zufälligen Begegnung mit Lester, der auf den Spuren seines verschollenen Vaters das Land durchstreift, offenbart er ihm, dass der Vater durch Arams Hand den Tod gefunden hat.

Am Tag seiner Hochzeit wird Aram von einer lärmenden Menge des Mordes bezichtigt und von den Ordnungshütern abgeführt. Sein künftiger Schwiegervater und dessen Tochter sind felsenfest von seiner Unschuld überzeugt und gehen von einem schrecklichen Irrtum aus. Nur Lester zweifelt nicht an Arams Tat. Es kommt zum Prozess, in dem Aram als sein eigener Verteidiger auftritt und in einer fulminanten Rede mit allen persuasiven Mitteln der Rhetorik die Plausibilität der Anklage zurückzuweisen sucht. Doch vergeblich, der Richter lässt sich nicht täuschen: Es kommt zum Todesurteil. Für die Verlobte bricht nicht nur eine Welt zusammen, sie stirbt - wie man nur zu Hochzeiten der Romantik sterben kann - aus Trauer und Verzweiflung nur wenige Tage nach dem vernichtenden Urteil. Walter Lester besucht Aram noch in der Zelle und verlangt Aufschluss über die grauenhafte Tat. Aram verspricht ihm ein schriftliches Bekenntnis, das er am Tag der Hinrichtung erhalten soll. Dieses Bekennerschreiben, das die komplexe Gemengelage von Recht, Gerechtigkeit, Schuld und Reue ausführlich verhandelt, ist dem Roman am Schluss beigegeben, kurz bevor er mit dem Tod Arams endet, allerdings nicht am Galgen, sondern durch eigene Hand - was der historischen Tatsache entspricht.

Der Schicksal von Eugene Aram hat viele Autoren von William Godwin über Thomas Hood inspiriert. Bulwer-Lytton dient der Stoff für eine geschickt und psychologisch feinsinnig arrangierte Geschichte, packend erzählt und mit einer guten Portion Pathos versehen. Alles, selbst die stimmungsvollen Wetterkulissen, welche den Szenerien eine zusätzliche Dramatik verleihen, steuern auf den tragischen Höhepunkt zu. Doch nicht dieses voraussehbare Ende ist es, welches die Spannung aufrecht erhält, sondern die Frage, die damals schon die Zeitzeugen umgetrieben hat: Weshalb ein an sich unbescholtener Gelehrter sich zu einer solchen Gewalttat hinreissen lässt. Aufschluss für diese Frage bietet das (freilich fingierte) Bekenntnis Arams, das aber keine versöhnliche Antwort liefert. Vielmehr offenbart sich darin die Inhumanität eines Geistesmenschen, der durch moralische Überlegenheit nicht davor zurückschreckt, ein in seinen Augen unwürdiges Menschenleben auszulöschen: "In meinem vorliegenden Fall war es mir leicht, mich glauben zu machen, ich habe kein Verbrechen begangen. Ich hatte einen der Welt verderblichen Menschen aus dem Wege geschafft; mit dem Reichtum, mit welchem er die Gesellschaft quälte, hätte ich viele Wohltaten begehen können". 

Sonntag, 25. Juni 2017

Lukian: Timon oder der Menschenfeind (um 150)

Lukian von Samosata, der große Satiriker und Spötter der griechischen Antike, schuf mit Timon den Archetypen des Misanthropen aus enttäuschter Menschenliebe. Timon, einst ein vermögender Gutmensch, verteilte freimütig seinen Reichtum, um Bedürftigen zu helfen, bis er selbst vollkommen mittellos war. Doch die von ihm großzügig unterstützten Mitmenschen sind nicht willens, nun ihrerseits seine Gunst zu erwidern. Sie wenden sich von ihm ab und wollen nichts mehr von ihm wissen. Verbittert begibt sich Timon als Taglöhner auf die Feldarbeit, wo er in äußerster Armut sein Leben fristet. Er zieht sich in ein Ethos der Bedürfnislosigkeit zurück, nicht ohne mitunter in heftigen Hasstiraden gegen das Menschengeschlecht und die ungerechte Götterwelt zu wettern.

Mit einer längeren Verwünschung Jupiters setzt auch die kurze, dialogisch strukturierte Erzählung ein. Timon klagt Jupiter lauthals an, seinem Namen als Blitzeschleuderer und Donnergott längst nicht mehr gerecht zu werden, da auf der Welt so viel Gemeinheit geschehe, ohne dass jemals sein „flammenzückender, allblendender, schrecklich schmetternder Wetterstrahl“ dazwischenfahre. Jupiter sei alt, müde und gleichgültig geworden, anders könne sich Timon dessen Zurückhaltung nicht erklären. Durch das Geschrei wird Jupiter tatsächlich in seiner göttlichen Ruhe aufgeschreckt, der sich verwundert fragt, wer dieser „lumpige, schmutzige Kerl“ denn sei: „Ein geschwätziger, dreister Bursche! Vermutlich ein Philosoph!“

Die Philosophen sind eine beliebte Zielscheibe von Lukians Spott, nicht nur in dieser Erzählung, in der später mit dem Philosophen Thraskyles ein Zerrbild dieser Spezies auftritt, der zwar Wasser predigt – nämlich das „Lob der Besonnenheit und Mäßigkeit“ –, tatsächlich aber Wein trinkt, und zwar so maßlos viel, dass er durch „nicht sehr anmutige Operationen seines überfüllten Magens unterbrochen wird“. Die philosophische Lehre wird hier direkt durch eine körperliche Reaktion widerlegt, was typisch ist für die Technik der satirischen Entlarvung überhöhter Idealvorstellungen. Doch im Zentrum der kurzen Geschichte steht nicht die Philosophenschelte, sondern die durchaus ernsthafte Frage, inwiefern Reichtum glücklich macht oder den Menschen bloß verdirbt.

Merkur, der von Jupiter aus Mitleid entsandt wird, Timon neuen Wohlstand zu verschaffen, erörtert diese Frage im Gespräch mit Plutus, dem Gott des Reichtums, der sich in zynischer Offenheit auch als „Vater als dieser Unholde“ wie „Hoffart, Unverstand, Aufgeblasenheit“ usw. vorstellt, welche die Seele des Menschen verderben. Plutus hat entsprechend kein Interesse an einer gerechten Verteilung des Reichtums, ihm liegt vielmehr daran, Gier und Geiz weiterhin zu fördern, weshalb er sich zunächst auch weigert, auf Befehl den armen Timon zu belohnen, der längst unter dem Einfluss der Penia und ihren Gefährten „Arbeit, Unverdrossenheit, Weisheit und Tapferkeit“ steht und dem lästerlichen Reichtums längst abgeschworen hat.

Diese demonstrative Ablehnung reizt den korrumpierfreudigen Plutus schließlich doch. Gemeinsam mit Merkur versucht er, Timon von seinem tugendhaften Weg abzubringen, indem er ihm einen reichgefüllten Thesaurus aufs Feld zaubert. Timon reagiert erwartungsgemäß: Wo er vormals gegen das ungerechte Schicksal wetterte, richtet sich sein Zorn nun, vergiftet durch den unerwarteten Geldsegen, gegen die Gesellschaft selbst. In einer langen Hassrede bekundet er, mit dem Geld in die Einsamkeit zu ziehen, mit niemandem zu teilen, mehr noch der Bevölkerung die erfahrende Ungerechtigkeit mit doppelter Münze heimzuzahlen. Er will schaden, wo er nur kann: „Denn nur auf diese Weise werde ich ihnen wiedergeben, was ich von ihnen empfangen habe.“ Aus dem einst altruistischen Wohltäter ist durch Enttäuschung und verderblichen Einfluss des Geldes ein erbitterter „Menschenfeind“ geworden.