Montag, 16. Oktober 2023

Antonio Tabucchi: Erklärt Pereira (1994)

"Es gibt kein richtiges Leben im falschen." So lautet eine berühmte Sentenz aus Adornos Minima Moralia, von Robert Gernhardt auch parodiert als: "Es gibt kein richtiges Leben im valschen." Diese Maxime trifft auf den Antihelden aus Tabucchis Roman zu, den portugiesischen Feuilletonredaktor Pereira der neu gegründeten Tageszeitung Lisboa. Er lebt scheinbar unbeteiligt und konform unter der Salazar-Diktatur, doch verspürt er - isoliert in seiner Redaktionskammer - innerlich ein Unbehagen, das immer deutlicher zutage tritt, als er zufällig mit einer Gruppe von Widerstandskämpfern in Kontakt gerät.

Pereira ist Witwer, kinderlos, ernährt sich bevorzugt von Kräuteromeletten und gezuckerter Limonade und ist entsprechend "fett und herzkrank" - letzteres in doppeltem Sinne: Tatsächlich leidet er an Herzproblemen, doch diese sind quasi nur die kardiologische Realmetapher für seine seelischen Nöte, seinen Herzensleiden rein psychologischer Natur. Er lebt nicht das Leben, das er eigentlich möchte. Nicht zufällig wird ihn während eines Kuraufenthalts ein Kardiologe, der gleichzeitig auch als Psychiater ausgebildet ist, auf den leib-seelischen Zusammenhang aufmerksam machen und ihm die Augen öffnen.

Pereiras Problem besteht darin, dass seit dem Tod seiner Frau nurmehr in der Vergangenheit lebt: Die Weltgeschichte zieht unbemerkt an ihm vorbei. Obwohl er seit dreissig Jahren für die Zeitung schreibt, ist er über das Zeitgeschehen gänzlich uniformiert und verlässt sich lediglich darauf, was ihm der Kellner seines Stammlokals berichtet. Das einzige, was ihn beschäftigt ist die Literatur; er flüchtet sich nachgerade aus der Realität in die Welt der französischen Romanciers, bevorzugt Schriftsteller der Renouveau catholique, wie François Mauriac oder Georges Bernanos. Daneben beschäftigt sich Pereira vorwiegend mit dem Tod, so dass er irgendwann selbst auf den "groteske[n] Gedanken" kommt, dass "er vielleicht gar nicht lebte, sondern schon so gut wie tot war."

So treffen wir den Protagonisten zu Beginn des Romans an, wie er über den Tod sinniert, genauer über die Frage der Auferstehung. Pereira glaubt an die Auferstehung der Seele, ist hingegen überzeugt, "das ganze Fleisch, das Fett, das seine Seele umschloss, das würde nicht auferstehen". Pereira hat sich einen Fettmantel, einen Körperpanzer angefressen, hinter dem sein Ich genauso wie sein krankes Herz verborgen liegt. Das Fett umhüllt und schützt ihn vor der Gegenwart, es hindert aber auch sein Herz daran, sich frei zu bekennen. Erst durch eine schicksalshafte Begegnung beginnt sich die unter der Korpulenz erstickte Herzensstimme allmählich wieder zu regen.

In einer katholischen Avantgardezeitschrift wird der Redakteur auf die neue Dissertation eines gewissen Monteiro Rossi aufmerksam, die den Tod behandelt, was natürlich Pereira Interesse weckt, weshalb er umgehend beschliesst, den Verfasser zu kontaktieren. Obwohl dieser umstandslos eingesteht, dass ihn das Leben viel mehr als der Tod interessiere und er bei der Dissertation auch grösstenteils bei anderen Philosophen abgeschrieben habe, will Pereira dem jungen Menschen eine Chance geben und ihn als Praktikant im Feuilleton engagieren. Als promovierter Todesexperte bekommt er die Aufgabe, im Voraus Nachrufe auf berühmte Schriftsteller zu verfassen.

Doch das Resultat fällt zunächst nicht nach Pereiras Vorstellungen aus. Anstelle seiner katholischen Favoriten, wählt Rossi stets dezidiert politisch engagierte Schriftsteller wie García Lorca oder Filippo Marinetti, so dass seine Nekrologe weniger eine Würdigung des Lebenswerks als richtiggehende Pamphlete sind, die - wie sich später herausstellt - auf das Konto von Rossis rothaariger Freundin Marta gehen. Sowohl ihre Haarfarbe wie auch sein Name deuten überdeutlich an, dass es sich um Revolutionäre handelt, die von Portugal aus die Freiheitskämpfer im Spanischen Bürgerkrieg unterstützen. Entsprechend wird Lorca als "Umstürzler" gelobt, während Marinetti als Gewalttäter Kriegstreiber verurteilt wird.

Pereira versucht Rossi klarzumachen, dass er solche Artikel mit politischer Schlagseite in einer 'unabhängigen' Tageszeitung keinesfalls veröffentlichen könne, macht ihm zugleich aber auch Mut, auf die "Stimme des Herzens" zu hören, obwohl er ihm lieber den gegenteiligen Rat erteilen möchte, da er weiss: wenn man "mit dem Herzen schreiben" will, wird man "grosse Schwierigkeiten" bekommen. Doch Rossi ist ihm sympathisch: In dem jungen Mann erkennt er einen Teil von ihm selbst, sein jüngeres Ich bzw. seinen nie geborenen Sohn, den sich Pereira so sehr gewünscht hatte. Entgegen allen Vernunftgründen unterstützt Pereira daher den jungen Rebellen finanziell, trifft sich mit ihm zu konspirativen Treffen im Café Orquídea und hilft sogar, einen Cousin Rossis heimlich unterzubringen.

Pereira ist eine ambivalente Figur: Zunächst scheint sie vollkommen naiv und weltfremd, doch unterschwellig entfaltet sie ein subversives Potential, indem Pereira etwa seine Übersetzungen fürs Feuilleton so wählt, dass sie für den aufmerksamen Leser eine "Flaschenpost", also eine versteckte Botschaft, enthalten. So endet eine Erzählung La dernière classe von Alphonse Daudet mit dem freiheitlichen Ausruf: "Vive la France!" Eine Provokation im diktatorischen Portugal. Balzacs Erzählung Honorine wiederum wählt Pereira, weil er sie als Bedürfnis zu Reue versteht, die er auch selber verspürt: "ich sehne mich nach Reue", sagt der zum Kardiologen. Es sei "eine merkwürdige Empfindung, die sich am Rande meiner Persönlichkeit befindet".

Diese Denkfigur einer "Reue auf 'periphere' Art" gibt Situation eines verdrängten (wahren) Lebens im falschen sinnfällig wieder. Für Pereira gilt sie in doppelter Hinsicht: Zum einen biographisch, weil er sein Leben verpasste und sich nicht nach seinem Wunsch selbst verwirklichen konnte, zum anderen politisch, weil er in einem Land lebt, das die freie Meinungsäusserung systematisch unterdrückt. Pereira gehen in dem Moment die Augen auf, als er erfährt, dass sich seine Lieblingsschriftsteller Bernanos und Mauriac sich beide politisch äusserten und gegen den Faschismus protestierten. Eine Schlüsselstelle diesbezüglich bildet der Besuch bei Pater António, Pereiras Vertrauensmann und Beichtvater, der ihn unverblümt mit der Wahrheit konfrontiert.

Pater António nimmt kein Blatt vor den Mund. Über Paul Claudel, der sich auf die Seiten des Faschismus schlug und eine hetzerische Propagandaschrift verfasste, sagt er: "dieser Claudel ist ein Hurensohn, genau das ist er, und es tut mir leid, dass ich diese Worte an einem heiligen Ort aussprechen muss, denn ich würde sie dir gern in aller Öffentlichkeit sagen". Doch das geht eben nicht, weil der öffentliche Diskurs kontrolliert und zensiert wird, was Pereira bald selbst erfahren muss, als ihm der Herausgeber der Zeitung künftig untersagt französische Schriftsteller zu bringen und ihm stattdessen traditionelle portugiesische Dichter aufdrängt. Der Raum, dessen was man sagen darf, wird immer enger, und die Situation spitzt sich dramatisch zu.

Eines Abends als Pereira für Rossi zum Abschied Spaghetti kochen will, wird seine Wohnung von Schergen der Geheimpolizei gestürmt. Im Dialog mit dem Rädelsführer entpuppt sich die ganze Perfidie und Niedertracht der Diktatur. Nach dem Wortduell mit Pereira wird die Truppe handgreiflich. Zwei Schläger verpassen Rossi, der die Drangsalierung tapfer erduldet, einen dermassen brutalen 'Denkzettel', dass er auf der Stelle stirbt. Pereira, entsetzt über das wahre Gesicht der portugiesischen Regierung, beschliesst am nächsten Tag einen Artikel in die Zeitung zu schmuggeln mit dem Titel "Journalist ermordet". Darin beschreibt er nicht nur den Tathergang, sondern klagt auch die Täter an.

Am Ende setzt sich Pereira mit einem gefälschten Pass nach Frankreich ab. Dass ihm die Flucht glückt, lässt der Untertitel des Romans vermuten, der da lautet: "Eine Zeugenaussage". Kein Verhör, wie wenn er geschnappt und wieder dem Regime in die Hände gefallen wäre, sondern die Aussage eines Augenzeugen, der aus der Diktatur entkommen ist und nun Zeugnis ablegt. "Pereira erklärt" fungiert deshalb als Inquit-Formel, welche den Text nicht nur eröffnet, sondern ihn insgesamt rhythmisiert. Es handelt sich demnach nicht um einen Bericht aus erster Hand, der in Ich-Form gehalten wäre, sondern um eine Art protokollarische Mitschrift, die festhält, wie Pereira den Hergang der Ereignisse schildert und sie (nicht nur sich) zu erklären versucht.

Ein sehr fein gearbeiteter Roman, bei dem jeder Dialog, jede intertextuelle Anspielung genau gesetzt ist. Der Text liest sich leicht, ist zuweilen fast humoristisch erzählt, und neigt vielleicht hie und da ein wenig zum Kitsch, weil an der Oberfläche doch allzu viel geglättet wird. 

Sonntag, 15. Oktober 2023

Luigi Malerba: Die fliegenden Steine (1992)

Es gibt eine Fotografie von Man Ray, La Prière von 1930, die eine betende Frau von hinten zeigt: tief kniend und vornübergebeugt, den nackten Podex direkt in Richtung Kamera gestreckt, lediglich ihre Hände bedecken die Scham. Ein ähnliches Bild bietet sich auch dem Ich-Erzähler von Malerbas Roman. Dort ist es eine direkte Aufforderung der betenden Muslimin zum Geschlechtsverkehr. Sie heisst Ayse und vertritt die Ansicht, dass der Koran im Unterschied zur katholischen Kirche die Sexualität nicht unterdrücke oder verurteile, sondern die freie Liebe zwischen Mann und Frau sogar während dem Gebet zulasse. Bei den Katholiken hingegen sei Sex nur als Sünde denkbar, was allerdings oft "die Lust" nur noch "steigert": "Die Sodomie wäre längst nicht so weit verbreitet, wenn es die Sünde nicht gäbe." Und auch die Päderastie, müsste man angesichts der systemischen Fälle von klerikalem Kindsmissbrauch hinzufügen. Die katholische Kirche hat sich ihr eigenes perverses Lustprinzip geschaffen.

Doch wir kommen vom Thema ab. Der Ich-Erzähler gerät angesichts von Ayses wohlgeformten Hinterteil jedenfalls auf andere Gedanken. Sie erinnern ihn an die Interpretationstheorie des Doppel- und des Einzelhinterns, die ein Kunstkritiker einst entwickelt hatte, und leitet daraus seine eigene Theorie der Wahrheit ab: Es gibt die einfachen Wahrheiten, aber es gibt auch doppelte, ambigue Wahrheiten: "Der Einzelhintern interessiert mich nicht, ich bin für die zwei Seiten der Wahrheit." An dieses Diktum sollte man sich erinnern, wenn der Erzähler an anderer Stelle bekennt, er wolle nichts als "die nackte Wahrheit" berichten. Was landläufig als übertragener Ausdruck für absolute Offenheit gilt, muss hier offensichtlich im Wortsinn verstanden werden: als die zwei nackten Pobacken, welche die doppelte Wahrheit verkörpern. Eine Wahrheit, welche die Dinge nicht nur gleichsam von hinten, sondern auch in ihrer Bivalenz, oder gar Ambivalenz, betrachtet. Tatsächlich wimmelt es in dem Roman nur so von "sinnlosen Symmetrien": von Wiederholungen, Parallelereignissen und Doppelexistenzen, auf die sich der Erzähler (vergebens) einen Reim zu machen versucht. "Klarheit" sei für ihn jedenfalls "kein Merkmal der Wahrheit".

Erzählt wird der Roman aus der Perspektive von Ovidio Romer, einem renommierten Maler - reales Vorbild für die Figur war der mit Malerba befreundete Künstler Fabrizio Clerici -, der sich in die Schweiz zurückzieht, in sein "Schweizer Versteck", um dort "verschanzt" in einem Hotel seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Er hofft, dass ihm "der neutrale Charakter der Schweiz helfen würde", um über sein Leben und dessen Rätsel nachzudenken, das (wie sich herausstellt) vor allem in einem unverarbeiteten Vater-Trauma besteht. Seit sich Ovidio erinnern kann, war der Vater mehrheitlich abwesend. Wie er sukzessive erfährt, führte er ein Doppelleben mit einer anderen Frau, mit der er nach dem Bankrott seiner Firma in Vancouver untertaucht. Durch eine unwahrscheinliche Verkettung von Zufällen erscheint in einer ägyptischen Zeitung jedoch die Falschmeldung, der Vater sei im Nil ertrunken. Ovidio, der während dem Zweiten Weltkrieg in Ägypten im Aktivdienst war, ist frappiert, denn sein General erzählte ihm damals exakt dieselbe Geschichte über seinen Vater. (Eine Parallele findet diese Koinzidenz in der Szene, als Ovidio in der Kartei der Gefallenen seinen eigenen Namen entdeckt.)

Um der Sache auf die Spur zu gehen, reist Ovidio nach Luxor, trifft dort auf Ayse, die ihm später gesteht, dass sie für die Falschmeldung verantwortlich war, und macht sich gemeinsam mit ihr auf die Suche nach dem verstorbenen Vater. Es versteht sich von selbst, dass die Suche ins Leere führt. Stattdessen entdeckt Ovidio in der Wüste einen grossen Stein mit einem Loch in der Mitte, der haargenau wie eines seiner Gemälde aussieht: "Dieses Bild hatte ich vor fünf Jahren zunächst im Kopf zusammengefügt, und jetzt fand ich es in Wirklichkeit wieder." Für den Künstler, ein weiterer Beweis, dass sich auf der Welt alles wiederholt. Sinnbildlich für diese ewige Wiederkehr steht nicht nur das Gemälde des Steinkreises - wie Clericis Corpus Hermeticum (1972), der im Anhang zum Roman auch abgebildet ist -, sondern auch die Namensinitiale O, mit dem der Vater, selbst Onforio genannt, alle "seine legitimen und legitimierten Söhne brandmarken wollte": Ovidio, Oscar und Oliviero.

Wie sich herausstellt, ist auch Ovidios Jugendfreund Vittorio ein weiterer Abkömmling seines Vaters, der ihn später, als er sich mit dessen Mutter nach Vancouver absetzt, folgerichtig in Oliviero umbenennen wird. Als Jugendliche standen sich die beiden Freunde nahe, ohne zu ahnen, dass sie denselben Mann zum Vater haben. Ovidio fertigt sogar eine Aktzeichnung von Oliviero an, die allerdings Fragment bleibt, weil Oliviero nicht mehr zur zweiten Sitzung erscheint, was eine dauerhafte Kränkung beim Erzähler hinterlässt. Am Ende des Romans begegnen sich die beiden Halbbrüder wieder. Oliviero ist unterdessen im Kunsthandel tätig und so ergibt sich ein Treffen in Vancouver, das jedoch distanziert und unergiebig bleibt. Ein weiteres Treffen kommt nicht mehr zustande. Als späte Vergeltung für die unfertige Aktzeichnung, beschliesst Ovidio, der es seinem Halbbruder überdies nicht verzeihen kann, dass er all die Jahre nie über die neue Identität des Vaters informierte, abschiedslos wieder abzureisen.

Die Beweggründe des Vaters für sein Doppelleben, seinen "Hang zum Versteckspiel, zur Verstellung, zur Verlogenheit, zum Geheimnis" vermag Ovidio so nicht zu ergründen. Er empfindet seine Situation im Schweizer Versteck am Ende deshalb als "Flucht" und als "Niederlage". Aus seinen Aufzeichnungen geht jedoch hervor, dass das Geheimnis des abwesenden Vaters letztlich die Ursache ist, weshalb Ovidio sich in seinen Gemälden in die Leblosigkeit und in die Versteinerung flüchtet, weshalb er Bilder malt, auf denen kaum Körper, sondern nur tote Gegenstände zu sehen sind, welche zwar hyperreal wirken und doch leblos sind, einen "Friedhofsgedanken" zum Ausdruck bringen. Sie sind die ins Bild gebannte "Theologie des Negativen" seines Vaters. Als kleines, an sich sinnloses Signal bleibt dieses Negative sogar an dessen Grabinschrift haften, da der Steinmetz seinem Namen ein überflüssiges O anhängt: Romero statt Romer. Es ist dieser "der Null so ähnliche Vokal", der sowohl die ewige Wiederkehr wie auch das Nichts, das Negative, die Leere, den Verlust und letztlich auch die Sinnlosigkeit symbolisiert. Der Kreis, so belehrt Ovidio einmal seinen Kunstlehrer, ist eine Figur zusammengesetzt aus unendlichen vielen Punkten: aus "Null-Längen".

Malerbas vielschichtiger und komplexer Roman, für den er 1992 den Premio Viareggio erhielt, bietet wesentlich mehr, als in einer knappen, auf die Plotstruktur konzentrierten Zusammenfassung wiedergegeben werden könnte. Der Text zieht ein wirbelndes Beziehungsnetz, in dem sich einzelne Handlungssequenzen oder Motive auf unterschiedliche Weise (mythologisch und historisch) spiegeln, verdoppeln, wiederholen, wie überhaupt die Frage nach dem Abbild-Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit leitend ist. Wer imitiert hier wen? Die Kunst die Natur oder umgekehrt? Oder am Ende die Kunst sich selbst? Am Zenit seiner Karriere beginnt Ovidio seine eigene Malerei "zu fälschen", das heisst, er erfindet keine neuen Bilder mehr, sondern malt stets wieder von Neuem, was sich gut verkaufen lässt, während er heimlich einen komplett anderen, persönlichen und intimen (mehr an der Mutter orientierten) Malstil entwickelt, den er jedoch als "Verrat an [s]einer Malerei" begreift und deshalb verborgen hält. Auch Ovidio flüchtet sich, zumindest in künstlerischer Hinsicht, in ein Doppelleben, bei dem die äussere Erscheinung über die wahre Identität hinwegtäuscht. Gegen aussen reproduziert er nurmehr, was die Leute (in ihm) sehen wollen. Hier gelangt die ewige Wiederholung an ihren zwar merkantil lukrativen, aber kreativ stagnierenden Nullpunkt.

Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit ist ausserdem auch auf der Meta-Ebene des Romans angesiedelt. Malerba weist in einer Nachbemerkung eigens daraufhin, dass Bilder von Farbrizio Clerici die Arbeit an dem Roman zwar angestossen haben, und gewisse Bildbeschreibungen im Roman sind eindeutig als Ekphrasen von Clericis Gemälden erkennbar, dennoch betont Malerba ausdrücklich, "dass die erzählten Umstände in keinerlei Beziehung zu Personen oder Ereignissen aus dem Leben und Werk Fabrizio Clericis stehen". Weshalb referiert der Autor zunächst auf eine ausserliterarische Wirklichkeit, nur um im Anschluss jegliche Bezüge wieder zu dementieren? Dadurch wird die Bezugnahme nicht einfach gelöscht, sondern sie bleibt in merkwürdiger Schwebe bestehen. 

Insgesamt wirkt der Roman verworren und unausgeglichen. Er kann sich nicht entscheiden, ob er Künstler-, Abenteuer- oder Familienroman sein will. Letztlich leidet er auch an symbolischer Überfrachtung, an Bedeutungsüberschuss, der sich nicht schlüssig auflösen lässt. Einzelne Szenen und Reflexionen sind durchaus gelungen und originell, wie der eingangs erwähnte Gebetssex, doch insgesamt fällt der Text auseinander wie der Steinkreis auf Clericis Gemälde Un instate dopo (1978).


Montag, 9. Oktober 2023

Lars Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters (1978)

Wenn Du einen Brief aus der Klinik bekommst, der möglicherweise ein letale Diagnose enthält, würdest Du ihn öffnen, um Gewissheit zu haben? Ein interessantes Gedankenexperiment. Der Protagonist aus Gustafssons Buch entscheidet sich dagegen.

Dieser fünfte und letzte Teil aus Lars Gustafssons Roman-Pentalogie Risse in der Mauer geht von einer ähnlichen Ausgangslage aus wie die ein Jahr später erschienene Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän von Max Frisch. In beiden Fällen handelt es sich um Aufzeichnungen sozial entfremdeter, sterbender Männer, um Endzeit-Monologe. Während sich bei Frisch ein Rentner namens Geiser in den hintersten Winkel eines Tessiner Bergdorfs zurückzieht, ist es bei Gustafsson der frühpensionierter Lehrer Lars Lennart Westin, von allen nur 'Wiesel' genannt, der im schwedischen Hinterland von Vertrana ein einsiedlerisches Leben führt und sich der Bienenzucht widmet. Beide leben sie alleine und getrennt von der menschlichen Gesellschaft und sehen sich in ihrer Einsamkeit nochmals mit den zentralen Fragen des Lebens und des Menschseins konfrontiert.

Geiser leidet unter fortschreitender Demenz und versucht sein Wissen, das erodiert wie draussen der Erdboden aufgrund heftiger Unwetter, auf unzähligen Zetteln festzuhalten. Westin hingegen laboriert, wie man gleich Zu Beginn erfährt, an einem tödlichen Krebsgeschwür, das ihm zuweilen heftige Schmerzen verursacht, einen tiefen, "weissglühenden" Schmerz. Er selber kennt die Ursache seiner Schmerzen nicht, da er sich weigerte, den Brief vom Krankenhaus mit der Diagnose zu öffnen. Stattdessen bleibt er lieber im Ungewissen und benutzt den Brief als Fidibus für seine Pfeife. Eine letztlich zwar letale, dennoch aber glückliche Entscheidung. Denn Westin hat die "Pause", die ihm vor seinem Tod noch vergönnt war, wie er selber meint, "gut genutzt". Er findet im Kampf mit dem Schmerz immer mehr zu sich selbst, während sich Geiser in seinem Bergdorf immer stärker abhanden kommt. Nicht allein darin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen den von der Ausgangsidee ähnlichen Texten.

Einen Roman in konventionellen Sinne kann man Der Tod es Bienenzüchters nicht nennen. Er präsentiert sich vielmehr als Nachlass-Konvolut verschiedener Hefte mit verstreuten Einträgen: Es gibt ein gelbes, ein blaues und ein beschädigtes Notizbuch, aus denen der als Herausgeber fungierende Lars Gustafsson in loser Reihenfolge Auszüge unter sprechenden Kapitelüberschriften zusammenstellt. Die Farbterminologie der Notizbücher erinnert an die Diarien eines anderen grossen Schweden: August Strindberg nannte seine (erst postum publizierte) Notizensammlung das 'Blaubuch' und bezeichnete es als die "Synthese seines Lebens". Das gilt nun auch für Westins Aufzeichnungen in besonderem Maße: Angesichts des nahen Todes zieht er nochmals Bilanz über seine Existenz im Persönlichen wie im Allgemeinen. Er übt sich in der ars moriendi, wobei er eine gänzlich neue Praxis für sich reklamiert: "Oder vielleicht ist es eine neue Art des Sterbens, die ich gerade erfinde?" Genau genommen ist es keine Sterbekunst, sondern vielmehr die "Kunst, Schmerzen zu ertragen" - eine Kunstart mithin, "deren Schwierigkeitsgrad so hoch ist, daß es niemanden gibt, der sie ausübt." Außer Westin.

Westin, der zeitlebens zu wenig gewollt hatte, sich zu wenig 'wirklich' fühlte, findet nun im Schmerz zu einer Art ekstatischer Erfahrung, die er einem paradiesischen Zustand gleichsetzt, in dem Lust- und Schmerzempfinden in einander übergehen. Der Schmerz "ist ein Reich, in dem endgültige Wahrheit herrscht." Weil der Schmerz nichts anderes als real ist. In einer an die Akademie von Lagado (aus Gullivers Reisen von Jonathan Swift) angelegten Parabel entwirft Westin die Utopie einer "Welt, in der die Wahrheit herrscht". Die Bewohner dieser Welt kommunizieren nicht mit Sprache oder Symbolen, sondern mit den Gegenständen respektive Handlungen selbst. Sie sagen es nicht, sondern tun es direkt, was sie mitteilen wollen. Zwei Konsequenzen resultieren daraus: Zum einen, sind Lügen nicht möglich, zum anderen bleibt der Horizont dessen, was überhaupt ausgedrückt werden kann, beschränkt. Einen Begriff von 'Welt' kann es in dieser Utopie nicht geben, weil die Welt als solche müsste aufgeboten werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Schmerz: Auch er ist absolut real, echt und ohne Falschheit und entzieht sich letztlich jedem sprachlichen Zugriff.

Hier macht sich der Sprachphilosoph Gustafsson bemerkbar, der - im selben Jahr wie Tod eines Bienenzüchters - über das Thema "Sprache und Lüge" habilitierte und dabei neben Fritz Mauthner und Alexander Bryan Johnson auch Friedrich Nietzsche behandelte. Dessen Einfluss zeigt in einer anderen, weitaus kühneren Utopie in Westins Notizheften. Anders als Nietzsche, dessen Zarathustra den Tod Gottes verkündete, entwirft Westin eine Parabel vom erwachenden Gott. Gott ist nicht tot, er schläft nur 20 Millionen Jahre lang tief und fest in einem fernen Winkel des Universums und kümmert sich nicht um seine Schöpfung, bis eines Tages seltsame Klänge an sein Ohr dringen. Gott wacht auf und bemerkt, dass es sich um Gebete der Menschen handelt. Sofort eilt Gott herbei, hilft den Bedürftigen, sorgt für ewigen Frieden und soziale Gerechtigkeit und liest den Menschen alle heimlichen Wünsche von den Lippen. Mit dem Effekt, dass die ganze Welt in Saus und Braus aufgeht. Es wird fröhlich pokuliert und kopuliert, es herrschen Zustände wie in Sodom und Gomorrha. Der Beweis für die Güte und Allmacht Gottes ist erbracht, jedoch ganz zum Ärger des Klerus und der Kirche, die sich die göttliche Obhut gänzlich anders ausgemalt haben. Weshalb sie das Volk dringend dazu aufrufen, weniger zu beten, damit die katholische Welt nicht noch mehr aus den Fugen gerät.

Wie in der Geschichte des Großinquisitors bei Dostojewski sieht die Kirche ihre Vormachtstellung auch hier durch die Realpräsenz des Göttlichen bedroht - und will es lieber wieder aus dem Weg schaffen. Gustafssons Parabel endet jedoch nicht mit dem Sieg der Kirche, sondern sie mündet wiederum in die Sprachlosigkeit. Die Erfüllung aller Wünsche durch Gott führt zu einem Dasein, "für das keine Worte gab" und es "begann das Sterben der Sprache". Das utopische Ideal einer Welt ohne Lüge und grenzenlosem Glück ist für Gustafsson nur als Bereich jenseits der Sprache denkbar. Das gilt für das Paradies ebenso wie für die göttliche Offenbarung. Wo sich die Sprache dazwischen mischt, da entstehen Missverständnisse und es kommt zu Konflikten. Obwohl Westin seinen Schmerz als einen  Zustand kat exochen erlebt, will er sich ihm doch nicht ergeben, sondern er kämpft täglich dagegen an. Sein Credo lautet: "Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf." Er erweist sich dadurch als ein spezieller Typus eines Atheisten: Er negiert nicht Gott, sondern stellt sich ihm als Antithese entgegen: "Wenn es einen Gott gibt, ist es unsere Aufgabe, nein zu sagen." Und Westins nachgelassene Aufzeichnungen stehen unter dem dezidierten Vorsatz, "ein großes, deutliches Nein zu sein".




Freitag, 6. Oktober 2023

Tom Kummer: Blow up (2007)

1996 erscheint in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Pamela Anderson, das sich deutlich von der Belanglosigkeit gewöhnlicher Star-Gespräche abhebt. Pamela zeigt viel Esprit, spricht ebenso aus dem Nähkästchen und gibt Vertraulichkeiten preis wie sie sich auch zu luziden Selbstanalysen aufschwingt und auch um pointierte Statements nicht verlegen ist. Das Feuilleton ist begeistert. Endlich hat es einer geschafft, das Star-Interview auf eine neues Niveau zu heben und den Promis mehr als nur ein paar Floskeln und Plattitüden zu entlocken. Tom Kummer heisst der Mann der Stunde, der sein Erfolgsrezept bei der Crème-de-la-crème des Showbusiness fortsetzt: Sharon Stone, Bruce Willis, Phil Collins und vielen mehr verhilft dieser Kummer zu den erstaunlichsten Aussagen und Reflexionen ...

... bis vier Jahre später die Blase platzt und Kummer vorgeworfen wird, seine Interviews seien alle nur erstunken und erlogen. Es folgen verschiedene Berichte und Stellungnahmen, die schliesslich dazu führen, dass Kummer seinen Job los wird und auch die Chefredakteure bei der Süddeutschen Zeitung ihre Posten räumen müssen. Eigentlich merkwürdig: Obwohl das Unwahrscheinliche dieser Interviews allen in die Augen stach, hinterfragte man sie nicht, sondern brach in kollektive Begeisterung aus. Der Glaube an die schiere Möglichkeit war stärker als jede kritische Reflexion. Die Grenze zwischen Betrug und Selbstbetrug verläuft hier fliessend. Der ehemalige Tennisprofi Kummer hat mit seinen Fälschungen das System des People-Journalismus selbst an die Wand gespielt. Von den einen deswegen als Genie gefeiert, gilt er in der schreibenden Zunft der Journalisten seither freilich als Verräter.

Kummer selbst hat seine Sichtweise auf diese Episode in dem autobiographischen Bericht Blow up aufgearbeitet. Es ist weniger eine Rechtfertigung als eine Rekonstruktion der Ereignisse, die Kummer zunächst verdrängte. Das Motiv des Vergessens durchzieht den Text von Anbeginn, wo Kummer mittlerweile als Tenniscoach Tomàs in einem Privatclub der High Society untergetaucht - und damit just in einem Milieu angekommen ist, das er in seinen Fake-Interviews nur prätentierte. Im Jonathan Club bei Pacific Palisades verkehren echte Hollywoodgrössen wie Johnny Depp, Scarlett Johanson oder Gwyneth Paltrow. Inmitten dieser Prominenz beschleichen Kummer Gewissenbisse und er beginnt sich der Vergangenheit zu stellen. Mithilfe von Tonband-Aufnahmen, u.a. mit Tapes seines alten Telefonbeantworters, will er seine verschüttete Erinnerung wieder schichtweise freilegen.

Das Buch bietet somit einen interessanten Abriss des frühen Lebenslaufs des Autors und seiner journalistischen Karriere, von den Anfängen bei der Szene-Zeitschrift Tempo bis hin zu seinem Aufstieg als Hollywood-Reporter für die Süddeutsche, stets mit viel name-droping garniert, was wohl unterstreichen soll, dass Kummer dick im Geschäft war, obwohl er sich selbst stets als Randfigur und Aussenseiter wahrnahm, der eher nolens als volens in den Journalismus rutschte und deshalb stets einen scheelen Blick auf diesen wirft. Hier liegt ein interessanter Aspekt des Buchs, da Kummer eine Argumentationsfigur aufbaut, um sich weniger für seine Fake-Interviews zu entschuldigen, sondern ihre Systemnotwendigkeit quasi zu begründen. Da die ganze Presselandschaft nichts anderes als eine Scheinwirklichkeit konstituiert, ist es eigentlich ehrlicher oder zumindest konsequenter, wenn man sich gar nicht mehr an die Wirklichkeit hält.

Dabei verläuft sein Argument in zwei Richtungen: Zum einen verweist Kummer en passant immer wieder auf die Künstlichkeit nicht nur der Gesellschaft, sondern auch des Redaktionshabitus, und spricht den Zeitungen ihren Wahrheitsanspruch ab. Das sei alles nur Augenwischerei oder wie es mit Rekurrenz auf Jean-François Lyotard an einer Stelle heisst: "die Realität als Show". Es fallen Sätze wie: "Wie so oft im Journalismus waren die gesprochenen Worte und die gedruckten Texte zweierlei." Oder: "Jede journalistische Strategie, die darauf abzielt, Authentizität und Objektivität glaubwürdig zu simulieren, ist im Grunde faszinierend und einen Versuch wert. Nur hat es mit der Wahrheit nichts zu tun." Näher an die Wahrheit gelangt man hingegen, so suggeriert es Kummer zwischen den Zeilen, wenn man sie wie er erfindet.

Der zweite Teil von Kummers Argumentationsstruktur streicht deshalb seine schon früh entwickelte Freude am Erfinden von Geschichten hervor. Sich die Realität, die in Kummers Augen ohnehin nicht authentisch zu vermitteln ist, wenigstens zu erschreiben. Bereits während seiner schliesslich gescheiterten Tenniskarriere gelangte er zur Erkenntnis: "Die Wirklichkeit ist enttäuschend. Stattdessen amüsiere dich über den Wirbel, den Du verursachst." Bei seinen ersten Reportagen gewann er ebenso rasch die Gewissheit, "dass man nicht alles mit eigenen Augen erleben musste, um über die sogenannte Wirklichkeit zu schreiben". Was schliesslich dazu führte, wie Kummer schreibt, "dass ich einen Pop- oder Hollywoodstar für eine semifiktive Figur halte - und als solche müsste sie es sich eigentlich gefallen lassen, wenn die Rezeption die Fiktion weiterspinnt". Die Stossrichtung all dieser Statements ist klar: In einer Welt, wo Ansehen und Schein alles zählen, kommt dem Fake letztlich mehr Wahrheitsgehalt zu.

Die Frage bleibt nach der Lektüre, welchen Status nun Kummers Memoiren haben. Fällt da der Vorwurf des Fake auch auf sie zurück? Ein Autor, der so offen zugibt, dass er es mit der Wahrheit nicht allzu genau nimmt, der sich gerne alternative Wirklichkeiten ausdenkt, ist zwangsläufig ein unzuverlässiger Erzähler. ("Tom Kummer, schon der Name klingt erfunden.") Und das obwohl er eine absolut glaubwürdig klingende Prosa schreibt: offen, direkt, persönlich, ehrlich, unverstellt. Kummer versteht es exzellent diese stilistischen Register zu ziehen, damit seine Memoiren authentisch klingen. Ob sie es auch tatsächlich sind, ist - gemessen an den Maximen des Autors - vielleicht gar nicht die entscheidende Frage.


Donnerstag, 5. Oktober 2023

Mike Johansen: Die Reise des gelehrten Doktor Leonardo ... (1932)

Im Jahr 1959 plante der polnische Schriftsteller und Journalist Jerzy Giedroyc, der bis zu seinem Tod die bedeutende Exilzeitschrift Kultura herausgab, eine Anthologie mit Texten von ukrainischen Autoren, die in den 1930er Jahren Opfer des Stalinismus wurden, im Gefängnis landeten oder gar im Gulag umkamen. Als Titel wählte Giedroyc den Namen Rosstriljane widrodschennja, was auf Deutsch unterschiedlich mit 'erschossene Renaissance' (oder 'hingerichtete Wiedergeburt' bzw. 'Regeneration') übersetzt wird. Die Anthologie kam nie zustande, doch der Titel wurde zur feststehenden Bezeichnung für jene Generation ukrainischer Schriftsteller, die den kulturellen Aufbruch und ihr progressives Literaturverständnis mit dem Leben büssten.

Zu dieser Generation gehörte auch der 1985 in Charkiw geborene und 1937 in Kiew ermordete Mike Johansen, dessen Werk dank der Initiative des Münchner Staatsbibliothekars Johannes Queck erstmals im deutschen Sprachraum bekannt wird. Hier zeigt sich der zumindest kulturelle Kollateralnutzen des anhaltenden Ukraine-Kriegs: Es gelangt eine bislang weitgehend unbekannte, weil unbeachtete literarische Landschaft ins Blickfeld. Die Metapher der 'Literaturlandschaft' ist bei Johansen sogar beim Wort zu nehmen, denn wie es im vorangestellten Motto zu seinem Romans heisst, wolle er eine "Landscape-novel", einen "Landschaftsroman", schreiben.

Die Reise des gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die slobidische Schweiz - wie der vollständige Titel des Romans lautet - zählt Johannes Queck zu den "Schlüsselwerken der Ukrainischen Avantgarde der 1910er-1930er Jahre". Die im Titel genannten Landschaft, die slobidische Schweiz, existiert nicht wirklich; sie ist eine Phantasielandschaft, die natürlich wieder auf die Realität verweist. Gemeint ist die Region um Johansens Geburtstadt Charkiw, als 'Schweiz' wird sie (in Analogie zur Fränkischen oder Sächsischen Schweiz) deshalb bezeichnet, weil ihre Topographie an den helvetischen Kleinstaat erinnert, wie Alceste im Roman einmal begeistert ausruft:

Hier beginnt die Seenschweiz. Ich habe den Vierwaldstätter See und den Genfer See in jener Schweiz gesehen, die früher die Welt mit Portiers versorgt hat und sie heute mit Toblerone versorgt. Jene Seen sind wunderschön und weitaus größer als diese hier, das Wasser in ihnen ist klar und azurblau.

Doch unter Landschaftsroman versteht Johansen mehr als nur das Genre des nature writing. Er beabsichtigt damit, das Verhältnis herkömmlicher Erzählweisen überhaupt umzukehren. Nicht mehr das Personal, sondern die Landschaft soll die Handlung bestimmen: "Nirgends steht geschrieben, dass ein Autor eines literarischen Werkes sich dazu verpflichtet, lebendige Menschen durch dekorative Landschaften zu führen. Er kann im Gegenteil versuchen und dekorative Menschen durch lebendige und reichhaltige Szenerien zu führen." Im Resultat führt dieses Vorhaben auf eine metafiktionale Spielerei, bei der die Romanfiguren wie Pappkameraden hin- und hergeschoben werden, mitunter die Identitäten wechseln und sich vor allem auch ihres fiktionalen, unwirklichen Charakters bewusst sind.

Verschiedentlich sprechen die Romanfiguren miteinander über den Autor, als wäre er ein Gott, der ihr Schicksal lenkt, oder sie führen kurze erzähltheoretische Exkurse, wobei für sie, wie es an einer Stelle heisst "Gesetze der Handlung" so "unumstößlich und unerschütterlich" sind wie anderweitig "Naturgesetze". Tatsächlich entwickelt sich die Handlung ohne ersichtliche Motivation, vielmehr sind es äussere Ereignisse, welche den Ablauf bestimmen, und Naturwunder, wie die finale "Zaubernacht", welche das Geschehen lenken. Den Bahnhof, den die  beiden Protagonisten Leonardo und Alceste von Anbeginn ansteuern, erreichen sie nie, stattdessen versinken sie am Ende im Tartaros, der sich in einem Erdwall (Prysba) auftut.

Am Schluss pafft der Schlosser Scharaban, eine mythologische Gestalt, der über die Gestirne und den Tageslauf verfügt, seine Pfeife "und durch die blauen Schriftrollen aus Rauch zeichneten sich bereits die unglaublichen Konturen der Slobidischen Schweiz ab." Mit diesem Satz endet der Roman und unterstreicht somit nochmals den fiktiven Status der Geschichte, die nichts anderes als blauer Dunst ist. Das Bild von den Schriftrollen aus Rauch verweist dabei auf eine Szene ungefähr in der Mitte des Buchs, wo ein Baumpflanzer sich aus einem Gedichtblatt eine Zigarette rollt und sie genüsslich verpafft. Auch da steigt "ein Strom bläulichen, süßlichen Rauchs" in den Himmel. 

Literatur besitzt keinen Ewigkeitswert, sondern dient dem momentanen Genuss, der sich auch wieder verflüchtigt wie der Rauch einer Zigarette. Dies zumindest war die Einstellung von Mike Johansen, der die Auffassung vertrat: "Der soziale Wert der Kunst entspricht in etwa dem Wert von Eis und Schnee im Sommer und dem von heißem Tee im Winter. Die sozial produktive Funktion der Kunst ist dieselbe, wie die eines Karussells oder eines harmlosen Spiels; das Wort ist eine der Möglichkeiten, sich zu erholen."



Sonntag, 17. September 2023

Ulrich Becher: Das Profil (1973)

Ulrich Becher war seit jeher ein wortmächtiger, saft- und kraftvoller Erzähler, der seine Lebenswirklichkeit in skurrile, groteske, zuweilen karikierende Geschichten packte - geschult an seinem frühen Mentor, dem Karikaturisten George Grosz, der in diesem späten Roman dem Maler Altdorfer Pate stand. Wie Grosz so wohnt auch Altdorfer - er wählt diesen Übernamen als Referenz an den historischen Künstler, den er zusammen mit Matthias Grünewald als Proto-Expressionisten verehrt - als exilierter Künstler auf Long Island bei New York - und zwar, wie es an einer Stelle heisst, in unmittelbarer Nachbarschaft von George Grosz. Hier trifft die Realperson auf ihr fiktionales Alter Ego Altdorfer und die Wirklichkeit vermengt sich mit der Erfindung, wie es typisch für Bechers Prosa ist.

Altdorfer schlägt sich mehr schlecht als recht im New Yorker Kunstbetrieb durch. Umso erfreuter zeigt er sich, als sich ein Reporter von der Manhattan Review bei ihm meldet, um einen ausführlichen Beitrag über ihn zu schreiben - ein "Profil", wie die Rubrik heißt. Eine Woche lang interviewt Dennis Howndren, so der Name des Journalisten, den Künstler, doch dann geraten beim Dinner am letzten Abend die Dinge ausser Kontrolle. Howndren entpuppt sich als trockener 'dipsomaniac', als ehemaliger Quartalssäufer, der den Anonymen Alkoholikern beigetreten ist und den Spirituosen seither abgeschworen hat. Da ihm Altdorfer jedoch nachgerade ein Glas Beaune Villages aufdrängt, entfesselt sich die alte Trinklust wieder und Howndren schlägt über die Stränge.

Howndren ist die eigentliche Hauptfigur des Romans. Er wird als Hüne geschildert, als Enakskind, mit phosphorgrünen Augen und einem roten Bürstenhaarschnitt. Eine clowneske, gar mythologische Figur, die gleichzeitig mit dem Tornado Greta Garbo wie eine Urgewalt über Altdorfer und seine Familie hereinbricht. Im Suff beginnt er mit Schüttelbecher Baseball zu spielen, zerdeppert dabei eine Whiskeyflasche, entkleidet sich bis auf die Unterhose, verbrennt seine Schuhe und gerät zusehends ausser Kontrolle, so dass Walt, der eine Sohn der Familie, ihn in eine Zwangsjacke steckt. Mit seinen Riesenkräften vermag sich Howndren jedoch wieder daraus zu befreien, rennt in den Garten und klettert dort auf eine Ulme, von der er nicht mehr herunter will.

Hier liegt ganz offensichtlich eine Anspielung auf den irischen Kultroman At-Swim-Two-Birds (1939) von Flann O'Brien vor, wo die Sage vom König Sweeny in den Bäumen erzählt wird und auch der Alkohol (wie überhaupt bei O'Brien) eine dominante Rolle spielt. Nicht zufällig wird Howndren bei Becher als Ire eingeführt, und je länger die Erzählung andauert, umso mehr verwandelt sich der Journalist in eine sagenhafte, überlebensgroße Figur, bis er am Ende als König Triton nackt am Sund vor New York posiert. Er zählt damit zum Geschlecht anderer literarischerer Riesenfiguren, welche den Lauf der Dinge durcheinander bringen, so zum Beispiel der "sichere Mann" bei Eduard Mörike oder der Riese Sonntag bei G. K. Chesterton.

Erzähltechnisch raffiniert werden die Lesenden unvermittelt auf die mitunter abrupten Wendungen der Geschichte vorbereitet, als nach der anfänglichen Dinner-Szene, wo Howndren seine sozialistischen Exkurse verbreitet, plötzlich ein anderes Kapitel aufgeschlagen wird und der Erzähler sich einlässlich über das geheime Sexleben von Evelyn "Evie" Lampbell ausbreitet, die zuvor als keusche "Defregger-Schönheit" eingeführt wird (in Anlehnung an den biederen Tiroler Genremaler Franz Defregger), in Wahrheit aber, wenngleich emotional stets unbeteiligt, nichts anbrennen lässt und selbst vor Orgien und schwarzen Messen nicht zurückschreckt. Die geneigte Leserin wird von solchen Offenbarungen derart überrumpelt und vor den Kopf gestossen, dass sie in der Folge selbst die wildesten Kapriolen der Geschichte nicht mehr wundern kann.

Der Hang zur Überzeichnung ist Bechers Prosa allgemein eigen. In diesem Spätwerk scheint er es streckenweise jedoch zu übertreiben, oder aber die Lust am schieren Fabulieren verkommt hier mitunter zum reinen Selbstzweck. Ein verrückter Einfall jagt den nächsten, stets in überbordender, sprachgewaltiger Schilderung, was zu Lesen eine wahre Freude ist, auch wenn einem bisweilen die Geschichte entgleitet. Doch wie könnte es bei einem Delirium auch anders sein. Zwischen den Eskapaden der äußeren Handlung flirren jedoch immer wieder enzyklopädische Polit- und Kunstdiskurse durch, welche um das Fanal des Zweiten Weltkriegs kreisen, der nicht nur George Grosz, sondern auch Ulrich Becher ins amerikanische Exil getrieben hat.

Sonntag, 9. Mai 2021

C.K. Chesterton: Der Mann, der Donnerstag war (1908)

G.K. Chesterton war weitaus mehr als nur der Erfinder des behäbigen Ermittlerpriesters Pater Brown. Neben diesen berühmten Kriminalgeschichten verfasste er eine Fülle von weiteren Erzählungen, scharfsinnige und witzige Essay so wie eine Handvoll Romane, von denen The man who was Thursday (1908) am einflussreichsten war. Es ist eine Mischung aus Thriller und Nonsens, welche die Grenzen zwischen Traum und Realität verwischt, und gilt deshalb als Vorläufer von alptraumhaften Visionen eines Kafka oder Borges. Im Untertitel wird der Roman auch als «A Nightmare» bezeichnet – in der deutschen Übersetzung als «eine Nachtmahr». Am Ende entpuppt sich tatsächlich alles als verrückter Traum, wobei es unklar ist, wann genau die Erzählung die Realitätsebene verlässt und in eine zusehends irrwitzige Phantasmagorie schlittert. Es gehört jedoch zur Raffinesse des Erzählers, dass die Ereignisse, so absurd sie auch anmuten, nie unglaubwürdig wirken.

Doch worum geht es: Im Zentrum steht der Dichter Gabriel Syme, der von einer Spezialeinheit der Polizei angeheuert wird, um sich in Anarchistenkreise einzuschleusen, was ihm auch gelingt. Unter dem Decknamen «Donnerstag» dringt er in den inneren Zirkel um den hünenhaften, ominösen «Sonntag» vor, der in ganz England Sprengstoffattentate mit Dynamit plant, die es zu vereiteln gilt. In ständiger Angst aufzufliegen, fühlt sich Syme von Anarchisten aus der Gruppe observiert. Es kommt zu Duellen und rasanten Verfolgungsjagden zu Fuss im Auto und im Ballon, die aber alle in der Pointe münden, dass jeder der vermeintlichen Anarchisten sich in Tat und Wahrheit als verdeckter Ermittler erweist. So stellt sich schliesslich die ganze Anarchistenbande als maskierte Gesetzeshüter heraus, die von der Person namens «Sonntag» rekrutiert worden war. Der Roman mündet schliesslich in einer allegorischen Szene, wo alle Polizisten als Personifikationen der Wochentage figurieren und sich zu einem Show-down versammeln – bis dann die Traumblase zerplatzt und der Protagonist Syme wieder erwacht.

Die faszinierendste Figur des Romans ist jedoch der rätselhafte Sonntag, der als eine Art Übermensch oder Gott geschildert wird: ein Riese, ein halbes Tier, der mit der mythologischen Gestalt des Pan verglichen wird und den Syme an die «kolossale Memnonmaske» im British Museum erinnert. Sonntag ist eine dämonisch-archaische Urgestalt, auch eine karnevaleske Figur im Sinne Bachtins, wenn er etwa seinen Verfolgern seine «unmessbare, unübersehbare Hinteransicht» präsentiert und sie mit Nonsens-Botschaften traktiert. Er ist eine irrationale Kraft, welche das Verständnis der Menschen übersteigt; er ist der Gott, der mit den Menschen spielt und darüber lacht. Kurz vor dem Aufwachen stellt er Syme die Frage: «Vermagst Du aus dem Kelch zu trinken, aus dem ich trinke?» Gemeint damit ist der ‘bittere Kelch’, der «Becher des Zorns», aus der Bibel als Symbol für ein schweres Schicksal, das es zu ertragen gilt. Der Mensch, so die Pointe von Chestertons «Nachtmahr», muss die Absurdität seines Daseins ertragen, auf die nicht einmal ein Gott eine Antwort weiss. Der Roman gibt sich so als eine umgekehrte Theodizee zu erkennen. Chesterton soll einmal gesagt haben: Die Welt sei «die beste aller unmöglichen Welten».