Freitag, 31. Mai 2024

Apollinaire: Der gemordete Dichter (1916)

Apollinaire, der Urvater künstlerischer Avantgarden, war ein Tausendsassa. In seinem kurzen Leben war er nicht nur ungeheuer produktiv, sondern vor allem innovativ, indem er auf ganz unterschiedlichen Gebieten wesentliche Impulse setzte, ganz abgesehen davon, dass überhaupt er es war, der den Begriff der Avantgarde aus dem Militärjargon auf die Künste übertrug und damit eine Epochenbezeichnung schuf. Er war mit Picasso befreundet und würdigte als erster den Kubismus, er kreierte mit seinem "Calligrammen" eine neue Ausdrucksform der visuellen Poesie, er beerbte die Tradition der Bestiarien unter modernen Vorzeichen, er schuf mit Les mamelles des Tirésias das erste surrealistische Drama, sein Gedichtband Alcools war bahnbrechend, daneben verfasste er zwei pornographische Grotesken und diverse Erzählungen.

Im Jahr 1916, als in Zürich der Dadaismus ausgerufen wurde, erschien der Erzählband Der gemordete Dichter, der unverkennbar dadaistische Züge trägt. Apollinaire stand bereits früh in Kontakt mit der neuen Bewegung. In der ersten Zürcher Publikation, dem von Hugo Ball redigierten Magazin Cabaret Voltaire, war er mit dem Gedicht Arbre vertreten wie auch sein Freund Pablo Picasso mit einer kubistischen Zeichnung und der ebenfalls mit ihm befreundete Blaise Cendrars mit dem Gedicht Crépitements. Die Erzählung Der gemordete Dichter nimmt den dadaistischen Nonsens in wesentlichen Momenten vorweg. Sie beschreibt die Lebensgeschichte des Dichters Croniamantal von der Wiege bis zu seiner - bereits im Titel angekündigten - Ermordung.

Die Erzählung ist Schriftsteller-Karikatur, Satire auf den Literaturbetrieb und biographischer Schlüsseltext in einem. Hinter der Entwicklung und den Begegnungen Croniamantals sind arg verfremdet, für Eingeweihte jedoch erkennbar, Apollinaires eigene Stationen und Bekanntschaften untergebracht. So soll Picasso als Vorbild für den Maler namens "Vogel der Langmütigen" gedient haben, auch wenn diese Anspielung nicht restlos zu entschlüsseln ist. Und in Croniamantals unglücklicher Liebschaft zur Tänzerin Tristouse Ballerinette spiegelt sich Apollinaires Beziehung zur Malerin Marcie Laurencin. Doch versteht sich von selbst, dass die bizarre Erzählung nicht 1:1 auf die Lebensgeschichte ihres Autors niederzubrechen ist.

Von Ferne klingt im eigentümlichen Namen 'Croniamantal' auch der Dichter Lautréamont an, wie sich Isidore Lucien Ducasse nannte, den die Surrealisten, insbesondere aufgrund seiner Chants de Maldoror, als wichtigen Vorläufer verehrten. Wenn es zu Beginn der Erzählung heisst, Croniamantal werde bei den Arabern rückwärts 'Latnamainorc' genannt, so ist die lautliche Namensnähe zu Lautréamont noch offensichtlicher. Doch auch in diesem Fall handelt es sich nur um eine von vielen Anspielungen, dieser an irrwitzigen Einfällen nicht armen Kurzromans. In der Rasanz, wie der die abenteuerliche Lebensgeschichte ausbreitet, erinnert er an Melchior Vischers Dada-Roman Sekunde durchs Hirn, der sich möglicherweise bei Apollinaire inspiriert hat. Nicht zuletzt zeichnet sich Vischers Protagonist wie Croniamantal durch eine grosse Potenz, zumindest ein grosses Gemächt aus (partes viriles exiguitatis).

Alle Episoden aus Croniamantals Leben hier nachzuerzählen, ergibt wenig Sinn. Hingegen darf das groteske Finale, das dem Roman nicht zuletzt den Titel verleiht, nicht ausser Acht gelesen werden. Apollinaire entwirft dort eine Satire auf den Literaturbetrieb, die heute wohl noch aktueller, als sie damals schon war. Pausenlos werden Literaturpreise verliehen und Dichter ausgezeichnet, was schliesslich darin gipfelt, dass an einem Tag 8019 Preise vergeben werden, die sich insgesamt auf eine Summe von über 50 Millionen Francs belaufen. Dieser Literatursubventionismus ist dem Agrarchemiker Horace Tograth ein Dorn im Auge, weshalb er öffentlich dazu aufruft, gegen diese "poetische Plage" vorzugehen, welche der werktätigen Bevölkerung das Geld aus der Tasche zieht, um es der "überprivilegierten Rasse der Dichter" zuzuschanzen, die lieber die hohle Hand machen als selber zu arbeiten.

Wie ein Strohfeuer verbreitete sich dieses Pamphlet gegen die Dichter und es kommt in verschiedenen Ländern zu öffentlichen Pogromen. Überall werden die Autoren verfolgt, verprügelt und hingerichtet. Was Roland Barthes 1968 unter dem Titel La mort de l'auteur theoretisch reflektieren wird, ist bei Apollinaire nichts anderes als eine beim Wort genommene blutige Wahrheit: "Tod dem Dichter" schreit die fanatische Menge und die Drohung richtet sich zuletzt auch gegen Croniamantal, der sich vor dem Volk noch stolz als "der grösste der lebenden Dichter" präsentiert. Dieser Hochmut wird ihm zum Verhängnis, denn die Meute beweist ihm das Gegenteil, indem sie ihn auf offener Strasse massakriert. Aus dem grössten lebenden Dichter wird - und das ist die finale Pointe - ein unsterblicher Dichter. Erst nach seinem Tod ist auch die Tänzerin Tristouse, die seine Liebe verschmähte und sich sogar an seiner Ermordung beteiligte, sein Genie anzuerkennen.

Mittwoch, 29. Mai 2024

Witold Gombrowicz: Ferdydurke (1938)

In seinem Tagebuch von 1953 notiert Gombrowicz ein Bonmot des polnischen Nobelpreisträgers für Literatur, Czeslaw Milosz: Der Unterschied zwischen einem westlichen und einem östlichen Intellektuellen bestehe darin, dass ersterer "nie richtig eins in die Fresse gekriegt hat". Ob der Ausspruch tatsächlich von Milosz stammt oder ihm von Gombrowicz lediglich in den Mund gelegt wurde, ist nebensächlich, da das In-die-Fresse-kriegen eine entscheidende Rolle in Gombrowicz' Poetik einnimmt. Es gibt wohl kaum einen Roman, in dem so viele Maulschellen und Backpfeifen erteilt werden wie in Ferdydurke.

Wie man aus Märchen wie Dornröschen weiss, können Ohrfeigen die Realität verändern oder Personen aus ihrem Wirklichkeitsbereich reissen. So geschieht das auch gleich zu Beginn von Gombrowicz' Roman, als der Protagonist Jozio ein urplötzlich aufgetauchter Doppelgänger seiner selbst wieder verscheucht, indem er ihm "mit voller Wucht ins Gesicht" schlägt. Der Doppelgänger verschwindet zwar, doch im selben Moment klingelt Professor Pimko, der "grosse Kleinmacher", an der Haustüre und drängt den dreissigjährigen Jozio (halb nolens halb volens) zurück in die Schule und erneut in in ein präpubertäres Alter hinein: in das Stadium der Unreife. 

Auf seiner Devolution zum "Rotzbengel" durchlebt der Anitheld Jozio drei Stationen: zunächst geht es in die Schule, wo er einer umfassenden "Popopädagogie" unterzogen wird, dann folgt der Aufenthalt im bürgerlichen Haushalt der Familie Jungmann, die wie der Name schon besagt die moderne Generation vertritt, mit ihrer - im Unterschied zu Jozio nicht un-, sondern eben frühreifen - Tochter, deren Waden nicht nur Jozio besonders Eindruck machen, und schliesslich, als dritte Station, auf einem Gutshof bei Landadeligen, wohin Jozio seinen Schulkameraden Mjentus begleitet, weil dieser unbedingt aufs Land will, in der Hoffnung, dort einen "Bauernbengel" zu finden, nach dem sich all sein Sinnen und Trachten richtet.

"Ferdydurke" ist ein erfundenes Wort. Es ist nicht einmal klar, ob es eine Sache oder eine Person bezeichnet. Semantisch stecken darin polnische Anklänge an den Ganoven, aber auch an den Trottel. Eine Art Kofferwort also, der als Sammelausdruck für die gesamte bengel- und flegelhafte Sphäre der Unreife steht, die im Roman ausgebreitet und gegen die modernistische Gesellschaft in Stellung gebracht wird. Auf inhaltlicher Ebene entspricht die Unreife dem Regredieren des Protagonisten, auf formaler Ebene korrespondiert sie mit der Antiform des Romans, über die in zwei längeren poetologischen Exkursen - die nicht unwesentlich zur Formlosigkeit betragen - eigens reflektiert wird.

Tatsächlich ist es schwierig, eine Art Struktur in dem Text zu erkennen. Einzig und ausgerechnet bei den beiden Exkursen zeigt er sich ironischerweise um Symmetrie bemüht, was den Vorsatz allerdings sogleich wieder ins Gegenteil verkehrt. Wie ohnehin alles aus den Fugen gerät. Der Roman verläuft entropisch einer zunehmenden "Entfesselung" entgegen, die schliesslich im letzten Kapitel in der "entfesselten Fressefreiheit" kulminiert, wo der ersehnte Bauernbengel so genussvoll verdroschen wird, wie es die Literaturgeschichte bis dato wohl in den derbsten Bauernschwänken nicht gesehen hat. Auch der Protagonist bekommt am Ende sein Fett weg, doch er frohlockt und fordert erst recht dazu auf, ihm die Fresse zu polieren.

"Seid gegrüsst, seid gegrüsst, ihr reizenden Bündel von Körperteilen", lauten seine letzten Worte, bevor er sich etwas brüsk aus dem Staub macht. Die Vorliebe, nein: die Obsession für einzelne Körperteile anstelle eines organischen Einheit durchzieht den gesamten Roman: Es wimmelt nur so von Popos, von Waden und natürlich von Fressen. Diese Bevorzugung des Teils vor dem Ganzen widerspiegelt auf inhaltlicher Ebene die Formlosigkeit des gesamten Textes: Nichts darin ist wirklich gegliedert, vielmehr scheinen die einzelnen Glieder ein unkontrollierbares Eigenleben zu führen. Entsprechend quecksilbrig liest sich der Roman und lässt sich kaum auf einen brauchbaren Nenner bringen. Es gibt vielleicht nur ein einziges Wort, mit dem der adäquat bezeichnet ist: Ferdydurke!


Sonntag, 26. Mai 2024

Alain Robbe-Grillet: Die Radiergummis (1953)

Wer erinnert sich nicht an den legendären Anfangs- und Schlusssatz in David Lynchs Meisterwerk, dem Film Lost Highway aus dem Jahr 1997: "Dick Laurent ist tot." Am Ende von Robbe-Grillets Roman heisst es dagegen durchs Telefon: "Daniel Dupont ist nicht tot." In Wahrheit ist er es in diesem Moment tatsächlich und umgebracht hat ihn der Ermittler, der eigentlich seinen Tod aufklären wollte. Robbe-Grillets Debut entwirft in seiner Erzählstruktur somit eine ähnlich verschlungene Möbiusschleife wie Lynchs epochaler Spielfilm. Was hat es dabei mit den titelgebenden Radiergummis auf sich? Das ist nicht das einzige Rätsel, das dieser Kriminalroman - oder müsste man besser sagen Anti-Kriminalroman - aufgibt.

Robbe-Grillet gilt als Begründer des Nouveau Roman, der auf klassische Handlungsführung und eine realistische Erzählweise zugunsten literarischer Darstellungstechniken weitgehend verzichtet und deshalb in erster Linie nicht als Abbild der Wirklichkeit, sondern als Sprachkonstrukt wahrgenommen werden will. Ausgerechnet mit dem wohl handlungsaffinsten und wirklichkeitsnahen Genre, dem Kriminalroman, wagt Robbe-Grillet den literarischen Einstieg. Aber schon bald wird klar, dass es sich um keinen konventionellen Kriminalroman handelt. Bereits im Prolog werden alle Hintergründe offengelegt; der restliche Verlauf schildert dann nur noch, wie der Ermittler im Dunkeln tappt, bis er schliesslich durch eine Verkettung von unglücklichen Umständen selbst zum Mörder wird.

Wallas - die Anspielung auf die moderne Krimi-Ikone Edgar Wallace ist offensichtlich - heisst der Ermittler, der keine besonders helle Platte zu sein scheint. Seine Stirnfläche beträgt nur 49 Quadratzentimeter, wobei doch mindestes 50 für einen Fahndungsbeamten notwendig wären. Dennoch bekommt er den Auftrag und wird auf eine anarchistische Gruppierung angesetzt, die seit Tagen ein Küstenstädtchen mit einer Mordserie in Atem hält: Jeden Abend um halb acht wird ein angesehenes Mitglied der höheren Kreise ausgeschaltet. Nur beim Professor Dupont gelingt es nicht: dieser überlebt und nutzt die Gelegenheit, um seinen Tod vorzutäuschen. Deshalb geht Wallas von Anbeginn von falschen Voraussetzungen aus, was schliesslich dazu führt, dass er sich genau 24 Stunden, nachdem sich das misslungene Attentat ereignet hat, im Haus des Professors einfindet, um den Mörder zu fassen, und dabei irrtümlich den totgeglaubten Professor niederschiesst.

Wallas befindet sich während dieser 24 Stunden, in denen sich die Ereignisse des Romans abspielen, in einer Art Zeitloch. Punkt halb acht am Vorabend ist seine Armbanduhr stehen geblieben und punkt halb acht läuft sie wieder, nachdem Wallas den fatalen Schuss abgegeben hat. Dazwischen steht - für ihn zumindest - die Zeit still, was mehrfach symbolisch konnotiert ist. Zum einen scheint in diesen 24 Stunden die Zeit tatsächlich wie angehalten, und Wallas vollendet unfreiwillig nur, was der Attentäter zuvor versäumte. Es ist, als wäre dieses Intervall nötig gewesen, um den Lauf der Dinge wieder ins richtige Lot zu rücken. Zum anderen begibt sich Wallas mit seinem Auftrag zurück in eine längst verdrängte Vergangenheit. Nur sporadisch blitzt in ihm die Erinnerung auf, dass er bereits als Kind mit seiner Mutter in diesem Städtchen mit dem markanten Kanal war, um seinen Vater zu besuchen.

Es gehört mit zum Verwirrspiel des Romans, dass eine der Hypothesen lautet, Dupont sei von seinem Sohn zur Strecke gebracht worden. Ist Wallas, ohne es zu wissen, der Sohn Duponts? Der Roman deutet eine solche Möglichkeit lediglich über die symbolische Ebene an, wie er auch sonst etliche bedeutungsschwangere Parallelhandlungen einbaut, welche zu jenem Gefühl der Verdoppelung beitragen, die sich schliesslich im wiederholten Tathergang tatsächlich erfüllt. Mit zu dieser Duplikationstechnik gehört auch, dass mehrere Passagen zeitversetzt wiederholt werden, sei es als echohafte Reprisen oder als Vorwegnahmen dessen, was erst geschieht. Dadurch verstärkt sich der Eindruck, als befinde man sich in einer Zeitschlaufe, in der sich das immer Gleiche ständig wiederholt. So trappt auch Wallas scheinbar ausweglos durch die labyrinthischen Gassen des Städtchens, verirrt sich immer wieder und geht oft unfreiwillig im Kreise.

Auch wird Wallas mehrfach im Verlauf des Tages verdächtigt, bevor er am Abend überhaupt die Tat begeht. Auch daran zeigt sich die raffinierte Erzählstruktur, die stets vorwegnimmt, was sich ereignen wird, und dadurch eine gewisse reversive Spannung erzeugt, ausserdem eine Zwangsläufigkeit, die bereits durch das Sophokles-Motto am Romananfang präludiert wird: "Und ob du dich gleich sträubest, hat die Zeit, die über allem wacht, es doch vollendet." Das Zitat stammt aus dem Drama Oedipus, auch der Roman ist mit Prolog, fünf Kapiteln (oder Akten) und eine Epilog nach dem Muster eines klassischen Dramas aufgebaut. Moment, was will uns Robbe-Grillet damit sagen? Handelt es sich am Ende also doch um einen - nicht vorsätzlich durchgeführten - Vatermord à la Ödipus? Hier setzten nun die im Titel erwähnten Radiergummis das Tüpfelchen aufs sprichwörtlich i. Vorgeblich gab es in Frankreich eine Radiergummimarke namens Oedipe - und genau diese versucht der Protagonist bei Robbe-Grillet vergeblich, denn das einzige woran er sich noch erinnern kann sind die "mittleren Buchstaben 'di'".

Der Radiergummi steht somit symbolisch sowohl für die ausgelöschte Erinnerung (an den Vater), aber auch für die Obsession des Protagonisten (Wallas will nur den einen bestimmten Radiergummi), die Vergeblichkeit seines Bemühens (nirgend findet er die gewünschte Marke) wie letztlich auch für Fiktionalität der gesamten Erzählung (Wallas gibt an einer Stelle zu es handle sich bei dem gesuchten Radiergummi nur um einen "fiktiven Gegenstand", um eine "mythische Marke", was insofern wieder stimmt, wenn die Marke Oedipe damit gemeint ist ...). Robbe-Grillets Roman gibt sich als kriminalistische Neuinterpretation des antiken Mythos zu erkennen und zugleich als kongeniales Formexperiment, das trotz seiner ausgeklügelten und auf mehreren Ebenen ineinander verschränkten Konstruktion in keiner Sekunde langweilig wirkt.

Donnerstag, 23. Mai 2024

Anne Garréta: Sphinx (1986)

Wäre das kein oulipistisches Werk, dann hätte das Lesefrüchtchen wohl die Finger davon gelassen, dermassen platt, trashig, kitschig, billig und trivial ist die dargebotene Handlung dieser tragischen Liebesgeschichte. Doch wenn man sie nacherzählen möchte, merkt man rasch, worin der Clou des Buchs besteht: Man muss nämlich selbst entscheiden, wer der Mann und wer die Frau in dieser Beziehung ist oder ob es sich um zwei Männer oder zwei Frauen handelt, denn an keiner Stelle wird, weder grammatikalisch noch inhaltlich, eine Aussage über das Geschlecht der beiden Hauptfiguren gemacht: des erzählenden Ichs und A***, die beide eine amour fou durchleben, bis A*** durch einen unheilvollen Sturz von der Bühne eines Dancing Clubs, wo A*** arbeitet, ums Leben kommt. 

Kennengelernt haben sich beide im Pariser Nachtleben. Das erzählende Ich hadert mit seinem Theologie-Studium und bekommt durch einen Zufall den Job als DJ in der Szenediskothek Apocryphe angeboten. Der Vorgänger starb an einer Überdosis Kokain und seine Leiche muss auf spektakuläre Weise weggeschafft werden. Rasch etabliert sich die Erzählfigur zum angesagten DJ. Das Studentenleben bleibt links liegen, die Nacht wird zum Tag. In dieser pulsierenden, teilweise auch anrüchigen Atmosphäre begegnet das erzählende Ich im Tanzclub Eden A*** und ist von Anhieb fasziniert von diesem Körper und dem "seltsamen Geschöpf", dem er angehört. Es entwickelt sich eine Liebesbeziehung, zuerst nur platonisch, dann auch sexuell, mit Höhen und Tiefen, Ekstasen und Eifersüchteleien.

Von A*** weiss man nur, dass es sich um eine schwarzhäutige, ursprünglich aus Harlem stammende Person handelt, die kürzlich ihr Kopfhaar kahl geschoren hat; das erzählende Ich ist zehn Jahre jünger (einmal wird das Alter genannt: 23) und kommt aus der weissen Mittelschicht. Rein äusserlich und auch von ihrer Sozialisation sind sie "ein ungleiches Paar". Während sich das intellektuelle Erzähl-Ich für Kunst und Kultur interessiert, wird A*** als rein körperliches Wesen geschildert, das wenn es nicht auf der Bühne zur Höchstform aufläuft, zuhause auf der Couch fernsieht und rumlungert. Ein Kontrast zu diesem Dandy-Leben in Paris bildet der Besuch bei der Mutter von A*** in Harlem, wo das erzählende Ich sich in der schwarzen Bevölkerung aufgehoben fühlt und zur Mutter eine enge Beziehung knüpft, die sich nach dem Tod von A*** noch verstärkt.

Der tragische Unfall entscheidet sich kurz nach einem Streit in der Garderobe des Eden. Es geht um die Beziehung und die Frage gegenseitiger Erwartungen und (falscher) Vorstellungen. Ohne die Antwort abzuwarten, verlässt A*** die Geraderobe in Richtung Bühne mit der Frage: "Wie siehst du mich eigentlich?" Allein gelassen grübelt das Erzähl-Ich über diese Frage nach, bis sich intuitiv die Antwort einstellt: "Ich sehe dich in einem Spiegel." Doch es gelingt nicht mehr, diese Erkenntnis mitzuteilen. A*** liegt bereits mit gebrochenem Halswirbel am Boden. Der leblose Körper wird in die Garderobe gebracht, wo sich die nicht mehr mitgeteilte Spiegel-Erkenntnis quasi von selbst einstellt: "in der Spiegelung verschmolz A***s Körper fahl mit meinem Gesicht an der Seite."

Hier verschmelzen die beiden Identitäten virtuell, die über den gesamten Roman in offener Schwebe bleiben, was ihre geschlechtliche Identität angeht. Allein aus dem Kontext ist man versucht, eine Zuweisung vorzunehmen. Handelt es sich bei dem jungen, weissen Studierenden der Theologie um einen Mann? Und muss eine Nachtclubtänzerin zwingend weiblich sein oder könnte es sich auch um eine Dragqueen handeln? Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Frau kaltblütig eine Leiche verschwinden lässt? Und traut man einem Mann zu, eine derart emphatische Zuneigung zur Mutter seines Freundes oder seiner Freundin zu? Usw. Hier zeigt sich auch, weshalb der Roman teilweise arg klischiert wirkt und mit Stereotypen und Plattitüden arbeitet, die durch die unklare Geschlechterrollen aber aufgeraut und hinterfragt werden sollen.

Insofern ist die Zeile aus dem Song The Sphinx der ehemaligen Muse von Salvador Dalí und 70er-Jahre-Discoqueen Amanda Lear, zu dem A*** einen atemberaubenden katzenartigen Tanz aufführt, programmatisch: "A woman or a priest / it's all a point of view". Der Roman verdankt diesem Song seinen Titel. Entsprechend ist es vom Blickpunkt der Lesenden abhängig, mit welchem Geschlecht sie die Protagonisten versehen. Ein männlicher Leser neigt möglicherweise eher dazu, sich das erzählende Ich als Mann und A*** als eine vom male gaze verklärte Frau zu denken, während es für Antje Rávic Strubel, die das Nachwort zur deutschen Ausgabe verfasst hat, aufgrund des zeithistorischen Settings an der Rive Gauche in Paris zwangsläufig um ein lesbisches Liebespaar handeln muss. Der Roman selbst nimmt keine eindeutige Zuordnung vor, stattdessen setzt er solche kontextuellen Anreize, um die eingenommene Leserperspektive zu bestätigen oder auch wieder zu unterlaufen.

Der Roman verschaffte Anne Garréta als erste Frau die Aufnahme in den Autorenkreis Oulipo (frz. Akronym für Ouvroir de Littérature potentielle), zu dem u.a. Raymond Queneau, Georges Perec, Harry Matthews oder Oskar Pastior gehörten. Ein Ziel der Gruppe besteht darin, literarische Texte nach vorbestimmten Regeln zu verfassen, um durch solche Formzwänge (frz. contraintes) neue poetische Ausdrucksformen zu generieren. Der Zwang, den sich Garréta auferlegte, war nun eben, auf ein sprachliches Genus zu verzichten und die Hauptfiguren mit einem offenen Geschlecht ohne spezifische Geschlechtsmerkmale zu versehen. Es dürfte kein Zufall sein, dass das erzählende Ich ausgerechnet an einer Studie über die Negative Theologie arbeitet. So wie dort vermieden wird, Gott bestimmte Attribute zuzuschreiben, weil er mit menschlichen Kategorien nicht zu fassen sei, so sollen auch hier die Geschlechterrollen nicht von aussen festgeschrieben werden. 

Montag, 29. April 2024

Melchior Vischer: Sekunde durchs Hirn (1920)

Die Dadaisten haben nur wenige Romane geschrieben, Ausnahmen bilden etwa Hugo Balls Tenderenda, der Phantast, der zu Lebzeiten jedoch nie erschienen ist, oder Richard Hueslenbecks Dr. Billig am Ende, der indes noch stark expressionistisch angehaucht ist. Den vielleicht einzig wirklichen Dada-Roman hat der später mit dem Kleistpreis ausgezeichnete böhmische Schriftsteller Melchior Vischer verfasst. 1920 erschien Sekunde durchs Hirn in der renommierten Reihe der Silbergäule im Verlag Paul Steegmann mit der Umschlaggestaltung von Kurt Schwitters, der das Label "dada" quer über die Titelseite zieht. Auf selbstreferentielle Weise preist sich auch der Text als Dada-Produkt an: "Wo doch Melchior Vischers dada-Spiele die Wohlfeilsten sind, was wir derzeit haben." Der Roman endet entsprechend mit einer Apotheose Dadas: "Wir trümmern, trümmern, und da da vom Grund auf, zuerst also kröch lackierte Sprache, daß nur übrig bleibt das einzige große DADA. - Huelsenbeck, Baader und Schwitters seid gegrüßt." 

Der Satz verrät bereits etwas von der besonderen Sprachstruktur des "unheimlich schnell rotierenden Romans", der alle Konventionen des Erzählens aus den Angeln hebt und bewusst grammatikalische Regelverstösse in Kauf nimmt, so dass mitunter ganz neue Satzstellungen und schiefe Sprachbilder entstehen: "Über Italien schnellzugte Jörg nach Südtirol", "Früh nahm ihn D-Zug in seine Arme, fächelte ihn in Budapest auf den Boulevard. Ernst antrat Jörg die Beamtin, boste ihm auf Madjarisch zu" usw. Das sind nur wenige Kostproben, um die originelle, dabei stets souverän gehandhabte Sprachverdrehung zu illustrieren, die dem Text eine eigene, gedrängte Rhythmik und Dynamik verleihen, die sich auch auf der Handlungsebene spiegelt, welche kaum zur Ruhe kommt, weil sich die Ereignisse Knall auf Fall überstürzen. Das 'Sturzhafte' ist sowohl ästhetisches Programm wie auch zentrales Motiv.

Der Roman beschreibt nichts anderes als einen Sturz. Den Sturz von Jörg Schuh vom Baugerüst herunter, weil er einer Frau mit üppigem Ausschnitt nachgesehen hat, und während dem Sturz jene "Sekunde", die ihm dabei "durchs Hirn" schiesst. Es ist eine "in die Ewigkeit" gedehnte Sekunde, als im freien Fall das Leben an Jörg Schuh vorbeirauscht. Bevor er unten auf dem Asphalt aufschlägt, durchfahren ihn nochmals alle Episoden seines "abenteuerlichen Daseins", um einen Ausdruck von Alexander Moritz Frey zu wählen, dessen Buch mit diesem Titel in der Rasanz und Absurdität, wie die Welt durchschritten wird, eine gewisse Gemeinsamkeit mit Vischers Roman aufweist.

Geschildert werden die Erlebnisse besagten Jörg Schuhs, eines "Schalksnarren" und einer Schelmenfigur mit ungeheurer Potenz. Geboren als Kind eines (wie man damals unverfangen sagte) "Negers" und einer Hafenhure ist er ein Mulatte mit einem weissen und einem schwarzen Ohr. Auf dem weissen ist er taub, auf dem schwarzen jedoch "hört er alles Vergangenes und Zukünftiges". Das ist nur eines von vielen absurden (oder bei längerem Nachdenken vielleicht auch bedeutsamen) Details des Romans, der in Windeseile alle Erdteile durchläuft und den Protagonisten von seinen gossenhaften Anfängen über den St. Gotthard nach Lissabon, dann Amerika, zu den Eskimos, den Kannibalen und wieder durch ganz Europa bis nach Japan, rasch auf den Mond und schliesslich wieder auf die Erde führt, in eine rast- und ruhelosen Pilgrimage als hätte er Siebenmeilenstiefel angeschnürt.

Dichtgedrängt und rhapsodisch wird dergestalt eine epische Weltreise zum minimen Zeitintervall jener Sturzsekunde komprimiert, die der Protagonist im freien Fall durchzuckt. Dass der als exotischer Mischling geborene und weltläufige Abenteurer, mehrfach gekürter Präsident und Häuptling, schliesslich als biederer Bauarbeiter endet und auf dem Boden aufschlägt, markiert nur eine der vielen gezielt einkalkulierten Ungereimtheiten, mit denen der Text fortlaufend aufwartet. Eine Nachbemerkung versucht die sich überbordende Handlung durch einen Schluss zu mildern, der wieder mehr "nach dispositionaler Erzählung stinke", um - wie es heisst - die "Kinoseelen" zufrieden zu stellen. Mit dem Kino wird das damals bahnbrechende mediale Paradigma aufgerufen, das Vischers Miniroman offensichtlich konkurrieren will, wenn er weitaus mehr als die üblichen 24 Bilder pro Sekunde vor dem geistigen Auge seiner Leserschaft vorbeiziehen lässt. Vischer, der wie viele Dadaisten ein Verehrer von Chaplin war, versucht als einer der Ersten, die neue cineastische Ästhetik auch für die Literatur fruchtbar zu machen, ja mehr noch: sie literarisch sogar zu überbieten.

 

Sonntag, 28. April 2024

Joachim Ringelnatz. Nervosipopel (1924)

Joachim Ringelnatz war, bevor er Kabarettist und Schriftsteller wurde, ein Seemann. Als Leichtmatrose heuerte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf allen Weltmeeren an. Und ein Matrose erzählt natürlich Seemannsgarn. Nirgendwo tut er das schöner als in dem Erzählband Nervosipopel der 1924, also vor genau hundert Jahren, erschienen ist, damals aber kaum Beachtung fand. Und auch heute dürften es die "11 Angelegenheiten", wie es im Untertitel heisst, schwer haben, obschon oder gerade weil sie in bester Nonsens- und Dada-Tradition stehen.

Ein Rezensent sah darin "blühenden Blödsinn", ein anderer nannte sie "Grotesken", Ringelnatz selbst bezeichnete seine Texte als "Märchen". Tatsächlich tauchen darin Feen, Riesen, sprechende Tiere auf, es gibt auch eine Reverenz an den Meister des romantischen Kunstmärchens, E.T.A. Hoffmann, und Bechsteins Märchen spielen eine Rolle. Doch verweigern sie sich einer nachvollziehbaren Märchenhandlung, wobei man allerdings sagen muss, dass es in der Sammlung der Brüder Grimm durchaus auch Märchen gibt, die ans Unsinnige grenzen, wenn man bspw. an Der süsse Brei oder Die Wassernixe denkt.

Nach ähnlichem Muster sind auch die Märchen bei Ringelnatz gebaut: Sie entwickeln ihre Handlung scheinbar unmotiviert und zusammenhangslos, warten praktisch in jedem Satz mit einer absurden Wendung auf, verlieren sich in phantastische Kapriolen und enden oft gänzlich abrupt und pointenlos. Das allerletzte Wort des Buches lautet: "entschwinden". Im Grunde handelt es sich, wenn man einen gemeinsamen Nenner unter diesen kunterbunten Fabulationen finden möchte, um Geschichten des Entschwindens. Stehts entfliehen, entsteigen, verschallen, sterben, oder verflüchtigen sich die jeweiligen Figuren am Ende einer Geschichte.

Das Märchen vom Armen Pilmartine nimmt darauf poetologisch Bezug: Ein Staatsanwalt fordert den Angeklagten auf: "Das ist recht, so erzählen Sie vernünftig. Fahren Sie fort!", worauf der Angeklagte ein Fahrrad nimmt und mit den Worten "Dann fahre ich fort" wortwörtlich davonfährt. Das Fortfahren im Sinne des Entschwindens markiert hier das Gegenteil des vernünftigen Erzählens, dem sich auch Ringelnatz' Geschichten pausenlos entziehen. So kommt es auch auf der Bedeutungsebene der Texte zu einem ständigen Sinnentzug. Mit der Vernunft jedenfalls sind die Erzählungen kaum zu fassen, sie entgleiten jedem Versuch, ihnen einen erkennbaren Sinn abzugewinnen.

Dazu sind sie viel zu sprunghaft und, wie man mit Blick auf den Titel sagen könnte: zu nervös. Als "ein rechter Nervosipopel" wird in der ersten Geschichte die Fee bezeichnet. Ein Ausdruck so rätselhaft wie die meisten Erzählungen. Doch man kann es sich zusammenreimen: Ein Popel meint eine Puppe, es wird also ein Ausdruck für ein energisches, flatterhaftes kleines Wesen sein, das einem leicht auf die Nerven gehen kann. Weshalb aber steht der Ausdruck titelgebend gleichsam als allegorische Figur auf dem Buchumschlag? Gehen auch Ringelnatz' nervöse Geschichten auf die Nerven? Die Rede vom Märchen Ärgerlich deutet zumindest darauf hin, dass es auch eine Absicht dieser Nonsens-Märchen ist, die Leserin zu ärgern.

(Im Übrigen ist just der Beginn von Das halbe Märchen Ärgerlich ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie ein Text sich selbst in pure Sinnlosigkeit auflöst: "Aber es geschah nicht, obwohl von gar keiner bestimmten Zeit die Rede, auch kein eigentlicher Ort dabei eine Rolle spielt. Nur entzog sich der Kenntnis was - ohne in Existenz zu verharren - auch nicht annähernd von jemand erdacht werden konnte." usw.)



Montag, 22. April 2024

Dany Lafferière: Die Kunst, einen Schwarzen zu lieben ohne zu ermüden (1985)

Was macht einen Kultroman aus? Zwei schräge Typen und irrwitzige Diskurse? (So wie die Nonsens-Debatte von John Travolta und Samuel L. Jackson um den "Royal mit Käse" in Pulp Fiction.) In diesem Fall handelt es sich beim Debutroman von Dany Lafferière garantiert um einen Kultroman, der auch rasch überall grosse Erfolge feierte. Bloss die deutschsprachige Übersetzung liess dreissig Jahre auf sich warten.

Im Zentrum steht der mit dem Autor weitgehend identische Ich-Erzähler und sein Kumpel Bouba, zwei schwarze Migranten, die sich in der Wohnung Nr. 3670 an der Rue Saint-Denis in Montreal einquartieren. Ihre Tage verbringen sie mehrheitlich mit Nichtstun. Sie machen praktisch nichts anderes ausser Jazz hören, aus dem Koran zitieren und Wasp-Studentinnen abschleppen, denen sie sprechende Übernamen wie "Miz Literatur", "Miz Suizid" oder "Miz Sophisticated" geben. Und natürlich überhöhen sie, wie es sich für Kultcharaktere gebührt, ihr verbummeltes Dasein metaphysisch: Bouba wird als "der einzige noch lebende Heilige in Montreal" stilisiert, der, während er sich auf der Couch fläzt, "in Wahrheit das Universum reinigt", derweil der Ich-Erzähler auf seiner Remington 22 ihre Erlebnisse in einen Roman verpackt, der selbst James Baldwin in den Schatten - oder wie es im Text heisst: "unter die Dusche" - stellen soll. Es wird eben jener Roman sein, den wir schliesslich lesen.

Dany Lafferière stammt ursprünglich aus Haiti, war dort ohne Vater aufgewachsen, weil dieser vom berüchtigten Diktator Papa Doc (eigentlich: François Duvalier) ins Exil gedrängt wurde. 1976 wanderte Lafferière aufgrund des anhaltend repressiven politischen Klimas selbst nach Montréal aus, lehnte die Etikettierung als "Exil-Schriftsteller" jedoch ab. Daher wohl auch die im Roman vollzogenen Abgrenzung zu Baldwin und seiner, wie er sie nannte, "Selbstexilierung" nach Frankreich. Auch sonst scheint Lafferière so etwas wie die Antithese zu Baldwin darzustellen. Zwar handelt es sich auch bei ihm um eine Migrantengeschichte und die Frage der Blackness sowie die Motive des Rassismus und des Kolonialismus bestimmten den Hintergrund der Erzählung. Indes geht Lafarrière diese Thematik deutlich provokativer und politisch unkorrekter an als die moralistische Prosa Baldwins.

Ja, es steigert sich letztlich zur Groteske. Der Erzähler begibt sich auf einen "Sex-Kreuzzug", um sich an den westlichen Kolonisten zu rächen, indem er ihre Töchter reihenweise mit seiner verlockend dunkeln Exotik ins Bett bringt: "Ich bin hier, um die Tochter der hochmütigen Diplomaten zu vögeln, die uns einst mit ihrem Kricketstock eins übergezogen haben." In dieser saloppen, oft auch derben und zotenhaften Sprache vollzieht sich die schmale Gratwanderung des Romans zwischen chauvinistischer Sex-Posse à la American Pie und sozialkritischer Satire, ohne sich selbst auf einen moralischen Standpunkt zu stellen. Vielmehr wendet Laferrière das rassistische Klischee des gut bestückten, sexhungrigen Schwarzen in ein antirassisches Kampfmittel gegen die weisse Elite, um tief ins westliche Bewusstsein einzudringen und quasi einen koitalen Mentalitätswandel herbeizuführen: "Ich möchte ihr Unbewusstes vögeln."

Das ist mal komisch, mal subversiv und häufig sehr obszön. Vor allem täuscht es oberflächlich besehen über die tiefere Intelligenz des Buchs hinweg. Was sich auf weiten Strecken als reine Klamotte präsentiert, stellt nicht weniger als den Versuch dar, auf explizite, überzeichnete und oft auch bewusst plakative Weise gesellschaftlich tief verankerte Tabus und Problembereiche anzusprechen, ohne dabei in eine ideologisch verhärtete Position zu verfallen. Vielmehr zeigt Lafarrière, wie man schamlos und selbstironisch einen kritischen Diskurs über politisch heikle Themen führen kann - und dabei zu den selben Einsichten gelangt wie eine Critical Race Theory, die von der Rasse als sozialem Konstrukt ausgeht. Das letzte, ultrakurze Kapitel trägt, quasi als Fazit, die programmatische Überschrift: "Man ist nicht als Schwarzer geboren, man wird dazu gemacht".