Dienstag, 22. Juli 2025

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 2 (2015)

Teil 2 von Virginie Despentes' Erfolgstrilogie rund um den vergammelten Plattenhändler Vernon Subutex, der weniger als Hauptfigur, sondern als gesellschaftliches Gravitationszentrum agiert. Despentes beerbt quasi Balzacs Comédie humaine für das 21. Jahrhundert. Der Roman entwirft das Sittengemälde einer Gesellschaft im Umbruch, in der Krise, in der sich unbemerkt ein Wertesystem verschiebt, ohne dass ein neues bereits in Aussicht wäre. "Alles! Alles ist im Arsch!" (383) heult die Figur Sylvie gegen Ende des Romans und die andern rätseln, was sie mit diesem Ausruf genau meint, ob es bloss eine "persönliche Feststellung" sei. Wenige Seiten weiter wird es jedoch unmissverständlich klarer: "Macht euch nichts vor. Die Welt ist im Arsch. Die, die wir kannten. Alles, wovon ihr redet, ist schon vorbei. [...] Hört endlich auf zu erzählen, dass gestern alles besser war und es morgen noch schlimmer wird. Wir sind im Dazwischen." (387)

Mitten in dieser Umbruchphase erscheint Vernon Subutex als neue Heilsfigur. In Teil 1 verlor er seine Wohnung, kam bei verschiedenen Freunden unter und schlug sich mehr schlecht als recht durch das Leben als Arbeitsloser. In Teil 2 treffen wir Subutex als Clochard in der Butte Bergyre wieder, am Rande der Gesellschaft, aber mit seinem Schicksal im Reinen. Regelmässig gerät er in ekstatische Zustände, in denen er zu schweben scheint und den Dingen auf den Grund sieht: "die Stadt spricht zu ihm und er entschlüsselt ihr Gemurmel" (12). Damit wird bereits angedeutet, dass Subutex zu einem profanen Heiligen wird, zum "Schamane[n] Europas" (208), zum "Prophet" (215), zum "Mini-Guru des 19. Arrondissements" (334), um den sich bald eine Erlösungsgemeinschaft von "Subutex-Jüngern" (215) schart. Der Text lässt keine Zweifel daran, dass Vernon eine Schlüsselfigur, ein Symptom der Gegenwart darstellt: "das Rätsel des Jahrzehnts" (280).

Auch sonst knüpft Despentes an die unmittelbare Gegenwart und pinselt ein groteskes Sittenbild unserer heutigen Gesellschaft. Die Folie liefert diesmal die Strauss-Kahn-Affäre von 2011. Im Roman ist es der schmierige Produzent Laurent Dopalet, der die Porno-Schauspielerin Vodka Satana mehrfach missbraucht, mit Koks vollgepumpt, zu seinem Vergnügen sexuell gedemütigt und in den Tod getrieben haben soll. Das behauptet zumindest ihr Ex, der ebenfalls verstorbene Indie-Rock-Sänger Alex Beach, in einem hinterlassenen Video, hinter dem alle herjagen, eben weil es diese belastende Aussage enthält. Aïcha, Satanas Tochter, und die Hyäne, die frisch rausgeschmissene Assistentin Dopalets, starten darauf einen Rachefeldzug, nehmen den Produzenten gefangen, malträtieren ihn wie Furien und tätowieren das Verdikt "Mörder" und "Vergewaltiger" auf den Rücken.

Doch es ist nicht Dopalet, der schliesslich draufgeht, sondern vollkommen unerwartet der unglückliche Loïc, der gegen Ende des Romans von seinen ehemaligen Faschokameraden hinterrücks niedergeschlagen wird, nachdem er einen Abend lang mit Pamela, der von ihm verehrten Pornostar, tanzen durfte. Dieser Tod, so absurd er ist, rüttelt jedoch die Gemeinschaft um Subutex auf. Er wirkt kathartisch. Nach dem Begräbnis beschliessen sie eine Auszeit zu nehmen und gründen eine Aussteiger-Kommune zuerst in den Vogesen, dann auf Korsika. Vernon hat alle zum Schweben gebracht: "Wenn der Wahnsinn, so abgedreht er auch sein mag, von einer Gruppe geteilt wird, kann er zum Lebensstil werden." (384) Nicht von ungefähr in einer Kapelle findet die finale Party statt, in der Vernon als begnadeter DJ einmal mehr auflegt und die Menge in Trance versetzt. Zu den "Lebenden" gesellen sich auch "die Toten und die Unsichtbaren" (395). So endet der Roman mit der Utopie einer freien Gesellschaft.

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 2. Roman, übers. von Claudia Steinitz. 4. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2021.

Bester Satz im ganzen Buch: "Was haben sie in den Neunzigern mit der ganzen Zeit gemacht, die sie nicht damit verbracht haben, Mails zu beantworten?" (161) Berechtigte Frage.

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