Sonntag, 17. August 2025
J. M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K. (1983)
Freitag, 15. August 2025
Juan Rulfo: Pedro Páramo (1955)
Juan Rulfo gilt als Ikone und Modernisierer der mexikanischen Literatur. Obschon - oder vielleicht gerade weil - er nur ein schmales Oeuvre vorzuweisen hat. Er zählt zum Club der Ein-Buch-Autoren, die ausser einem bahnbrechenden Werk kaum etwas anderes mehr publizierten. Neben wenigen Erzählungen, die 1953 unter dem Titel Der Llamo in Flammen erschienen sind, ist es bei Rulfo der Kurzroman Pedro Páramo, der seinen Ruf als moderner Klassiker begründet hat. Jorge Luis Borges hält ihn für einen der besten Roman überhaupt.
Obschon es von Untoten und unerlöster Seelen nur so wimmelt, ist es kein Zombieroman. Vielmehr handelt es sich um einen höchst orchestrierten Chor der Toten: ein vielstimmiges Geflüster und Geraune ehemaliger Einwohner der mexikanischen Ortschaft Comala, das gleich zu Beginn schon als Purgatorium erscheint: "Da ist es wie auf glühenden Kohlen, wie im Höllenschlund. Wenn ich Ihnen sage, dass die Leute dort, wenn sie sterben, aus der Hölle wieder zurückkommen, um sich eine Decke zu holen." (4) Die Toten kommen tatsächlich zurück und berichten vom Schicksal des gefürchteten und verachteten Gutsherrn Pedro Páramo, der das Landgut Medialuna übernommen hat, nachdem sein Vater an einer Hochzeit in Vilmayo erschossen wurde (86). Bereits er war ein Tyrann, der einen gewaltigen Schuldenberg hinterliess.
Seinen Sohn Pedro hielt er für einen "Faulenzer" (43) und Nichtsnutz; doch dieser erweist als Nachfolger eine "Gerissenheit", die diejenige seines Vaters noch übertrifft. Er installiert sich als Autokrat und lässt alle nach seine Pfeife tanzen: "Von jetzt ab machen wir das Gesetz." (45). Er unterstützt sogar die Revolutionäre, um sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen (105). In einer zentralen Metapher wird er als Unkraut bezeichnet, das sich epidemisch vermehrt: "Die Sache fing damit an, [...] dass Pedro Páramo aus dem Nichts, das er gewesen war, zu einer Macht wurde. Er wuchs wie Unkraut." (75) Eine Gütergemeinschaft wegen hält er um die Hand von Dolores "Lola" Preciado an, die ihn aber bald verlässt, nachdem sie ihm einen Sohn namens Juan geboren hat, den sie mitnimmt. Aus seiner Perspektive wird der Roman anfänglich erzählt. Seine Mutter bitte ihn auf dem Totenbett, nach Comala zurückzukehren und seinen Vater aufzusuchen.
Der Roman beginnt mit Juans Reise nach Comala. Was er dort antrifft, ist jedoch nurmehr eine Geisterstadt. Nicht von ungefähr ist sie mit "Capitana", einem "Unkraut" (11) überwuchert, das symbolisch für die vernichtende Herrschaft (capitana bedeutet auch Anführer) unter Páramo steht. Juan begegnet verschiedenen Personen aus dem Umfeld seines Vaters, die sich aber rasch als Gespenster aus der Vergangenheit erweisen: "Damiana, sagen Sie, Damiana, sind Sie überhaupt ein lebendiger Mensch?" (48) - "Seid ihr auch Tote?" (52) Selbst Pedro Páramo ist, wie sich herausstellt, längst gestorben. Und bald liegt auch Juan im Grab - "in einem schwarzen Kasten, in einem richtigen Sarg" (82) - und lauscht dem Stimmengewirr der Toten, die ihm die Geschichte seines Vaters in fragmentarischer, unzusammenhängender Form erzählen. Literarisch werden diese Textstücke jedoch genial ineinander montiert, so dass ein flirrendes, kleidoskopartiges Gebilde entsteht, das Wirklichkeit und Phantasmagorie in ständiger Schwebe hält.
Pedro steht im Ruf eines "Wutnickel" (33) und "Hurensohn[s] von Gutsherrn" (35). Er führt ein selbstsüchtiges Leben und bedient sich der Frauen im Dorf nach Belieben. Doch sein Herz schlägt nur für seine Jugendliebe Susana, die er seit seiner Kindheit nie mehr gesehen hatte, sich aber in einer irrationalen Sehnsucht zu ihr verzehrt: als Wesen, "das er mehr liebte als irgendeinen anderen Mensch auf der ganzen Erde" (103). Diese fatale Liebe wird ihm und dem gesamten Ort zum Verhängnis. Das erkennt der Vater Susanas sofort, als er mit ihr nach Comala zurückkehrt: "Es gibt Dörfer, die schmecken nach Unglück. Das ist ein unglückliches Dorf, ganz und gar vollgesogen mit Unglück." (90) Gegen ihren Willen nimmt Pedro Susana zur Frau, doch diese verhält sich apathisch: Liegt tagelang im Bett in wirren Fieberträumen versunken (109), in denen sie ihrem verstorbenen Geliebten Florencio nachtrauert. Im Dorf gilt sie schon bald als "wahnsinnig" (92), als "eine arme Verrückte", die "Selbstgespräche" (119) führt, die man weitum hört: "Da schreit ein Mensch, aber das klingt nicht, wie ein menschliches Wesen schreit." (95)
Als Susana schliesslich stirbt, schwört Pedro Rache: "Er schwor, sich an Comala zu rächen." (125) So führt schliesslich alles zum Niedergang, auch von Pedro Páramo selbst. Am Ende vegetiert er, schon halb im Jenseits, beim "Paradiesbaum" dahin und hofft auf einen baldigen Tod, um der drückenden Last seiner Schuld zu entkommen: "Denn er hatte Angst vor den Nächten, die die Dunkelheit ihm mit Gespenster bevölkerte, Angst, mit seinen Gespenstern allen zu sein." (133). Der Roman ist das vielstimmige Geflüster dieser Gespenster, die Pedro Páramo auf dem Gewissen hat. Deshalb trägt der Roman seinen Namen als Titel, weil er sozusagen seine persönliche Nemesis darstellt. Dabei handelt es sich um einen telling name. In Pedro steckt der Stein (piedra) und tatsächlich zerfällt die Figur am Ende dieses symbolträchtigen Romans buchstäblich zu Stein: "Er schlug hart auf die Erde auf und fiel auseinander wie ein Haufen Steine." (133). Páramo wiederum bedeutet baumloses Hochland. Wie schon beim Vergleich mit dem Unkraut wird auch hier die Figur mit einer unwirtlichen Topographie gleichgesetzt.
Juan Rulfo: Pedro Páramo. Roman. Aus dem Spanischen von Mariana Frenk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975.
Dienstag, 12. August 2025
Aura Xilonen: Gringo Champ (2015)
Dieses Buch haut tüchtig auf die Fresse, verbal wie thematisch. Es geht um Liberio, einen jungen, ca. 18jährigen Mexikaner, der illegal über die Grenze in die Südstaaten gelangt und seine Weisheit auf der Strasse findet. Er lernt dort wortwörtlich, sich durchzuschlagen, sowie seine mit Kraftausdrücken gespickte Gossensprache, in der auch das Buch - aus seiner Erzählperspektive - geschrieben ist. An einer Stelle heisst es einmal, er würde mühelos den "Weltrekord der schlimmen Wörter" (188) halten. Unter die zwar vulgäre, doch durchaus originelle Ausdrucksweise mischt sich aber immer wieder Bildungsgut, was zu komischen Kombinationen von schief angewendeten Fremdworten führt: von "paläozoischen Prügeln" (160) ist die Rede, von "anapästischem Lachen" (154) oder "präteritivem Käse" (173).
Angeeignet hat sich der Waisenjunge dieses Vokabular in der Buchhandlung, in der er für den dubiosen "Chief", der mit Schöngeist bloss seinen grobschlächtigen, korrupten Charakter kaschiert, schwarz als Aushilfskraft arbeitet, dafür auf dem Dachboden des Geschäfts wohnen kann. Nächtens schleppt er dort Bücher hin und verschlingt mit Feuereifer die Klassiker von der Antike bis zum Goldenen Zeitalter unter Zuhilfenahme eines Wörterbuchs, da er anfangs kaum etwas versteht. Vor allem stört es ihn, dass die Literatur so rein gar nichts mit dem richtigen Leben zu tun hat, das in seinem Fall mit "all dem Pech" (116) tatsächlich alles andere als Romanhaft anmutet: "alles scheint hier gegen mich zu sein" (129), stellt Liborio einmal fest. In kursiv gesetzten Rückblenden rollt er gedanklich seine Herkunft und die Flucht über die Grenze auf.
Seine leibliche Mutter hat er nie gekannt. Angeblich starb sie bei seiner Geburt. Aufgewachsen ist er bei einer Patenttante, die mehr wert darauf legte, lediglich die 'Patentante' zu sein als dass sie ihre Sorgfaltspflicht wahrgenommen hätte. Im Gegenteil: Sie unterversorgt, prügelt und beschimpft ihn. Ein tödlicher Unfall bei einem Strassenkampf zwingt ihn schliesslich, Mexiko zu verlassen. Er schafft es, schwimmend, mit letzter Kraft über die Grenze und bleibt wie leblos in der Wüste liegen, wo er von einer Gruppe von, ebenfalls illegal immigrierten, Baumwollpflückern aufgelesen wird. Einer Razzia dort entkommt er ebenfalls, wie durch ein Wunder, indem er stundenlang in einer Schlangenhöhle ausharrt. Seine Resilienz scheint übermenschlich: Er ist nicht nur ein Überlebender, sondern ein mehrfach Auferstandener (108, 143).
"Bin schliesslich tot auf die Welt gekommen" (7), heisst es gleich zu Beginn. Liborio ist einer, der nichts zu verlieren hat und deshalb alles einstecken kann. Das zeigt sich, als er eines Tages einer "Chica", die er heimlich anhimmelt, zur Hilfe eilt, als sie von Jungs belästigt wird. Er schlägt buchstäblich alle in die Flucht. Am nächsten Tag muss er deswegen seinerseits einstecken. Hinterrücks wir er von einer Truppe "Mickerficker" niedergeprügelt. Er liegt am Boden, lässt aber alle Fusstritte stoisch über sich ergehen, was eine abgehalfterte Journalistin filmt und online stellt. Der Clip geht viral und Liborio avanciert ohne sein Wissen zum Star. Erst recht, als ein zweites Video die Runde macht, in dem Liborio, der kurzzeitig als Sparringpartner dienen muss, einen Boxer in Sekundenschnelle ausser Gefecht setzt.
Doch das alles interessiert den jungen Immigranten herzlich wenig. Er hat nur Augen für die "Chica", die er verteidigt hat und die sich nach dem brutalen Angriff um ihn zu kümmern beginnt. Sie gibt ihm neue Schuhe und verschafft ihm unter dem Vorwand, er sei ihr Cousin, eine Bleibe. Es kommt zwangsläufig zu einer Annährung zwischen ihm und Airee. Beide werden jedoch abrupt bei einer Flucht vor der Polizei auseinandergerissen wird, als Airee beim Diebstahl eines teuren Medikaments für ihren Grossvater erwischt wird. Liborio kommt in einem Heim für Obdachlose unter, der "Sekte der Aufgeschmissenen" (191), wie sich die Insassen liebevoll nennen, und lernt dort die neunmalkluge Noemie kennen, die an ihren Rollstuhl gefesselt ist. Im Heim entdeckt man sein Boxtalent, weswegen er für eine Wohltätigkeitsveranstaltung in den Ring steigt - und selbstredend als Held aus dem Ring geht. Alle seine Gegner hat er in Nullkommanichts platt gemacht. Durch die erzielte Medienaufmerksamkeit gelangt das Heim zu neuen Gönnern und Liberio kann sogar, zusammen mit Noemie, eine Bibliothek dort einrichten.
Die Geschichte verläuft in absehbaren Bahnen sowohl, was die äusserliche Wende (der unterschätzte Underdog kämpft sich zum Erfolg), als auch die innere angeht (die Entwicklung zum moralisch gereiften Charakter, die sich übrigens auch sprachlich durch eine Abnahme der Gossensprache vollzieht), überzeugt aber stets mit plastisch ausgestalteten Szenen und Dialogen. Das Storytelling und die Figurenzeichnung sind handwerklich brillant, so dass die Lektüre spannend bleibt und zunehmend auch emotional berührt. Dabei ist es dem Roman hoch anzurechnen, dass er das ganz grosse Happy End vermeidet und Liborio die angehimmelte Aireen nicht für sich gewinnen kann. Sie heiratet einen anderen. Stattdessen kündigt sich eine Romanze zur gehbehinderten Noemie an - ein ungleiches Paar: wie Don Quijote und Sancho Pansa, so der letzte intertextuelle Wink am Ende des Romans.
Seit Erscheinen des international gefeierten und preisgekrönten Debüts, ist kein Zweitling der Autorin erschienen. In einem Text für die Neue Zürcher Zeitung vergleicht sie sich mit ihrem Landsmann Juan Rulfo und mit Harper Lee - beide sind nach ihren Erstlingswerken literarisch verstummt, haben jedoch Bleibendes hinterlassen. Man könnte auch J.D. Salinger nennen, mit dessen Holden Cauffield der Kämpe Liborio mehr als nur eine Gemeinsamkeit teilt. Ohne sich direkt in diese Fluchtlinie zu stellen, hinterfragt die Autorin den Sinn des Weiterschreibens, zumindest Weiterpublizierens, unter erhöhtem Erwartungsdruck, aber auch in einer Zeit, wo sich das Schreiben durch die Flut nicht nur an Gedrucktem, sondern auch durch unzählige Foren und Blogs, wie diesem hier des Lesefrüchtchens, selbst entwertet. Was ist der Sinn des Schreibens, wenn es keinen Spass mehr macht, wenn es zur Pflicht wird? Das nennt man Selbstbewusstsein: Landet mit 19 Jahren einen "fokkin" Beststeller und sagt dann: Das war's mit der Schreiberei, mehr ist nicht zu wollen.
Aura Xilonen: Gringo Champ. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. München: Carl Hanser Verlag, 2019.
Dienstag, 22. Juli 2025
Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 2 (2015)
Montag, 21. Juli 2025
Ann Cotten: Verbannt! Versepos (2016)
Versuch einer kurzen Zusammenfassung: Eine "sehr begabte Fernsehmoderatorin" (49) hat die Tochter Lena ihrer Kollegin verführt (oder sich von ihr verführen lassen), worauf die Mutter einen Prozess anstrebt, der indes wieder fallen gelassen wird, weil die Motive Lenas (angeregt durch zu viel "exquisite Manga-Seiten") an dem Getechtel unklar waren. Stattdessen heckt die Tochter den Plan für eine neue Reality-TV-Sendung aus: "Verführ den Moderator" (22), in der das Ziel ist, die Moderatorin mit allen Mitteln rumzukriegen. Durch den Druck schlittert die Moderatorin in ein seelisches Ungleichgewicht und in einen liederlichen Lebenswandel, so dass sie für die Sendung untragbar wird. Von Lena vor die Wahl gestellt: Entweder eine freiwillige Burstvergrösserung oder ab auf die Verbannungsinsel Tantalos (23), entscheidet sich die Moderatorin für letzteres und darf als einzige drei Dinge mitnehmen: ein Schleifstein, ein Messer und ein 22bändiges Meyer-Konversationslexikon aus dem Jahr 1910. Die unfreiwillige Robinsonade kann beginnen. Wobei, freiwillig sind Robinsonaden ja nie.
Auf der Insel angekommen denkt die Moderatorin zunächst darüber nach, Bier zu brauen, bevor eine niederfallende Kokosnuss sie auf die Idee bringt, es mit dieser Paradiesfrucht zu versuchen. Doch es nähert sich ein Tiger, weshalb die Moderatorin rasch auf die Palme flüchtet. Sogleich erklingt ein lauter Knall. Die Moderatorin vermutet eine Atomexplosion bzw. erwartet einen Sturm, der nicht eintritt, was die Moderatorin an sich selbst zweifeln lässt: "Wie angeschlagen ist mein Selbstvertrauen" (57). In ihrer Sinnkrise denkt sie darüber nach, die Zeit zurückzudrehen: "Ich scratche Wirklichkeit" (47). Dieser Wirklichkeits-Scratch erfolgt schon sehr bald nach drei längeren Exkursen über das Wetter (die Wolken), die Psyche und die Seele. Wobei es sich vielmehr um einen Wirklichkeits-Glitch handelt: Was bislang zwar ziemlich skurril, aber nicht gänzlich unrealistisch anmutete, kippt auf die phantastische Ebene, als mit Wonnekind der Bürgermeister der Insel auftritt, die er "Hegelland" nennt. Dort leitet er eine Gruppe ehemaliger Quäker an, die in der Verehrung der Schraube eine neue Religion gefunden haben.
Die Gruppe publiziert drei Zeitungen, die als Illustrationen von Ann Cotten auch abgebildet sind: die rechtskonservative N-Presse (das N steht für "naiv"), die postmoderne Zy-Presse und das satirische Wisch-Blatt. In allen drei Zeitungen geht es Frauen, welche sich die ziemlich notgeile Truppe herbeisehnt. Schon bald soll auf der Insel von Frauen nur so wimmeln. Denn es erfolgt eine Metamorphose, welche die Geschichte nun vollends im Phantastischen ansiedelt. Der Moderatorin wächst ein Geweih, ein "Riesenpimmel" (73) sowie ein Fischschwanz und transformiert sich in eine Mischung von Götterbote Hermes und Wolpertinger, beides zwei mythologische Wesen, denen man hohe Wandelbarkeit nachsagt. Doch damit nicht genug: Bald stellt sich heraus, dass die Hoden dieses Wesens tief ins Erdreich wurzeln und mit dem Internet verbunden sind, es sich also um "Interhoden" (151) handelt. Aus dem Kabel des Netzes entsteigt der Reihe nach, nicht nur der Internetspion Pan Orama (Wortspiel aus dem Bocksgott Pan und dem Begriff "Panorama"), sondern eine Horde Frauen, die aus einer Beautyklinik ins Internet geflüchtet sind, darunter auch Pans alte Geliebte Syrinx, die sich in der Klinik eine Beinprothese machen liess.
Uff. Doch die Absurditätsschraube dreht sich munter weiter: Die Frauen fallen über die Männer her, was Pan verhindern möchte, indem er zu einer Frauenbewegung aufruft, allerdings vergebens: "Er muss seine Vorstellungen vom Feminismus überdenken" (118). Er versucht die griessfressenden Ziegen auf seine Seite zu ziehen, doch Syrinx weiss dies zu verhindern. Pan sucht unterdessen Kontakt zur Umweltschutzgruppe der Kryptomerienfreunde und es stellt sich heraus, dass das Internet pleite ist, weshalb die Frauen nicht mehr zurückgehen können. Es tauchen noch etliche andere Absonderlichkeiten auf, wie eine lesende Eselin, die die gesamte Insel mit Strom versorgt (148), bis die gesamte Geschichte implodiert und in einer lexikographische Passage mit "Seemüll" mündet, die es locker mit Homers berühmten Schiffskatalog aus der Ilias aufnehmen kann. Sie knüpft dabei just an jene Stelle an, bevor die Geschichte ins Phantastische kippte. Bereits dort wurden über mehrere Seiten alle Lemmata mit "See-" aufgeführt, die schliesslich beim Eintrag "Seele" endete (61). Nicht von ungefähr hat die Moderatorin ein Nachschlagewerk mit auf die Insel genommen.
So durchgeknallt der hier nur ansatzweise skizzierte Plot auch klingt, das ist nur die eine Hälfte der Geschichte. Es handelt sich nämlich um keine konventionelle Prosaerzählung, sondern um ein Versepos! Also jenes verstaubte Genre, das um 1900 nochmals kurz von Carl Spitteler oder Theodor Däubler wachgerufen wurde. "wir schreiben in zu ungewohnten Stilen" (15), heisst es zu Beginn, und zwar, genauer gesagt, in der - allerdings nicht überall konsequent angewendeten - "Byronstrophe" (9), besser bekannt als Spenserstrophe, eine nach Edmund Spenser benannte Adaption der italienischen Stanze, der sich die englischen Romantiker, darunter auch Lord Byron, bevorzugt bedienten. Weiter hinten wird die Zeile "Lass die Götter immer ihre Formen wechseln" zitiert, von einem, "den wirklich niemand mehr kennt" (72), nicht einmal das leitmotivische Internet ergibt einen Treffer. Natürlich denkt man sofort an Ovids Metamorphosen, doch im Wortlaut existiert dort diese Zeile nicht. Wahrscheinlich stammt sie von Ann Cotten selbst.
Item, der Seitenhieb soll wohl bloss noch einmal unterstreichen, dass die Autorin mit dem Versepos eine antiquierte Form beerbt - und mit der Spenserstrophe obendrein ein strenges Versmass wählt. Diese doppelte Einschränkung lockert sie jedoch zweifach wieder auf: Formal, indem sie relativ nonchalant damit umgeht und die metrischen Vorgaben insbesondere für allerlei sprachliche Komik nutzt, für erzwungene Reime (Dänen/Migränen, 31; Bienensprache/Karlheinz Strache, 54; Gottverschleiss/Denkergirls und -boys; 72; "Fellationen/Interpretationen", 99), kühne Enjambements ("eher Soß- / e ist die Spezialität", 92; "herg- / ekommen", 99), schräge Vergleiche ("wie eine langverheiratete Luxusnutte / den Flachbildschirm betätigt", 41; "Mein Herz klopft wie ein Geigerzähler in Minamisoma", 54; "erschöpft wie Erdnussflips", 111) und waghalsige Gedankenflüge, bei denen man sich manchmal wundert, wie sie wieder auf sicheren Boden gelangen. Oftmals scheint es so, als diktiere das Versmass den Fortgang des Epos, und nicht umgekehrt, als würde der Inhalt bloss in die vorgegebene sprachliche Form gegossen: "Man findet lieber einen komplett irren Reim, / lässt zu, dass was passiert - passieren muss -, auch wirklich kein / Schwein mehr verstehen kann, weil es nichts zu verstehen gibt" (44).
Das führt zum zweiten Punkt, den Cottens Versepos so zeitgemäss und lebendig macht: Sie konterkariert die hohe Form (genus sublime) durch den frivolen Inhalt und bewirkt mit dieser Kontrafaktur einen weiteren komischen Stilbruch. Doch handelt es sich weniger um eine Parodie, als um eine konsequente Weiterentwicklung, die auch den historischen Vorläufern Tribut zollt: vom anfänglichen klassischen Musenanruf bis hin zu unzähligen intertextuellen Verweisen auf die Meister des Versepos wie eben Homer oder John Milton (149). Mehr noch bietet die antiquierte Form das ideale Gegengewicht für die im Epos formulierte Medienkritik der Gegenwart: Mit Thrash-TV, Boulevard-Presse und Internet figurieren gleich drei dominante, meinungsbestimmende Leitmedien unserer Unterhaltungskultur. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Moderatorin mit einem - ebenfalls aus der Zeit gefallenen - Konversationslexikon von 1910 unterwegs ist und nicht etwa versucht, "alles mittels Wikipedia zu kapieren" (127).
Man muss nicht alles nachvollziehen wollen, was in geballter Form in diesem Epos steckt, das dem Lesefrüchtchen allen Respekt vor dieser atemberaubenden Leistung abverlangt. Das Vergnügen teilt sich allein schon mit, wenn man sich auf den schier grenzenlosen und meist höchst schrägen Phantasiereichtum einlässt, wie er in einem unmotiviert eingeschobenen Minidrama zum Beispiel prägnant zum Ausdruck kommt, das auch ein gutes Muster für die Sprachspielkunst und den absurden Witz der Autorin abgibt: "Aroma-Aria heisst das nächste Stück, und Orama | spielt darin ein in seinen Herrn verliebtes Lama. | Benni erscheint als Engel der Erkenntnis, | erklärend, dass jedwede Ordnung Schändung ist. | Das Lama blökt und masturbiert und emigriert nach Ghana; | der Herr, gespielt von Karma, weint lange und bitterlich, | denn wie sich nun herausstellt, weiss er nicht, | wie sein, wenn niemand an ihn glaubt. Die Ordnung bricht zusammen." (155)
Ann Cotten: Verbannt! Versepos. Mit Illustrationen von Ann Cotten. Berlin: Suhrkamp 2016.
Sonntag, 20. Juli 2025
Friederike Mayröcker: ich bin in der Anstalt (2010)
In Österreich gilt die 1924 in Wien geborene Friederike Mayröcker als "Jahrhundertdichterin", was angesichts ihrer Lebensspanne, sie starb mit 96 Jahren, rein temporal sicher zutreffend ist. Ansonsten zählt Mayröcker wohl eher zu den Autorinnen, deren Ruf grösser ist als ihre faktische Lesegemeinde, zumal ihr sperriges und eigensinniges Werk sich einer breiten Rezeption von Anfang an verweigert. Erzählungen im konventionellen Sinn sucht man Mayröcker jedenfalls vergeblich. Es handelt sich quasi um einen ununterbrochenen, assoziationsreichen Schreibstrom, in den alles einmündet, was die Autorin liest, hört, wahrnimmt und worüber sie sich Gedanken macht. Ein Leben, das ganz und gar in die Schrift ein- und aufgeht, was sofort augenscheinlich wird, wenn man die Bilder von Mayröckers mit Zetteln und Manuskripten von oben bis unten vollgestopften Wohnung sieht. Frieda Paris hat es treffend einen "lebenslangen Satz" genannt, woran Mayröcker arbeite.
2010 erschien mit ich bin der Anstalt ein selbst für Mayröckers Verhältnisse spezielles Buch, da es bloss - wie es im Untertitel heisst - "Fusznoten zu einem ungeschriebenen Werk" enthält. (Weil Mayröckers Hermes Baby keine Taste für das scharfe Eszett kennt, transkribierte sie es mit "sz", eine Kaprize, die auch im Druck beibehalten wird, anfänglich sehr zum Unverständnis des damaligen Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld.) Insgesamt sind es 243 solcher Fussnoten (oder Abschnitte) von unterschiedlicher Länge. Manche sind nur eine Zeile lang, andere wachsen über eine Seite an. Dieses fragmentierte Kompositionsprinzip kommt der ohnehin schon diskontinuierlichen Prosa, jener der Autorin höchsteigenen "pneumatischen Fetzensprache" entgegen, wie es im zwei Jahre zuvor erschienen Band Paloma heisst. Dort ist der Text nicht in Fussnoten, sondern 99 Briefe gegliedert.
Worum geht es? Das ist bei Mayröcker wie immer die falsch gestellte Frage. Bildet ihr Werk doch eine einzige existenzielle Versprachlichungsarbeit. Hier nun aber scheint gerade die Sprache zu versagen - es ist die Rede von "Demenz" (23), Aphasie, "Wortversagen" (84) - und damit dem schreibenden Ich den Boden unter den "Füszen" zu entziehen. Allein die Fussnoten geben noch Halt. Sie versuchen den Zustand einer Sprachkrise sprachlich zu fassen, wobei sich der Sprachzerfall in unvollständigen, elliptischen Sätzen, abgebrochenen Gedanken, fehlenden Worten oder Abbreviaturen bereits manifestiert. Am Ende, in der letzten Fussnote, stehen gar nur noch Punkte, um das Ausbleiben eines Textes zu markieren. Die fragmentarische Form steht somit in Korrelation zum zerrütteten Gedächtnis, aus dem eben kein integrales "Werk" mehr hervorgeht, lediglich "Relikte" und einzelne Bruchstücke, die unverbunden nebeneinanderstehen und ins Offene, Ungeschriebene verweisen.
Die Motive des Todes und der Vergänglichkeit, des (körperlichen) Zerfalls und "Ruins" (21) stehen, wie überall in Mayröckers Alterswerk, im Vordergrund. Der Tod ist der grosse Angstpartner, gegen den die Autorin anschreibt, da mit dem Tod nicht nur ihr Leben, sondern das damit unauflösbar verwachsene Schreiben zu Ende ginge. Ein für eine Graphomanin geradezu beunruhigender Gedanke: "ich begriff dasz ich nur noch 1 kurze Spanne (KNOSPE) haben würde zu leben und zu schreiben und ich geriet in 1 panische Angst" (173). Nahezu protokollartig, tlw. mit präzisen Datumsangaben, halten die einzelnen Einträge alltägliche Beobachtungen, Lektüren und Erinnerungen fest, klammern sich schriftlich geradezu an alle Details, um sie ja nicht zu vergessen. Häufig kreisen die Gedanken um den verstorbenen Lebenspartner Ernst Jandl, der - anders als bei etlichen anderen Personen, die mit Klarnamen genannt werden - lediglich als ER (in Versalien) apostrophiert wird oder als fingierte Figur Ely auftritt.
Die Lektüre gestaltet trotz der Widerständigkeit des Textes einen eigentümlichen Sog und lässt zwei Erfahrungen zu: Zum einen, wie die additive Auflistung von zunächst unspektakulär heterogenen Wahrnehmungs-, Gedanken- und Erinnerungssplittern plötzlich in poetische Verdichtungen umschlagen kann, ohne dass sich dieser Übergang genau bezeichnen oder das eine vom anderen trennen liesse; zum anderen, wie in einer experimentellen Prosa ein hohes Mass an Sentiment mitschwingt, was für solche Textsorten eher unüblich ist. Doch da bei Mayröcker Leben und Werk in eins verschmelzen, verhält es sich so, wie die Autorin selber schreibt, "dasz ich schamlos und mich entblösze in meinen Schriften" (109) Hierbei zitiert sie auch Jean Genet, der sagt, wenn er ein Buch verlasse, sind "die Füsze nackt" (157). So verweisen die Fussnoten zugleich auf den entblössten, den 'barfüssigen' Text, wie überhaupt das Wort 'Füsse' oder die Wendung 'zu meinen Füssen' in hoher Okkurrenz auftritt und damit Form und Inhalt verschränkt. An solchen Stellen zeigt sich, wie genau und zwingend der Text trotz seiner scheinbaren Disparatheit gearbeitet ist.
Mayröcker begreift sich als "Bettlerin des Wortes" (190). Sie zitiert häufig und legt die Intertexte offen aus. In diesem Fall sind es vor allem drei Werke von Jacques Derrida, auf deren Folie Mayröcker schreibt: Glas (Totenglocke), das in zwei Kolumnen Hegel und Jean Genet einander gegenüberstellt, die Mémoires d'aveugle, aus dem die Motive der Trauer und Tränen abgleitet sind sowie Jeoffrey Benningtons Derrida-Biographie, die Derridas Circumfession in Form von Fussnoten enthält. An dieses Strukturprinzip knüpft Mayröcker auch inhaltlich an: Ihre Fussnoten präsentieren sich ebenfalls als Bekenntnisse mit Verweis auf Augustinus, allerdings auch mit dem initialen Hinweis, dass Bekenntnisse "nichts mit der Wahrheit zu tun haben, nämlich die hingeweinten" (9). Auch da beruft sie sich auf ihren Gewährsmann Derrida, der offenbar weinend feststellte, "dasz 1 Bekenntnis nicht mit der Wahrheit zu tun hat" (66).
So bleibt auch der Realitätsgrad von Mayröckers Konfessionen trotz aller Wirklichkeitsindikatoren offen, nicht zuletzt deshalb, weil sich Gegenwärtiges oft nahtlos mit Reminiszenzen zu einem atemporalen Kontinuum verschmelzen. Alles spielt letztlich alles unterschiedslos im Kopf des schreibenden Ich ab, in einem mentalen Innenraum, als den man im übertragenen Sinn die titelgebende "Anstalt" verstehen könnte: als Ort der Introspektion: "ich lausche auf dei Vorgänge in meinem Gehirn" (85). Ob das ebenfalls im Titel angeführte "ich", sich in einer realen Anstalt befindet oder diesen Zustand nur mantrahaft heraufbeschwört (die Titelphrase "ich bin in der Anstalt" wird im Buch zigfach wiederholt), bleibt ungewiss. In einem Interview sagte die Autorin: "Anstalt ist für mich überhaupt etwas Anziehendes. Und man weiss ja auch nicht, ist es eine Anstalt, ist es ein Spital, handelt es sich um eine Irrenanstalt? Handelt es sich um ein Gefängnis? Es bleibt ja alles offen."
Die Anstalt, das Gefängnis, die Zelle als idealer, weil isolierter Ort des Schreibens ist ein in der abendländischen Literaturgeschichte weit verbreiteter Topos. In gewisser Hinsicht war auch Mayröckers legendär gewordene, bis an die Decke mit Papieren vollgestopfte Wohnung eine solche Schreib-Anstalt, ein von der Aussenwelt abgeschirmter Raum, der allein ihr den kreativen Freiraum verschaffte. Im Buch vergleicht sie ihr "Gehäuse" einmal treffend mit "1 Merzbau" (98).
Friederike Mayröcker: ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk. Berlin: Suhrkamp 2010.
Am Rande bemerkenswert: a) wie sich die Autorin gegen eine geschlechterspezifische Vereinnahmung positioniert: "gender Begriff, es gibt keine Frauenliteratur" (29), "es gibt keine spezifisch weibliche Kunst, usw." (89); wie sie die zeitgenössische Philologie beurteilt: "Feuer und das ist das richtige Wort in unserem Gespräch über den Stil der Literaturwissenschaftler nämlich dasz es ihnen manchmal fehle" (86)
Donnerstag, 3. Juli 2025
Oswald Egger: Prosa, Proserpina, Prosa (2004)
Oswald Egger macht es sich und den Lesenden nicht einfach. Er setzt die Sprache nicht nur als gestalterisches Mittel ein, er gestaltet sie vielmehr nach eigenen Gesetzmässigkeiten um. Das führt zu hochkomplexen, mit Fremd-, Fach- und Fantasieworten durchsetzten Sätzen wie diesen: "Talg-Algen wie Smaragdgras-Agavan stäuben silbrig Quirlwirrtel-Milch über Risp-Feldritzen Dornginsterhecken, und Teer-Regenberge Horngnissen ..." Es stellt sich sofort ein Pastior-Effekt ein: Man meint etwas zu verstehen, doch letztlich entzieht sich alles einem verstehbaren Sinn, wird zur reinen Lautpoesie, im Extremfall etwa: "Unvirgeln sirrende Quisseln in Syzygie szintillierend, 'zzyzx'-Elritzen". Im Unterschied zu Oskar Pastior, wo häufig eine Methode oder eine Versuchsanordnung das Spiel mit der Sprache bestimmt, scheint sich Egger viel stärker noch am Sprachklang zu orientieren und von ihm leiten zu lassen. So kommen seine Sätze durch tonale Assonanzen und Lautähnlichkeiten zustande. So sind Quissel (frömmelnde Person), Syzygie (Stellung von Sonne, Mond und Erde in einer Linie), szintillieren (funkeln, flimmern) und Elritze (kleiner Karpfenfisch) tatsächlich existierende Wörter, sie stehen bei Egger aber weniger in einem Sinn- als in einem Klangzusammenhang, verbunden durch den Vokal, der auch in "sirren" erklingt und genau das besagt: einen feinen, hell klingenden Ton erzeugen. Dass unter "Syzygie" in der antiken Metrik ausserdem die Verbindung von zwei Versfüssen verstanden wurde, ist eine zusätzliche Pointe, die den Satz von einer möglichen Weltreferenz endgültig ins rein Sprachliche wendet.
So baut sich Egger aus dem Fremdwörterbuch deutscher Sprache ein ganz eigenes Sprachuniversum. Im Fall von Prosa, Proserpina, Prosa hat er sich bevorzugt bei botanischem Vokabular bedient, was sein Text zu einem entfernten experimentellen Verwandten von Vergils Georgica macht, dem grossen Poem über den Ackerbau. Nicht zufällig figuriert im Titel von Eggers Werk die mythologische Gestalt der Proserpina, der Tochter von Ceres, der römischen Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit. Ihr Name leitet sich ab vom lateinischen Verb 'proserpere', was 'hervorkriechen' bedeutet und von den Römern mit dem aus der Erde keimendem Getreide assoziiert wurde. Auch die im Titel ebenfalls stehende 'Prosa' lässt sich etymologisch auf den Ackerbau zurückführen. Mit Agamben lässt sich die Prosa als fortlaufende Kehre (lat. versus), also als Verlängerungen des lyrischen Verses begreifen, als pro-versus (oder kurz: Prosa). Der lateinische Begriff versus meint auch die Ackerfurche, die der Bauer zieht - und zwar mit seinem Werkzeug, dem Pflug oder der Egge, die prominent auch im Namen des Autors steckt: Egger. Nomen est omen, weshalb der Egger zwangsläufig Prosaist, d.h. Furchenzieher und Ackerbauer sein muss. Was uns der Autor folglich ausbreitet (oder was er vielmehr einfährt) ist eine reiche Ernte, eine Sprachernte. Sein Text ist nicht anderes als ein Füllhorn, eine Cornucopia, ein mit Blumen und Früchten im Überfluss gefüllter Trichter, der symbolisch für Freigiebigkeit, Reichtum und Üppigkeit steht. Sein poetisches Prinzip ist demnach die Luxuria, ein verschwenderischer Luxus, ausgebreitet in Sprachgirlanden und Wortfeldern, der so reichhaltig ist, dass er in dieser Überfülle kaum rezipierbar ist.
Es ist schon ziemlich beeindruckend, was Egger alles mit der Sprache anzustellen versteht. Aber irgendwie auch hochgradig manieriert und gekünstelt. Bei aller Bewunderung legt man das Buch wohl früher als später aus der Hand und denkt sich: Was soll's? Man könnte jeden Fachausdruck im Wörterbuch nachschlagen und hätte doch nichts verstanden, denn es gilt die Devise: "Sinnen der Ingestion ('das weiss ich nicht'), Balloten, siebend Unsinne." Im Unterschied zu anderen Unsinnspoesien fehlt es Eggers Unternehmen jedoch entschieden an Witz. Alles kommt gravitätisch, bedeutungsschwanger und furchtbar eitel daher. Als wolle der Text nichts anderes, als permanent seine literarische Distinguiertheit ausstellen. Vieles gerinnt deshalb zur poetischen Pose, zum Gehabe. Der einzige leicht verständliche Satz im ganzen Buch lautet: "Wir wollen uns betrinken, wie die Tollen, und nachts nicht schlafen." Na also, das wäre allemal eine Alternative.