Montag, 29. April 2024

Melchior Vischer: Sekunde durchs Hirn (1920)

Die Dadaisten haben nur wenige Romane geschrieben, Ausnahmen bilden etwa Hugo Balls Tenderenda, der Phantast, der zu Lebzeiten jedoch nie erschienen ist, oder Richard Hueslenbecks Dr. Billig am Ende, der indes noch stark expressionistisch angehaucht ist. Den vielleicht einzig wirklichen Dada-Roman hat der später mit dem Kleistpreis ausgezeichnete böhmische Schriftsteller Melchior Vischer verfasst. 1920 erschien Sekunde durchs Hirn in der renommierten Reihe der Silbergäule im Verlag Paul Steegmann mit der Umschlaggestaltung von Kurt Schwitters, der das Label "dada" quer über die Titelseite zieht. Auf selbstreferentielle Weise preist sich auch der Text als Dada-Produkt an: "Wo doch Melchior Vischers dada-Spiele die Wohlfeilsten sind, was wir derzeit haben." Der Roman endet entsprechend mit einer Apotheose Dadas: "Wir trümmern, trümmern, und da da vom Grund auf, zuerst also kröch lackierte Sprache, daß nur übrig bleibt das einzige große DADA. - Huelsenbeck, Baader und Schwitters seid gegrüßt." 

Der Satz verrät bereits etwas von der besonderen Sprachstruktur des "unheimlich schnell rotierenden Romans", der alle Konventionen des Erzählens aus den Angeln hebt und bewusst grammatikalische Regelverstösse in Kauf nimmt, so dass mitunter ganz neue Satzstellungen und schiefe Sprachbilder entstehen: "Über Italien schnellzugte Jörg nach Südtirol", "Früh nahm ihn D-Zug in seine Arme, fächelte ihn in Budapest auf den Boulevard. Ernst antrat Jörg die Beamtin, boste ihm auf Madjarisch zu" usw. Das sind nur wenige Kostproben, um die originelle, dabei stets souverän gehandhabte Sprachverdrehung zu illustrieren, die dem Text eine eigene, gedrängte Rhythmik und Dynamik verleihen, die sich auch auf der Handlungsebene spiegelt, welche kaum zur Ruhe kommt, weil sich die Ereignisse Knall auf Fall überstürzen. Das 'Sturzhafte' ist sowohl ästhetisches Programm wie auch zentrales Motiv.

Der Roman beschreibt nichts anderes als einen Sturz. Den Sturz von Jörg Schuh vom Baugerüst herunter, weil er einer Frau mit üppigem Ausschnitt nachgesehen hat, und während dem Sturz jene "Sekunde", die ihm dabei "durchs Hirn" schiesst. Es ist eine "in die Ewigkeit" gedehnte Sekunde, als im freien Fall das Leben an Jörg Schuh vorbeirauscht. Bevor er unten auf dem Asphalt aufschlägt, durchfahren ihn nochmals alle Episoden seines "abenteuerlichen Daseins", um einen Ausdruck von Alexander Moritz Frey zu wählen, dessen Buch mit diesem Titel in der Rasanz und Absurdität, wie die Welt durchschritten wird, eine gewisse Gemeinsamkeit mit Vischers Roman aufweist.

Geschildert werden die Erlebnisse besagten Jörg Schuhs, eines "Schalksnarren" und einer Schelmenfigur mit ungeheurer Potenz. Geboren als Kind eines (wie man damals unverfangen sagte) "Negers" und einer Hafenhure ist er ein Mulatte mit einem weissen und einem schwarzen Ohr. Auf dem weissen ist er taub, auf dem schwarzen jedoch "hört er alles Vergangenes und Zukünftiges". Das ist nur eines von vielen absurden (oder bei längerem Nachdenken vielleicht auch bedeutsamen) Details des Romans, der in Windeseile alle Erdteile durchläuft und den Protagonisten von seinen gossenhaften Anfängen über den St. Gotthard nach Lissabon, dann Amerika, zu den Eskimos, den Kannibalen und wieder durch ganz Europa bis nach Japan, rasch auf den Mond und schliesslich wieder auf die Erde führt, in eine rast- und ruhelosen Pilgrimage als hätte er Siebenmeilenstiefel angeschnürt.

Dichtgedrängt und rhapsodisch wird dergestalt eine epische Weltreise zum minimen Zeitintervall jener Sturzsekunde komprimiert, die der Protagonist im freien Fall durchzuckt. Dass der als exotischer Mischling geborene und weltläufige Abenteurer, mehrfach gekürter Präsident und Häuptling, schliesslich als biederer Bauarbeiter endet und auf dem Boden aufschlägt, markiert nur eine der vielen gezielt einkalkulierten Ungereimtheiten, mit denen der Text fortlaufend aufwartet. Eine Nachbemerkung versucht die sich überbordende Handlung durch einen Schluss zu mildern, der wieder mehr "nach dispositionaler Erzählung stinke", um - wie es heisst - die "Kinoseelen" zufrieden zu stellen. Mit dem Kino wird das damals bahnbrechende mediale Paradigma aufgerufen, das Vischers Miniroman offensichtlich konkurrieren will, wenn er weitaus mehr als die üblichen 24 Bilder pro Sekunde vor dem geistigen Auge seiner Leserschaft vorbeiziehen lässt. Vischer, der wie viele Dadaisten ein Verehrer von Chaplin war, versucht als einer der Ersten, die neue cineastische Ästhetik auch für die Literatur fruchtbar zu machen, ja mehr noch: sie literarisch sogar zu überbieten.

 

Sonntag, 28. April 2024

Joachim Ringelnatz. Nervosipopel (1924)

Joachim Ringelnatz war, bevor er Kabarettist und Schriftsteller wurde, ein Seemann. Als Leichtmatrose heuerte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf allen Weltmeeren an. Und ein Matrose erzählt natürlich Seemannsgarn. Nirgendwo tut er das schöner als in dem Erzählband Nervosipopel der 1924, also vor genau hundert Jahren, erschienen ist, damals aber kaum Beachtung fand. Und auch heute dürften es die "11 Angelegenheiten", wie es im Untertitel heisst, schwer haben, obschon oder gerade weil sie in bester Nonsens- und Dada-Tradition stehen.

Ein Rezensent sah darin "blühenden Blödsinn", ein anderer nannte sie "Grotesken", Ringelnatz selbst bezeichnete seine Texte als "Märchen". Tatsächlich tauchen darin Feen, Riesen, sprechende Tiere auf, es gibt auch eine Reverenz an den Meister des romantischen Kunstmärchens, E.T.A. Hoffmann, und Bechsteins Märchen spielen eine Rolle. Doch verweigern sie sich einer nachvollziehbaren Märchenhandlung, wobei man allerdings sagen muss, dass es in der Sammlung der Brüder Grimm durchaus auch Märchen gibt, die ans Unsinnige grenzen, wenn man bspw. an Der süsse Brei oder Die Wassernixe denkt.

Nach ähnlichem Muster sind auch die Märchen bei Ringelnatz gebaut: Sie entwickeln ihre Handlung scheinbar unmotiviert und zusammenhangslos, warten praktisch in jedem Satz mit einer absurden Wendung auf, verlieren sich in phantastische Kapriolen und enden oft gänzlich abrupt und pointenlos. Das allerletzte Wort des Buches lautet: "entschwinden". Im Grunde handelt es sich, wenn man einen gemeinsamen Nenner unter diesen kunterbunten Fabulationen finden möchte, um Geschichten des Entschwindens. Stehts entfliehen, entsteigen, verschallen, sterben, oder verflüchtigen sich die jeweiligen Figuren am Ende einer Geschichte.

Das Märchen vom Armen Pilmartine nimmt darauf poetologisch Bezug: Ein Staatsanwalt fordert den Angeklagten auf: "Das ist recht, so erzählen Sie vernünftig. Fahren Sie fort!", worauf der Angeklagte ein Fahrrad nimmt und mit den Worten "Dann fahre ich fort" wortwörtlich davonfährt. Das Fortfahren im Sinne des Entschwindens markiert hier das Gegenteil des vernünftigen Erzählens, dem sich auch Ringelnatz' Geschichten pausenlos entziehen. So kommt es auch auf der Bedeutungsebene der Texte zu einem ständigen Sinnentzug. Mit der Vernunft jedenfalls sind die Erzählungen kaum zu fassen, sie entgleiten jedem Versuch, ihnen einen erkennbaren Sinn abzugewinnen.

Dazu sind sie viel zu sprunghaft und, wie man mit Blick auf den Titel sagen könnte: zu nervös. Als "ein rechter Nervosipopel" wird in der ersten Geschichte die Fee bezeichnet. Ein Ausdruck so rätselhaft wie die meisten Erzählungen. Doch man kann es sich zusammenreimen: Ein Popel meint eine Puppe, es wird also ein Ausdruck für ein energisches, flatterhaftes kleines Wesen sein, das einem leicht auf die Nerven gehen kann. Weshalb aber steht der Ausdruck titelgebend gleichsam als allegorische Figur auf dem Buchumschlag? Gehen auch Ringelnatz' nervöse Geschichten auf die Nerven? Die Rede vom Märchen Ärgerlich deutet zumindest darauf hin, dass es auch eine Absicht dieser Nonsens-Märchen ist, die Leserin zu ärgern.

(Im Übrigen ist just der Beginn von Das halbe Märchen Ärgerlich ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie ein Text sich selbst in pure Sinnlosigkeit auflöst: "Aber es geschah nicht, obwohl von gar keiner bestimmten Zeit die Rede, auch kein eigentlicher Ort dabei eine Rolle spielt. Nur entzog sich der Kenntnis was - ohne in Existenz zu verharren - auch nicht annähernd von jemand erdacht werden konnte." usw.)



Montag, 22. April 2024

Dany Lafferière: Die Kunst, einen Schwarzen zu lieben ohne zu ermüden (1985)

Was macht einen Kultroman aus? Zwei schräge Typen und irrwitzige Diskurse? (So wie die Nonsens-Debatte von John Travolta und Samuel L. Jackson um den "Royal mit Käse" in Pulp Fiction.) In diesem Fall handelt es sich beim Debutroman von Dany Lafferière garantiert um einen Kultroman, der auch rasch überall grosse Erfolge feierte. Bloss die deutschsprachige Übersetzung liess dreissig Jahre auf sich warten.

Im Zentrum steht der mit dem Autor weitgehend identische Ich-Erzähler und sein Kumpel Bouba, zwei schwarze Migranten, die sich in der Wohnung Nr. 3670 an der Rue Saint-Denis in Montreal einquartieren. Ihre Tage verbringen sie mehrheitlich mit Nichtstun. Sie machen praktisch nichts anderes ausser Jazz hören, aus dem Koran zitieren und Wasp-Studentinnen abschleppen, denen sie sprechende Übernamen wie "Miz Literatur", "Miz Suizid" oder "Miz Sophisticated" geben. Und natürlich überhöhen sie, wie es sich für Kultcharaktere gebührt, ihr verbummeltes Dasein metaphysisch: Bouba wird als "der einzige noch lebende Heilige in Montreal" stilisiert, der, während er sich auf der Couch fläzt, "in Wahrheit das Universum reinigt", derweil der Ich-Erzähler auf seiner Remington 22 ihre Erlebnisse in einen Roman verpackt, der selbst James Baldwin in den Schatten - oder wie es im Text heisst: "unter die Dusche" - stellen soll. Es wird eben jener Roman sein, den wir schliesslich lesen.

Dany Lafferière stammt ursprünglich aus Haiti, war dort ohne Vater aufgewachsen, weil dieser vom berüchtigten Diktator Papa Doc (eigentlich: François Duvalier) ins Exil gedrängt wurde. 1976 wanderte Lafferière aufgrund des anhaltend repressiven politischen Klimas selbst nach Montréal aus, lehnte die Etikettierung als "Exil-Schriftsteller" jedoch ab. Daher wohl auch die im Roman vollzogenen Abgrenzung zu Baldwin und seiner, wie er sie nannte, "Selbstexilierung" nach Frankreich. Auch sonst scheint Lafferière so etwas wie die Antithese zu Baldwin darzustellen. Zwar handelt es sich auch bei ihm um eine Migrantengeschichte und die Frage der Blackness sowie die Motive des Rassismus und des Kolonialismus bestimmten den Hintergrund der Erzählung. Indes geht Lafarrière diese Thematik deutlich provokativer und politisch unkorrekter an als die moralistische Prosa Baldwins.

Ja, es steigert sich letztlich zur Groteske. Der Erzähler begibt sich auf einen "Sex-Kreuzzug", um sich an den westlichen Kolonisten zu rächen, indem er ihre Töchter reihenweise mit seiner verlockend dunkeln Exotik ins Bett bringt: "Ich bin hier, um die Tochter der hochmütigen Diplomaten zu vögeln, die uns einst mit ihrem Kricketstock eins übergezogen haben." In dieser saloppen, oft auch derben und zotenhaften Sprache vollzieht sich die schmale Gratwanderung des Romans zwischen chauvinistischer Sex-Posse à la American Pie und sozialkritischer Satire, ohne sich selbst auf einen moralischen Standpunkt zu stellen. Vielmehr wendet Laferrière das rassistische Klischee des gut bestückten, sexhungrigen Schwarzen in ein antirassisches Kampfmittel gegen die weisse Elite, um tief ins westliche Bewusstsein einzudringen und quasi einen koitalen Mentalitätswandel herbeizuführen: "Ich möchte ihr Unbewusstes vögeln."

Das ist mal komisch, mal subversiv und häufig sehr obszön. Vor allem täuscht es oberflächlich besehen über die tiefere Intelligenz des Buchs hinweg. Was sich auf weiten Strecken als reine Klamotte präsentiert, stellt nicht weniger als den Versuch dar, auf explizite, überzeichnete und oft auch bewusst plakative Weise gesellschaftlich tief verankerte Tabus und Problembereiche anzusprechen, ohne dabei in eine ideologisch verhärtete Position zu verfallen. Vielmehr zeigt Lafarrière, wie man schamlos und selbstironisch einen kritischen Diskurs über politisch heikle Themen führen kann - und dabei zu den selben Einsichten gelangt wie eine Critical Race Theory, die von der Rasse als sozialem Konstrukt ausgeht. Das letzte, ultrakurze Kapitel trägt, quasi als Fazit, die programmatische Überschrift: "Man ist nicht als Schwarzer geboren, man wird dazu gemacht".

 




Donnerstag, 4. April 2024

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag (2010)

Umberto Eco schrieb dicke historische Wälzer bevorzugt zu Themen, mit denen sich der 2016 verstorbene Semiotiker und Philosophieprofessor aus Bologna auch wissenschaftlich auseinandersetzte. In einem seinem letzten umfangreichen Roman sind dies die notorischen «Protokolle der Weisen von Zion», ein aus verschiedenen literarischen Vorlagen zusammengeschustertes antisemitisches Machwerk, das um 1900 zu Propagandazwecken entstanden ist, aber bis heute als vermeintlich glaubwürdiges Dokument einer jüdischen Weltverschwörung zirkuliert, obschon es bereits seit 1922 erwiesenermassen als Fälschung entlarvt wurde. Auch Eco hat zu den Protokollen geforscht und ihre betrügerische Machart offengelegt und ist dabei auf vorher unbeachtete Quellen aus dem französischen Roman feuilleton des 19. Jahrhunderts gestossen, die indirekt in die Protokolle eingeflossen sind. Zum einen eine Szene aus Eugène Sues Roman Le juif errant, der in den Jahren 1844 bis 1845 in der linksgerichteten Zeitung Le Constitutionnel erschienen ist, sowie eine Verschwörungsszene aus Alexandre Dumas’ Cagliostro-Roman Joseph Balsamo von 1849. Die dort geschilderte Geheimversammlung auf dem Donnerberg im Vorfeld der französischen Revolution übernimmt der deutsche Schriftsteller Hermann Gödsche relativ unverstellt für seinen Historienschinken Biarritz, der 1868 unter dem Pseudonym Sir John Ratcliffe erscheint. Der einzige Unterschied: Der Treffpunkt der Verschwörung wird in den Friedhof nach Prag beim Grab von Rabbi Löw verlagert und die Gruppe der Konspiranten konstituiert sich nunmehr durch die zwölf Stämme Israels. Diese Schilderung wiederum bildete die Steilvorlage für die Protokolle, welche die fiktionale Darstellung als real vorgeben.

Und dieselbe Friedhofs-Szene gibt schliesslich nicht nur Ecos Roman den Titel, sondern figuriert dort auch als Schlüsselstelle, die in beliebiger Variation Verwendung für ein konspiratives Rahmennarrativ finden kann. Sie ist quasi die Mutter aller Verschwörungstheorien. In epischer Breite erzählt Eco die Entstehungsgeschichte der «Protokolle der Weisen von Zion», wobei die meisten Ereignisse den historischen Tatsachen entsprechen und auch die auftretenden Figuren hauptsächlich auf realen Vorbildern beruhen. Es ist ein Stelldichein einschlägiger Namen aus Politik, Literatur und Religion des 19. Jahrhunderts. Neben den schon erwähnten Alexandre Dumas und Hermann Gödsche treten weitere Figuren auf wie der Pamphletist Maurice Joly, der Kriminalist Eugène François Vidocq, dem Fake-Journalisten Leo Taxil, der einem Komplott zum Opfer gefallenen Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus, der britische Staatsmann Benjamin Disraeli, der italienische Freiheitskämpfer Guiseppe Garibaldi und nicht zuletzt ein gewisser, kokainabhängiger Dr. Froïde, hinter dem unschwer Sigmund Freud erkennbar ist. In einem Punkt jedoch weicht Ecos historisch fundierter und detailreich ausgemalter Roman eklatant von der geschichtlichen Ebene ab: die Hauptfigur, Simon Simonini, ist komplett erfunden. Mit ihr installiert Eco gewissermassen eine Universalcharakter aller Fälscher und Intriganten – und die Pointe ist tatsächlich, dass Simonini bei allen nennenswerten Rankünen im Europa des 19. Jahrhunderts seine Finger mit im Spiel hatte und nicht zuletzt auch auf die Entstehung der «Protokolle» seinen entscheidenden Einfluss ausübte. Simonini dient Eco als literarischer Erklärungsversuch, wie sich eine unheilvolle Idee in verschiedenen Kontexten ausbreiten und sich schliesslich als vermeintliche Wahrheit in den Köpfen festsetzen konnte.

Dieser Simonini ist eine besonders ruch- und skrupel- und darüber hinaus auch empathielose Figur, die sich durch Betrug und Verrat seinen Wohlstand erwirtschaftet hat. Ein Opportunist, der für seinen Vorteil über Leichen geht. Seine Enthaltsamkeit in venerischen Freuden kompensiert er durch lukullische Genüsse – immer wieder sind entlang des Romans verlockende Rezeptbeschreibung eingestreut. Eine einzige Frau entzückte ihn in seinem Leben, allerdings nur in der Phantasie, aber immerhin so sehr, dass sie er ihr nacheifern wollte: In jungen Jahren hörte er von Babette von Interlaken*, eine mit allen Wassern gewaschene kommunistische Agentin, die vor keiner Schandtat zurückschreckte. Sie erschein ihm sodann «als Modell zur Nachahmung» in seinen Träumen. Als Kind wuchs Simonini hauptsächlich bei seinem Grossvater auf, der sich mit seinem abgrundtiefen Antisemitismus nicht hinter dem Berg hält. Im Gegenteil machte dieser die Juden bereits für all das verantwortlich, was ihnen später auch in den «Protokollen» angelastet wird. Aus einem anonymen Brief, den sein Vater einem Abbé Barruel schreibt, um ihn vor den «perfiden Plänen des jüdischen Volkes» zu warnen, die er angeblich im Turner Ghetto «mit eigenen Ohren gehört habe», und den Kolportageromanen seiner Jugendlektüre entnimmt Simonini später die Versatzstücke für sein konspiratives Paradenarrativ auf dem Prager Friedhof, das er je nach Bedarf auf unterschiedliche Bereiche und Personen anwenden kann, wie es gerade in die politische Agenda passt. Und auf diese Erfindung ist er mächtig stolz, so dass er es am Ende es fast bedauert, sie an die Russen verkauft zu haben: «Seit meiner Jugend habe ich mir gleichsam Stein für Stein meinen Prager Friedhof aufgebaut, und nun ist es, als hätte Golowinsky ihn mir geraubt. Wer weiß, was die in Moskau daraus machen.» Heute wissen wir es: Die Protokolle der Weisen von Zion.

Eco hat hier zweifellos einen Stoff literarisch umgesetzt, der nicht arm an Faszinationskraft ist: Verschwörungen, politische Intrigen und Morde, Fälscher, Geheimgesellschaften und schwarze Messen. Und hier liegt vielleicht das Problem des Romans: Die Geschichte an sich wäre spannend genug, so dass eine Literarisierung reichlich aufgesetzt wirkt und man sich in der Tat einige langatmige Passagen, die die Ereignisse mit narrativem Firlefanz ausstatten, gerne sparen würde. Vor allem aber überzeugt die Rahmenhandlung am wenigsten: Eco kleidet seinen Roman in eine Art Dr. Jeckyll und Mister Hyde-Setting. Simonini, der sich zeitlebens gerne verkleidete und in fremde Rollen schlüpfte, leidet an einer akuten schizoiden Spaltung, hervorgerufen durch einen Doppelmord, den sein Bewusstsein zu verdrängen sucht. Nach dem Modell von Freuds talking cure versucht er sich einer Art writing cure, um mittels Tagebuchschreiben den im Gedächtnis verschütteten Ereignissen und seiner Identität wieder auf die Spur zu kommen. Wechselweise greifen Simonini und sein Alter Ego, der mysteriöse Abbé Dalla Piccola, ohne voneinander zu wissen zur Feder. Von Anbeginn ist jedoch absehbar, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Die Rahmenfiktion trägt also nicht wesentlich zur Spannung bei, ganz abgesehen davon wirkt sie auch reichlich konstruiert und kaum plausibel. Solche Mätzchen hätte der Roman auch gar nicht nötig, der vielmehr durch die episch breite Schilderung der dunkeln Seite des 19. Jahrhunderts besticht, das besonders geprägt war durch Obskurantismus und Okkultismus – man denke nur an Joris-Karl Huysman, Madame Blavatsky oder Eliphas Lévi, die allesamt auch Erwähnung finden. Erst ganz zum Schluss des Romans blitzt durch die Nennung von Marcel Proust und Eduard Monet kurz der Horizont der Moderne auf, der von Simonini freilich noch nicht als solcher erkannt wird, wenn er Proust schlicht als «fünfundzwanzigjährigen Päderasten» und Monet als «Farbenkleckser» herabwürdigt.


* Wie Simonini selbst ist auch diese Babette eine Erfindung, jedoch keine von Eco, sondern von Antonio Brescani, aus dessen heute zurecht vergessenem Roman Der Jude von Verona (1863) er sie entlehnteMehr noch übernimmt Eco die Beschreibung quasi im Wortlaut vom Original und führt damit performativ die eklektisch-plagiatorischen Techniken der Dokumentenfälscher vor, die sich schamlos bei der Trivialliteratur bedienen, um vermeintlich historische Tatsachen zu belegen. In der deutschen Übersetzung lautet die Stelle, die sich fast identisch bei Eco wiederfindet:
„Es war die berüchtigte Babette von Interlaken, die würdige Urenkelin von Weißhaupt, welche der Pfarrer Weyermann die große Jungfrau des schweizerischen Communismus nannte. Man wußte nicht, woher sie stammte, und von Kindheit an diente sie bei den Freicorps als Kellnerin einer Marketenderin; sie hatte stets Trunkenheit, Diebstahl und Ausschweifung vor Augen, wuchs in dieser Gesellschaft auf und lernte Gott nur durch die Flüche kennen, welche sie fortwährend hörte. In den Scharmützeln bei Luzern, wenn die Freischaaren irgend einen Katholiken aus den Urkantonen getödtet hatten, ließen sie ihm Babette das Herz oder die Augen oder die Eingeweide ausreißen, und im Triumphe dahertragen, wofür sie dann einen Batzen und ein Glas Kirschwascher [sic] bekam.
Nach dem 28. August 1846 aber, wo Ochsenbein, Funk, Stockmar und Consorten zu Magistraten des Cantons Bern gewählt wurden, ward Babette der treueste Herold zwischen ihnen und die geheimen Gesellschaften, der Agathodämon aller Ränke, Schliche und Umtriebe der geheimnisvollen Clubs; sie erschien unversehens überall, und verschwand ebenso rasch, gleich einem Kobold; sie kannte undurchdringliche Geheimnisse, stahl diplomatische Depeschen ohne die Siegel zu verletzen, drang wie eine Natter in das Innerste der Cabinette von Wien, Berlin und selbst von Petersburg. Sie machte Wechsel nach, fälschte Pässe und schon als Mädchen, wo sie in die Schule ging, kannte sie die Kunst der Gifte und wußte sie zu mischen, je nachdem der Geheimbund es anordnete; sie fluchte wie ein Radicaler, trank wie ein Aargauer, rauchte wie ein Türke, handhabte die Büchse wie ein Schütze und den Dolch wie ein Fechtmeister; es war als wäre sie vom Teufel besessen, so stark waren ihre Fibern und so kräftig ihr Arm, ihr Blick hatte etwas zauberartig Fesselndes und in ihren Zügen lag, wenn sie zornig wurde oder Einem drohte, Kühnheit, Verwegenheit und Stolz.“ (Der Jude von Verona. Historischer Roman aus den Jahren 1846 bis 1849. 2. verb. Aufl. Schaffhausen: Hurter’sche Buchhandlung 1957, Bd. 1, S, 171 f.)

Sonntag, 24. März 2024

Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord (1937)

Herbert Clyde Lewis hat sich für seinen Protagonisten ein parabelhaftes Setting ausgedacht: Wie reagiert ein Mensch in einer ausweglosen Situation? Wie sieht er dem sicheren Tod ins Auge? In Gentleman über Bord geschieht dies auf eine denkbar läppische Weise: Mit einer Art Slapstick-Einlage wird Henry Preston Standish vom Dampfer Arabella ins offene Meer befördert. Er rutscht an der Reling auf einem Ölfleck aus und fällt kopfüber ins Wasser. Dort schämt er sich zunächst und zutiefst über sein tölpelhaftes Missgeschick, bevor der den letalen Ernst der Situation wirklich begreift.

Der Name des Protagonisten ist halbwegs sprechend: Standish deutet auf seine gesellschaftlichen Stand hin, er ist erfolgreicher Börsenmakler mit Frau und zwei Kindern, sowie auf seine Standhaftigkeit, auf die er sich zwar viel einbildet, die aber durch seinen Sturz radikal in Frage gestellt wird, genauso wie sein Standesbewusstsein. Denn was Standish nach seinem Sturz vor allem plagt ist die kaum standesgerechte Lage, in der sich befindet: Seine Gedanken sind "mehr mit Scham als mit Angst besetzt. Männer vom Schlage Henry Preston Standishs stürzten nicht einfach so vom Schiff mitten in den Ozean."

Aber ein Standish gibt nicht so rasch auf, er will unbedingt als Held aus dieser Geschichte hervorgehen. Deshalb beruhigt es ihn vorderhand, dass sein Leben nicht vor seinen Augen vorbeizeiht, wie es in oft floskelhafter Wendung in Romanen heisst, wenn vom Sterben die Rede ist. Tatsächlich kreisen Standishs Gedanken vielmehr um die Zukunft. Er imaginiert sich, wie er seiner Frau und den Kindern später von seinem Abenteuer erzählt, dabei seine Furchtlosigkeit und Durchhaltewillen rühmt. Diese Phantasien lassen selbst dann nicht vollends nach, als Standish erkennen muss, dass er rettungslos verloren ist. Noch in der Todesstunde glaubt er, er "würde auf ewig zum Übermenschen werden"! Tragischer kann sich ein Mensch existenziell nicht verfehlen.

Doch im Laufe der über 13 Stunden einsam und allein auf hoher See - Standish wähnt sich als "der letzte Mensch" auf Erden -, sieht er sich gezwungen, seine Standesallüren sukzessive abstreifen, sowohl im übertragenen als auch im tatsächlichen Sinn, wenn er sich seiner Kleidung entledigt und damit auch seine falsche Überzeugung über Bord wirft, das "Anstandsgefühl eines Mannes" sei "genauso wichtig wie sein Leben". Während er sich zunächst unnötig Gedanken macht, was die Passagiere an Bord der Arabella wohl von ihm halten, wenn er in blau-gelben Sporthosen aus dem Meer gefischt wird, zieht er sich schliesslich bis aufs letzte Hemd aus, damit er sich weiter über Wasser halten kann.

Ironischerweise wird auf dem Schiff das Fehlen von Standish lange nicht bemerkt und als es soweit ist, glauben alle sofort an Selbstmord. Vielleicht ist das, indirekt gedacht, sogar wahr. Denn Standish begab sich auf die Schiffsreise, weil er von einem Tag auf den anderen aus seinem oberflächlich besehen zwar perfekten, aber bis zum Ennui gleichförmigen und interesselosen Leben ausbrach und Frau, Familie und Job hinter sich liess. Standish spricht selbst von der "Krankheit der vollständigen Negation", die ihn erfasst habe. Er war zutiefst lebensmüde. Da ist es fast schon eine natürliche Folge bzw. entspricht es einer höheren Logik, wenn er (sich) eines Tages nolens volens von der Reling stürzt.

Es ist kein Drama, auch keine Tragödie, was uns Herbert Clyde Lewis vor Augen führt, obwohl er die verschiedenen Phasen des Untergangs - von Zuversicht über Galgenhumor und Verzweiflung bis zu Hysterie und Wahnvorstellungen - eindrücklich schildert, es ist ein Lehrstück: Mit Standish wirft Lewis auch die Leserschaft ins kalte Wasser mit der Frage: Was macht Euer Leben lebenswert? Eine Frage, die sich im Alltag selten stellt, in einer ausweglosen Situation jedoch umso dringlicher. Zu spät erkennt Standish, dass er eigentlich gar nie richtig gelebt, sondern sich zeitlebens als gesellschaftliche Larve bewegt hat, was vielleicht anders gewesen wäre, wenn er sein Leben vom Ende her gedacht hätte. 

Sonntag, 17. März 2024

Ror Wolf: Fortsetzung des Berichts (1964)

Weshalb heisst das Buch «Fortsetzung des Berichts»? Weil es dort beginnt, wo es aufhört, und dort endet, wo es wieder anfängt, sich also beliebig fortsetzt. Wie eine Gödel’sche Schlaufe sind zwei Erzählstränge zu einem infiniten Regress ineinander verzahnt. Wobei ‘verzahnt’ genau das richtige Wort ist, weil es den Bildbereich des Beissens und Essens aufruft, der ein zentrales Motiv der Geschichte ist. Der eine Erzählstrang schildert eine üppige Tafelrunde, zu der der namenlose Ich-Erzähler nach einem langen Spaziergang stösst. Der erste Abschnitt schildert, wie er am Tisch Platz nimmt. Der andere Erzählstrang, der stets alternierend folgt, berichtet vom Aufbruch des Erzählers, wie er seine Wohnung mit der Frau und ihren kranken Verwandten verlässt und sich auf den Fussmarsch begibt, der schliesslich bei der Tafelrunde endet, mit der die Geschichte beginnt. So beisst sich die Erzählung quasi selbst in den Schwanz, wie die "Werre" an einer Stelle des Buchs, die so zum allegorischen Tier des narrativen Verfahrens wird: "wie der Vorderleib schon nach einer kleinen Weile damit beschäftigt ist unter Ausscheidung schleimiger Bestandteile heißhungrig den weichen Hinterleib zu verzehren". Nimmt man diese Allegorie ernst, in der unverkennbar das Ouroboros-Motiv anklingt, dann hat Ror Wolf einen sich selbst verschlingenden Text geschrieben.

Die Geschichte verschlingt sich auch deshalb, weil die hyperpräzise, jede Einzelheit erfassende Erzählweise weniger zur Genauigkeit beiträgt, als dass sie alles zum Flimmern bringt. Der Fokus ist zu nah dran, als dass sich klare Konturen erkennen liessen. Was sich zwischen Aufbruch und Ankunft des Erzählers alles ereignet, ist deshalb nicht so leicht nachzuerzählen. Zu den äusseren Ereignissen auf dem Spaziergang treten Erinnerungen, Rückblenden und Vorstellungen des Erzählers sowie etliche Geschichten einer Figur namens Wobser, die sich dem Erzähler gleich zu Beginn an die Fersen heftet: hinter ihm hergeht, ihn einzuholen versucht, ihn anruft, an sein Gedächtnis appelliert: "Mein Guter, höre ich, erinnern Sie sich, höre ich, Sie haben es nicht vergessen, höre ich, hören Sie doch, höre ich, dieser Abend, die Ereignisse dieses Abends, höre ich". Lange Zeit kann oder will sich der Erzähler nicht erinnern, bis die rückläufige Erzählung schliesslich auf das Ereignis zusteuert, von dem der Bericht seinen Ausgang nahm: Wobsers Vater stürzte sich in dem Moment vom Dach, als der Ich-Erzähler aus seinem Haus tritt bzw. in das Haus der Tischgesellschaft eintritt. So klar wird das nicht, weil sich auch hier wieder zwei Enden der Erzählung verschlingen.

Die Rückblenden und Imaginationen nennt das erzählende Ich Bilder. Es sind häufig Bilder von Zerfall, Verwesung, Kadavern, Tod, Mord, Verstümmelung, was die Thematik des Essens einerseits auf eine ganz existentielle Ebene führt, andererseits auch mit der zergliedernden und zerteilenden Erzählweise korrespondiert, in der oft - wie in der Geschichte von der abhackten Hand des Sohnes - einzelne Gliedmassen von den Körpern abgetrennt erscheinen und sich Einzelheiten vom Gesamtbild lösen. Ror Wolf, der später nicht von ungefähr das Pseudonym Raoul Tranchierer wählt, verfolgt eine sezierende Schreibweise, die der minutiösen Beschreibungstechnik im "Mikro-Roman" Der Schatten des Körpers des Kutschers (1960) von Peter Weiss  einiges verdankt. Höhepunkt des gesamten Buchs ist zweifellos der in seinem Detailgrad bis ins Absurde beschriebene Befreiungsversuch von einem Fliegenfänger, der am Schuh des Erzählers kleben geblieben ist und den er vergeblich wieder abzuschütteln versucht, weil er stets wieder an dem Fuss oder der Hand haften bleibt, mit dem respektive der er sich davon zu befreien suchte. Ein zum Schreien verzweifelt komische Szene, die über zwei Seiten ausgedehnt wird, während alle am Tisch schon auf den Erzähler warten und sich fragen, wo er bloss steckengeblieben ist.

Zuweilen erinnert dieses Debüt auch an die repetitive monologische Prosa Thomas Bernhards, der ein Jahr zuvor mit Frost seinen ersten Roman vorlegte. Die Stilverwandtschaft ist stellenweise verblüffend, wobei Ror Wolf bereits jene Inklination ins Bizarre und Irrationale erkennen lässt, die seine späteren Texte auszeichnen.

Montag, 11. März 2024

Percival Everett: Die Bäume (2023)

Die Bäume sind ein Roman voll von schwarzem Humor, wobei diese Redewendung diesmal eine doppelte Berechtigung hat, da die Geschichte nicht nur makaber ist, sondern auch den Rassismus und die Lynchjustiz der 1950er Jahre thematisiert. Eine mysteriöse Mordserie hält das zurückgebliebene Provinznest namens Money, Mississippi in Atem. Ältere weisse Männer werden bestialisch mit einem Stacheldraht um den Hals ermordet vorgefunden und neben ihnen auch die Leiche eines verstümmelten Schwarzen, der ihre abgerissenen Testikel in den Händen hält. Die vertrottelte Polizei kann sich keinen Reim darauf machen, erst recht nicht, als die schwarze Leiche aus dem Kühlraum verschwindet und am nächsten Tatort wieder auftaucht, erneut mit den Testes des neuen Opfers in der Hand. Deshalb bekommt der lokale Sheriff bald Unterstützung durch das MBI (Mississippi Bureau of Investigation) und schliesslich noch durch das richtige FBI. Das Pikante daran: Die MBI-Ermittler sind afroamerikanisch wie auch die FBI-Agentin, die bald die kleinstädtischen Xenophobie der Rednecks von allen Seiten zu spüren bekommen.

Es stellt sich auch bald heraus, dass die Morde im Zusammenhang mit einem sechzig Jahre zuvor verübten Verbrechen stehen, als ein schwarzer Junge namens Emmett Till aufgrund einer Falschbeschuldigung gelyncht worden ist. Es scheint, als kehre dieser nun von den Toten zurück, um sich für die Gräueltat zu rächen. Tatsächlich reiht sich bald ein Mord nach dem anderen, stets nach demselben Strickmuster, und alle Opfer stehen in verwandtschaftlicher oder familiärer Verbindung zum Ku-Klux-Clan, der im Roman selbstredend auch aufmarschiert, und zu Akteuren der damaligen Lynchjustiz, über die eine nahezu mystische Figur, die über hundert Jahre alte Mama Z., eine geborene Lynch (Achtung schwarzer Humor), seit Jahren akribisch Buch geführt und ein gigantisches Archiv aller Ermordeten angelegt hat: "Hier gibt es eine Akte über so gut wie jede Person, die seit 1913 in diesem Land gelyncht worden ist." Über Seiten hinweg werden diese Namen auch im Buch einzeln aufgelistet, um ihnen eine letzte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Und mit jedem Namen nehmen auch die rätselhaften Massaker zu, die Mordserie weitet sich bald aufs ganze Land aus und dringt bis ins weisse Haus vor, wo Präsident Trump ebenfalls nach demselben Ritual hingerichtet wird. Doch zuvor desavouiert sich der Agitator eines neuen Rassismus selbst in seiner falschen Doppelmoral. Wie sich Trump um Kopf und Kragen redet und behauptet, er habe das Wort "Nigger" nie gesagt, aber es während seinem Dementi pausenlos wiederholt, ist eine parodistische Glanzleistung des Autors, der dem Präsidenten mit seinem "naturorangen" Teint entlarvend genau auf den Mund geschaut hat. Auch sonst besticht der Roman durch witzige Dialoge, schräge Typen und morbide Komik, wie man sie etwa aus den Filmen der Coen-Brothers kennt. Mit viel cinematographischem Flair ist der Roman denn auch geschrieben, der sich zuweilen wie ein Drehbuch liest. In rasanten, kurzen Kapiteln rollt die Handlung in äusserst verknappter Erzählweise ab, hauptsächlich getragen von der Stichomythie der Personen, in der die ganze Stärke des Romans liegt.