Sonntag, 12. Oktober 2025

Alfred Jarry: König Ubu (1896)

Alfred Jarrys Skandalstück, das als Pennälerscherz begann, dann die Pariser Schickeria empörte, schliesslich Kultstatus erreichte und heute als protosurrealistisches Meisterwerk und Wegbereiter des absurden Theaters gilt, ist wie kein anderes Stück vor und nach ihm über sich selbst hinausgewachsen. In Frankreich ging das Adjektiv "ubuesque" in den allgemeinen Wortschatz ein wie im deutschsprachigen Raum der Ausdruck "kafkaesk" - und meint ungefähr das gleiche: eine abstruse oder groteske Situation. Während das Kafkaeske mehr die Unheimlichkeit betont, liegt der Akzent des Ubuesken auf der Grausamkeit. Denn dieser Père Ubu, der skrupellos und ziemlich blutig den Thron des polnischen Königs an sich reisst, ist tatsächlich nichts anderes als ein fressender, saufender und fluchender Wüstling, der gleich aus allem und jedem "Hackfleisch" (50) machen will, wenn ihm etwas nicht passt. Und zugleich eine grotesk-komische Figur. Ein König mit einer Klobürste als Zepter.

"Merdre!" - zu Deutsch etwa: Schreiße, Scheitze oder Schoiße - mit diesem nur leicht verfremdeten und damit bühnentauglich zurechtfrisierten Kraftausdruck beginnt das Stück und wird in dessen Verlauf noch unzählige Male vorgebracht. Trotz der Verfremdung zur Kenntlichkeit tobte das Publikum bei der Uraufführung am 10. Dezember 1896, unmittelbar nachdem Firmin Gémier in der Rolle des Ubu das unerhörte Mot de Cambronne ausgesprochen hatte. Es entstand ein wilder Tumult mitsamt Schlägerei, einige Zuschauer verliessen sogar den Saal des Théatre de Paris. Nur mit Mühe konnte die Aufführung fortgesetzt werden. Jedes Mal, wenn Ubu oder sein linkisches Weibstück sich verbal vergriffen, ging die Unruhe im Publikum von Neuem los. - Dem Lesefrüchtchen sei die nun folgende rhapsodische Nacherzählung verziehen, aber anders ist der absurden Handlung nicht beizukommen, die keiner logischen Entwicklung folgt, sondern von der unberechenbaren Impulsivität der Hauptfigur vorangetrieben wird.

1. Akt, 1. Szene beginnt mit dem mittlerweile ikonischen Ausruf Vater Ubus: "Schreiße!" Er bildet den Auftakt zu einem Dialog mit Mutter Ubu, die ihren Gemahl zu einem Putsch drängt, Er soll König Wenzel gewaltsam vom polnischen Thron zu stossen, um selbst wieder Regent und reich zu sein, wie früher als er König von Aragon war. Vorerst gibt sich Ubu mit seiner Stellung als Dragonerhauptmann zufrieden, doch sein Eheweib bohrt weiter. Die Aussicht, sich als König mit Kapuze, Schirm und Regenmantel auszustatten, scheint ihn jedoch umzustimmen. 2. Szene: Mutter Ubu bereitet ein grosses Fressgelage vor, doch Vater Ubu tut sich bereits am Hähnchen und am Kalbsraten gütlich, bevor die Gäste überhaupt auftauchen. 3. Szene: Nun erscheinen die Gäste, Hauptmann Bordure und seine Kumpane. Die Schlemmerei beginnt, während der Ubu eine "unaussprechliche Bürste" (35) auf die Festtafel wirft. Als einige der Kumpane davon probieren, fallen sie vergiftet um. Das gibt Ubu die Gelegnheit, den Hauptmann beiseite zu ziehen. In der 4. Szene offenbart Ubu sein Vorhaben, den König zu töten, als kurz darauf in der 5. Szene ein Bote auftaucht und Ubu zum König befiehlt. 6. Szene im Palast des Königs. Ubu glaubt zunächst, Wenzel wittere schon Verdacht und will die Schuld auf seine Frau schieben. Doch der König will Ubu für seine Dienste belohnen und kündigt eine grosse Parade für den morgigen Tag an. Aus Dankbarkeit schenkt ihm Ubu eine Trillerpeife, womit dieser nichts anfangen kann. Beim Weggang fällt Ubu um und bricht sich den "Darm" und fürchtet schon zu "krepieren" (38). Nachdem der König ihm versichert, künftig für seine Frau zu sorgen, bedankt sich Ubu zwar, sagt jedoch leise vor sich hin: "aber deswegen wirst du doch massakriert" (38). Wieder zuhause plant Ubu in der 7. Szene die Verschwörung. Man diskutiert verschiedene Szenarien: Vergiftung, Schwerthieb, einigt sich dann aber auf einen Hinterhalt während der Parade: Ubu soll dem König auf den Fuss treten und als Zeichen zum Angriff "Schreiße" rufen.

2. Akt, 1. Szene: König Wezel verbietet seinem Sohn Bougrelas an der Parade teilzunehmen, weil er sich unverschämt gegenüber Ubu verhalten habe. Die Königin ist jedoch verunsichert, weil sie ihren Mann zu wenig geschützt glaubt, da sie in der vergangen Nacht von einem Attentat träumte. Wezel hält das für Unsinn und geht mit seinen beiden anderen Söhnen ab. Die 2. Szene spielt auf dem Paradeplatz, wo das Attentat wie vorbesprochen durchgeführt wird. Die Söhne des Königs fliehen. In der 3. Szene beobachten die Königin und Bougrelas den Vorgang und sehen, wie einer der Söhne von einer Kugel getroffen wird. Der wütende Mob nähert sich ihnen. Bougrelas schwört Rache. Doch in der 4. Szene verschafft sich Ubu mit seinem Gefolge gewaltsam zugang zum Palast. Bougrelas wehrt sich tapfer und flieht schliesslich mit seiner Mutter, der Königin in die Berge, wo sie sich in der 5. Szene befinden. Sie beklagen ihr Leid und verwünschen den hinterhältigen Ubu. Die Königin erleidet einen Schwächeanfall und stirbt. Da treten die Seelen der ermordeten Königsfamilie auf und übergeben Bougrelas ein grosses Schwert, um Rache zu üben. Ubu hat in der 6. Szene mittlerweile den Thron erklommen und denkt an nichts anderes, als Steuern einzuziehen, um reich zu werden. Der Hauptmann Bordure gibt zu bedenken, dass man sich zuerst mit dem Volk gutstellen muss, bevor man Steuern einzieht, was Ubu dazu motiviert, drei Millionen zu verteilen. Das Volk zeigt sich in der 7. Szene begeistert über den unverhofften Geldsegen und jubelt Vater und Mutter Ubu zu. Zu seiner Belustigung veranstaltet Ubu weitere Geldspiele und wird als "edelster aller Herrscher" (48) akklamiert.

Die 3. Szene setzt wieder mit einem Gespräch zwischen Vater und Mutter Ubu ein. Sie rät ihm zur Vorsicht, weil sie die Rache von Bougrelas befürchtet, doch Ubu schlägt ihre Bedenken in den Wind und sinnt vielmehr darauf, sich auch seines Hauptmanns Bordure zu entledigen. In der 2. Szene offenbart sich nun Ubus unbarmherzige Seite: Er will den gesamten Adel vernichten, um sich an seinen Gütern zu bereichern. Jeder einzelne muss vortreten, sein Vermögen benennen, um dann mit einem Fleischerhaken in ein Kerkerloch befördert zu werden. Auch den Richtern, die gegen diese Willkür protestieren, ergeht es nicht anders. Und selbst die Finanzier, die Ubus Tat als "idiotisch" und "absurd" (53) kritisieren, müssen daran glauben. Mutter Ubu ist entsetzt: "Du massakrierst alle deine Untertanen." Worauf Ubu schlicht quittiert: "Ja Schreiße." (53) 3. Szenewechsel: Unter der Bevölkerung hat sich der Regierungssturz und die Tyrannei von Ubu längst herumgesprochen. Die Bauern unterhalten sich besorgt, als es an die Türe klopft. Es ist König Ubu, der höchst eigenhändig die Steuern einziehen will. Und zwar unerbärmlich, wie sich in der 4. Szene zeigt: Er schröpft die Bauern, obwohl sie nichts mehr haben. Sie setzen sich zur Wehr, doch unterliegen sie im Kampf Ubus neuen Finanzenherren, die das Bauernhaus gleich niederbrennen. Auch Bordure ergeht es nicht anders, der in der 5. Szene in Ketten liegt. Er kann jedoch fliehen und gelangt in Szene 6 zum Zar Alexis von Moskau, den er dazu bewegen kann, gegen Ubu vorzugehen und Wenzels Sohn Bougrelas auf den Thron zu verhelfen. Unterdessen beschäftigt sich Ubu in der 7. Szene weiterhin obessiv mit den "Pfuinanzen" (58). Er sinnt, wie er noch mehr Geld eintreiben kann. Da erreicht ihn der Brief des Zaren und kündigt seinen Angriff an. In der 8. Szene ist Warschau bereits belagert und Ubu rüstet sich zum Kampf, doch sein Pferd, dem er aus Habgier kaum zu fressen gab, verweigert den Dienst. Als ersatzweise ein "riesiges Pferd" (59) gebracht wird, läuft es davon und Ubu plumpst auf den Boden. Schliesslich schafft er es dennoch mit seinem Heer loszuziehen, derweil Mutter Ubu ihren "Einfaltspinsel" und "Hampelmann" (60) laufen lässt und den Schatz der polnischen Könige aufsuchen will

4. Akt, 1. Szene: Mutter Ubu sucht in der Warschauer Krypta nach dem polnischen Schatz. Sie findet das Gold, doch eine Stimme aus dem Grabmal von Hans Sigismund vertreibt sie rasch. Unterdessen haben sich in der 2. Szene Bougrelas mit seinen Partisanen auf dem Warschauer Platz versammelt und stimmen ein Loblied auf König Wenzel und Polen an. Sie stürmen den Pallast, Mutter Ubu muss erneut flüchten. In der Zwischenzeit irrt Ubu in der 3. Szene mit der polnischen Armee den Russen entgegen. Der Angriff folgt in Szene 4. Es kommt zu mehreren Kampfszenen, in denen Ubu verwundet wird, seine Gegner aber sofort "zerreisst" (darunter auch Bordure). Im Getümmel fällt der russische Zar in einen Graben, worauf Ubu eine lange Spottrede hält. Währenddem wird der Zar aus dem Graben befreit und sogleich wendet sich das Blatt wieder: die Russen schlagen die Polen in die Flucht. Ubu verschwanzt sich in einer Höhle in Litauen (5. Szene), wo er von einem Bär heimgesucht wird (6. Szene) und aus Feigheit um einen Felsen flieht, während einer von Ubus Schergen den Bär bekämpfen muss, der schliesslich in einer Explosion umkommt. Ubu kriecht wieder aus seiner Deckung hervor und hält grosssprecherische Reden. Auf seinen Befehl wird der Bär zerlegt und soll gebraten werden. Als Ubu unversehens in Schlaf fällt, machen sich seine Gesellen aus dem Staub und lassen ihn allein. In der 7. Szene redet Ubu im Schlaf: Er sieht sich von all seinen Feinden bedrängt, die sich im Bären sich zu einem grossen Angstgegner manifestieren. Schliesslich deliriert er in seinem speziellen Idiom neue Gewaltphantasien: "Zerpresst die Hirne, mordert, schneidet die Ohnen ab, reisst die Finanzen aus und sauft euch zu tode, das ist das Leben der Schlumpenkerle, das ist das Glück des Finanzministers." (75)

5. und letzter Akt. In der 1. Szene gelangt auch Mutter Ubu, nach einer langen Flucht, die sie in einem Monolog rekapituliert, in die Höhle, wo sie ihren Mann schlafend vorfindet und feststellt, dass er ziemlich wirres Zeug daherredet. Aus dieser Situation will die Heimtückische ihren Vorteil ziehen und spielt Ubu die übernatürliche Erscheinung des Erzengels Gabriel vor. Es folgt ein komischer Dialog, in dem der Erzengel die Vorzüge von Mutter Ubu preist, Ubu selbst sie aber vielmehr als "Ekel", "Giftkröte" und "Aasgeier" beschimpft (78). In der Rolle des Engels hält Mutter Ubu ihrem Mann all seine Sünden und Verfehlung vor, doch Ubu durchschaut sie schliesslich. Es kommt zu einem Gezänk, Ubu wirft den toten Bären nach ihr. Er steigert sich in eine ungeheure Gewaltphantasie hinein und will darauf seine Frau zerreissen. In diesem Moment (2. Szene) stürzt Bougrelas in die Höhle. Eine Schlägerei beginnt, begleitet von wüsten Beschimpfungen. Doch Ubu bekommt Verstärkung von seinen Kumpanen und kann sich befreien. Die 3. Szene zeigt ihn und Mutter Ubu in der schneebedeckten Provinz Livland. Es wird klar, das Bougrelas an die Macht gekommen ist, weshalb Ubu und seine Frau in der 4. Szene auf dem Baltischen Meer Richtung Frankreich davonsegeln, in der Hoffnung dort wieder an ihren früheren Ruhm anknüpfen zu können. Sie geraten in nationale Schwelgereien und das Stück endet mit dem nur scheinbar tautologischen Satz: «Wenn es Polen nicht gäbe, gäbe es keine Polen!» (85) In ihm offenbart sich die ultranationalistische Denkweise Ubus: Nicht das Volk macht das Land, sondern das Land das Volk.

Jarry liefert mit seinem Stück eine noch heute gültige, schonungslose Analyse von Statusgier und Machtmissbrauch. König Ubu ist quasi die Quintessenz aller Despoten. Sein sophistisch-paradoxaler Wahlspruch lautet: "Ist das schlechte Recht nicht ebenso gut wie das gute?" (50) Heute kommt man kaum umhin, in ihm eine Präfiguration und Karikatur Donald Trumps zu erblicken. Wie Ubu ist Trump eine masslose, grobianische Witzfigur und zugleich ein übler Volkstribun und Demagoge. Auch der grosssprecherische, selbstverliebte Zug scheint bei Jarrys Figur bereits vorgezeichnet. Schon früh erkannte dies Georg Seeßlen, der bereits 2017 in seiner, kurz nach Trumps erster Präsidentschaftswahl erschienenen Studie bilanziert: "Er ist nicht gerecht, sondern selbstgerecht. Er ist König Ubu." Oder eben: Trump ist zutiefst "ubuesque". Doch Despoten gibt es nicht nur in der Regierung, sondern überall wo wichtige Posten zu bekleiden sind. Als reales Vorbild für Ubu diente Alfred Jarrys ehemaliger Physiklehrer, ein gewisser Herr Hébert, von dem heute nichts weiter mehr bekannt ist, als dass er ein gehässiger und boshafter Lehrbeamter war, der von seinen Eleven über Generationen hinweg aufgrund seiner lächerlichen Standpauken verspottet wurde. Dass er schliesslich als kegelförmige und holzschnittartige Gestalt auf der Pariser Bühne enden sollte, erlebte er vermutlich nicht mehr. Aus dem Hébert (sprich "Ebée") wurde Ubu.

Alfred Jarry: König Ubu. Stücke und Materialien, übers. von Manfred Nöbel. Leipzig: Reclam 1978.

Donnerstag, 25. September 2025

Stanislaw Lem: Herr F. (1976)

Es handelt sich weniger um eine eigentliche Erzählung als vielmehr um einen Bericht oder eine Meta-Erzählung über eine nicht-geschriebene Erzählung, deren Handlung in groben Zügen skizziert wird. Wie das Initial F. andeuten soll, ging es Lem darum, den Fauststoff neu zu schreiben. In die Rolle des Mephisto tritt eine ominöse Firma, ein "Dienstleistungsunternehmen" (90), das dem Herrn F. vertraglich die Erfüllung und Befriedigung aller Wünsche zusichert. Dieser geht den merkwürdigen Deal ein - und tatsächlich fügt sich alles so, wie er es vorstellt. Dabei kommen ihm aber Zweifel, ob alles nur auf Zufällen und Koinzidenzen beruht oder ob er doch an Wunder der Firma glauben soll. Es stellt sich, anders formuliert, eine Glaubensfrage ein: "Herr F. kommt zum Bewusstsein, dass sein Verhältnis zu der Firma an das Verhältnis zu Gott erinnert." (94)

Von der Anlage her also mehr Gedankenexperiment, das eine metaphysische Frage aufwirft. Das mag ein Grund sein, weshalb die Erzählung literarisch unausgeführt blieb. Darin ist sie Friedrich Dürrenmatts Stoffen nicht unähnlich, der in seinem Spätwerk ebenfalls seine ungeschriebenen Geschichten aufgreift, in denen häufig ein abstraktes Problem verhandelt wird, und sie - begleitet von ausführlichen Metakommentaren - indirekt zur Darstellung zu bringen versucht. Lem hingegen weicht rasch von seiner Nacherzählung ab und lenkt den Text auf allgemeine gesellschaftliche Betrachtungen, die einigen politischen Zündstoff aufweisen. Es erweckt daher den Eindruck, als hätte Lem seine nicht umgesetzte Idee bloss als Vorwand gewählt, um unter diesem Deckmantel ein paar höchst brisante Gedanken einzukleiden.

Ausgehend von Karl Poppers Konzept einer offenen Gesellschaft holt Lem zu einer Gegenwartsdiagnose aus, die heute kaum an Gültigkeit eingebüsst hat, ja mehr denn je ins Schwarze trifft. Lem sieht die "Menschheit am Scheidewege" und erkennt im heutigen Faust die verführte Masse: "der einzige Faust der Gegenwart" ist "der kollektive Faust" (105). Im schleichenden Übergang von einer offenen zu einer geschlossenen Gesellschaft, wie schon im Faschismus, liege der mephistophelische Pakt, der letztlich zu einer Versklavung des Individuums führe, da die Selbstverantwortung an den Staat abgetreten und die Zufälligkeit aus der Zivilisation zugunsten einer starren Reglementierung verbannt werde. So schafft sich die Menschheit "ein Paradies der völligen Entmündigung" (109), weil die Freiheit einer scheinbaren Unbeschwertheit geopfert wird.

Lem erkennt im Wohlfahrtstaat somit nicht nur Vorteile, sondern sieht darin eine gefährliche Abhängigkeit: "Unsere Zeit ist eine Zeit der Übertragung individueller Schicksale an Institutionen. [...] In diesem Sinne ist die Zivilisation eine Einrichtung mit dem Zweck, die Zufälligkeit aus dem menschlichen Leben zu verbannen" (108). Lem denkt diesen Trend weiter und findet, dass er nur in einem totalitären System enden kann, selbst wenn die Absichten noch so wohlmeinend sind. Denn auf den Weg in die geschlossene Gesellschaft kann auch "die 'allestolerierende' Gesellschaft (permissive society) geraten. Der Übergang zur geschlossenen Gesellschaft kann hier so sanft und allmählich vor sich gehen, dass er überhaupt nicht bemerkt wird" (107).

Wenn wir auf unsere Gegenwart blicken, stellt sich die berechtigte Frage, ob wir erneut an diesem Wendepunkt stehen und unbemerkt in eine geschlossene Gesellschaft schlittern, da nicht wenige der heute geführten Debatten zwar die "schönsten humanistischen Werte" hochhalten, aber oft auf "eine apodiktische und nicht zu korrigierende" (106) Weise, die eine Diskussion a priori verunmöglicht. Gerade aber eine solche "hermetische Abkapselung" (106) und starre Ideologisierung - und keineswegs in erster Linie Gewalt und Antihumanismus - seien Anzeichen für eine geschlossene Gesellschaft.

Stanislaw Lem: Herr F., übers. von Jens Reuter, in: Die Maske / Herr F. Zwei Erzählungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977.

Freitag, 19. September 2025

Stanislaw Lem: Die Untersuchung (1959)

Ein - eher untypisches - Frühwerk des später als Sciene-Fiction-Autor bekannten Schriftstellers. Gemäss Untertitel ein "Kriminalroman", wobei es sich eher um eine Parodie auf den Kriminalroman bzw. einen Meta-Kriminalroman handelt in der Art eines Gedankenexperiments à la Friedrich Dürrenmatt, zuweilen mit längeren pseudowissenschaftlichen Exkursen über das Verhältnis von Intuition und Statistik. Letztlich wirft der Roman die Frage nach der Sichtweise auf bestimmte Ereignisse und deren Interpretation auf. Es ist damit bereits klar, dass es am Ende keine Auflösung des Falls wie im klassischen Krimi gibt (es ist sogar unklar, ob es jemals überhaupt einen 'Fall' gab), sondern offen bleibt, ob die ganze "Untersuchung" bloss in die Irre ging. Was als mysteriöse Serie eines scheinbar intellektuell überragenden Verbrechers beginnt, der mit der Polizei Katz und Maus spielt, kippt rasch auf die Metaebene, in der die Frage nach den epistemischen Bedingungen im Vordergrund stehen.

Leutnant Gregory von Scotland Yard wird ein scheinbar aussichtsloser Fall zugewiesen, den er - von "Kühnheit" und "Trotz" gepackt - aber unbedingt lösen will. Leichen verschwinden der Reihe nach aus Leichenhäusern oder werden über Nacht "bewegt", offenbar nach einem geheimen Muster, das Professor Seiss mit statistischen Methoden ermitteln will, dabei allerdings abstruse Hypothesen entwickelt und sogar die Temperatorunterschiede an den Tatorten als Faktor miteinbezieht. Schliesslich gelangt er zum Schluss, dass der Fall "nichts mit Kriminologie zu tun" habe, sondern letztlich lediglich "etwas ganz Normales", ein "im alltäglichen Verständnis" lediglich noch unbekanntes "Phänomen" vorliege (135). Da der Professor, wie Gregory im Lauf seiner Untersuchung feststellen muss, offensichtlich aber nekrophile Neigungen hegt, gerät er selbst in den Kreis der Verdächtigen. Doch je mehr sich der Verdacht bestätigt, desto stärker zweifelt Gregory an der Richtigkeit. Die Paradoxie kulminiert in Seiss' offenem Geständnis, das Gregory "endgültig" dazu bringt, seinen Verdacht "aufzugeben" (224). So kann der seltsame Fall letztlich nicht gelöst, sondern bloss ad acta gelegt werden.

Der Roman gipfelt in der Erkenntnis, "dass ein Täter gar nicht existiert" (55), er aber dennoch für Gregorys Selbstverständnis notwendig ist: "Die Existenz eines Täters, ob gefasst oder nicht, ist für Sie keine Frage von Erfolg oder Niederlange, sondern von Sinn oder Sinnlosigkeit des Handelns." (180) Und weiter wird der junge, ehrgeizige Leutnant belehrt: "Niemals werden Sie auf einen Täter verzichten, weil seine Existenz die Ihrige impliziert." (181) Der Täter nichts anderes als die Projektion des Polizisten, gewissermassen eine déformation professionelle? Tatsächlich neigt Gregory zu einer paranoiden Wahrnehmung. Er lässt sich rasch und gerne täuschen, was durch das ostentativ eingesetzt Spiegel- und Puppenmotiv unterstrichen wird. Hinter allem glaubt Gregory "eine deutliche, wenn auch verborgene Bedeutung" zu erblicken", sogar die Klopfgeräusche in seinem Zimmer evozieren bei ihm die wildesten Spekulationen: "Schliesslich war es schwierig, alles auf den Zufall zu schieben." (190) Denn bereits in seiner Jugend stellte für Gregory der Zufall ein Ärgernis dar, dessen "Geheimnis" (19) er ergründen wollte. Am Ende seiner Ermittlung muss er jedoch konstatieren, dass alle Erklärungsversuche "in Wirklichkeit partikulär und zufällig sind" (229) und "nur der blinde Zufall" (231) waltet.

Ein ernüchternde Bilanz, allerdings mit viel auktorialer Ironie unterfüttert. Es bleibt in der Schwebe, ob Leutnant Gregory sich alles nur falsch zusammenreimt oder ob ihn sein Vorgesetzter, der ominöse, scheinbar allwissende Inspektor Sheppard, der mit Professor Seiss überdies gut befreundet ist, ihn lediglich an der Nase herumführt, um ihn auf die Probe zu stellen. Die bittere Pointe des gesamten Romans, die aus dem Arbeitsleben bestens bekannt ist, besteht darin, dass sich Gregory mit der offiziellen Sichtweise des Vorgesetzen, zufrieden geben und sich "an die Richtlinien für die Zukunft" (241) halten muss. Der Inspektor mahnt ihn sogar, als er mit Hinweis auf eine Studie über den angeblichen Wahnsinn von Jesus die Debatte erneut aufrollen will, von "biblischen Analogien" abzusehen und sich an das Wahrscheinliche zu halten: "ich bin überzeugt, dass sie nicht der einsame Rufer in der Wüste spielen wollen" (241). - Ironischerweise drückt sich der Inspektor mit der Redewendung vom "Rufer in der Wüste" just in einer biblischen Analogie aus.

Stanislaw Lem: Die Untersuchung. Kriminalroman. Aus dem Polnischen von Jens Reuter und Hans Jürgen Mayer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978.

Sonntag, 7. September 2025

Jörg Fauser: Der Schneemann (1981)

Der Kultroman des Kultautors Jörg Fauser, der in den 1970er Jahren in der deutschsprachigen Beat-Szene debütierte und mit Aqualunge und Tophane zwei Cut-Up-Texte im Stil von William S. Burroughs verfertigte. Von diesem experimentellen Anfängen ist hier nichts mehr spürbar. Der Schneemann ist eine straight und schnörkellos erzählte und mit einer gehörigen Prise Sarkasmus gewürzte Ganoven-Geschichte oder vielmehr: Antiganoven-Geschichte, denn beim Protagonisten handelt es sich um einen tölpelhaften Kleinkriminellen, der unverhofft ins Drogengeschäft rutscht, das eine Kragenweite zu gross für ihn ist. Dieser Figurentyp wird später durch die Filme Coen Brothers populär werden.

Im Zentrum steht der 39jährige Siegfried Blum, "wie Blume ohne e" (105), aus dessen personaler Perspektive erzählt wird. Dank manch krummer Tour konnte er bislang über die Runden kommen. Nun befindet er sich aber abgebrannt auf Malta, wo er auf illegale Weise dänische Vintage-Pornohefte an den Mann zu bringen versucht. Allerdings mit mässigem Erfolg: Ein Kunde findet die Hefte langweilig: "immer die gleiche Frau, immer der gleiche Mann, ja." "Es ist ja auch immer die gleiche Sache" (18) Von solchen Sprüchen mit sprödem Witz, gibt es etliche in dem Buch.

Doch dann gelangt Blum durch Zufall an einen Hinterlegungsschein für die Gepäckaufgabe in München, den er in der Perücke eines italienischen Playboys fand, dem er die Hefte, die ihm kurz zuvor gestohlen wurden, eigentlich verkaufen wollte. Als er jedoch sein Hotelzimmer betritt, findet er alles verwüstet vor, vom Italiener keiner Spur, stattdessen liegt die Perücke herum - und Blum ergreift die Gelegenheit: Er nimmt den Schein an sich, fährt nach München und ist schon bald im Besitz von 2,5 Kilo reinstem Kokain ("Peruvian Flake"), zur Tarnung abgefüllt in Rasierschaumdosen. 

Vom Drogenhandel hat Blum keine Ahnung. Trotzdem will er das weisse Pulver so rasch wie möglich zu Geld machen, um sich seinen Traum zu verwirklichen und sich auf den Bahamas zur Ruhe zu setzen. Doch der Plan geht nicht ganz auf: Während er kaum jemanden in der Szene kennt, spricht sich dort rasch herum, dass es einen neuen "Schneemann" gibt. Seine Naivität als Dealer zeigt sich an einer Party, wo ein Gast unter dem Szenebegriff "Charley" nach Kokain verlangt, Blum die Frage aber komplett missversteht: "Ich höre gerade, wir haben Charley im Haus. Sind Sie das?" "Tut mir leid, ich heisse Blum" (64).

Blum ist auf der Hut und will sich keineswegs übervorteilen lassen. Doch jeder Deal, den er anzetteln will, platzt vorschnell oder scheitert an seiner Sturheit, da er kaum bereit ist, Kompromisse einzugehen: "Sekt oder Selters", lautet seine Geschäftsdevise. So bleibt er nolens volens auf seinem Stoff sitzen: "und hier hockte er in diesem Zimmer in einer Absteige und brachte es nicht fertig, fünf Pfund Kokain zu Geld zu machen" (95). Stattdessen lernt er Cora, eine "blonde Kifferschlampe" (107), kennen, die ein Dach über dem Kopf sucht. Gemeinsam gehen sie in Blums Absteige, wo er zum ersten Mal selbst kokst, bevor er mit Cora eine explosive Liebesnacht durchlebt.

Cora vermittelt ihm kleinere Deals mit Szeneleuten, doch Blum ist nicht daran interessiert, selbst zu dealen, er will den Stoff auf einmal abstossen und dann verschwinden. Je länger er auf dem Koks sitzen bleibt, desto nervöser wird er. Blum fühlt sich zusehends von der Mafia, vom "Syndikat", von unberechenbaren Junkiebräuten und von der Polizei verfolgt. Selbst Cora vertraut er nicht mehr. Er schlittert in eine veritable Paranoia, wähnt sich sich schon als "Butter-Blume" (157) in der Fernsehsendung Aktenzeichen XY verfolgt wähnt. Seine Situation kommentiert er einmal lapidarisch: "Was den Koks betrifft, bin ich vielleicht Amateur, aber was das Überleben angeht, bin ich 40 Jahre in der Branche." (77)

Als er eines Abends tatsächlich sein Hotelzimmer durchsucht vorfindet, beschliesst er über die Grenze nach Amsterdam zu fahren, was ihm nach einigen Umwegen auch gelingt. Dort warten auf ihn alte Bekannte: Harry Hackensack aus Malta, der sich als ehemaliger CIA-Agent entpuppt, Larry (ebenfalls aus Malta), ein australischer Söldner, der bei der Drogenfahndung untergekommen ist, und der Missionar Norman. Alle drei haben im Vietnamkrieg ihr Geld verloren und wollten es durch Koksverkauf wieder zurückbekommen. Dummerweise durchkreuzte Blums Zufallsfund ihre Pläne, so dass sie ihre 'Vorsorge' nun von ihm zurückverlangen, generös aber anbieten, er bekäme als Unterhändler eine kleine Provision. Doch Blum winkt konsterniert ab: "ihr macht doch immer die gleiche alte Scheisse. Regierung. Mission. Krieg" (246). Er pfeift auf das Geschäft, bleibt "ein Sieger im Kleinen" (248) und schaut sich die Strip-Show in der Roxy-Bar an.

Der Roman gefällt nicht nur aufgrund seines zuweilen fast parodistischen Hard-Boiled-Charakters, sondern auch wegen seiner satirischen Stossrichtung, die so manches Klischee lustvoll übersteigert. Insbesondere die Schilderung der Kreise von Kokainkonsumenten - vom Mafiaboss über die Werbebranche und Kreativwirtschaft bis zur Sponti-Szene - stellt die Beobachtungsgabe des Autors ebenso unter Beweis als auch seinen herrlich trockenen Sarkasmus, den er der passenderweise Aussenseiterfigur Blum in den Mund legt: "Dagegen die Flottmeister aus der Kunstgewerbesprache, von denen hatte er nun die Schnauze aber gestrichen voll." (146)

Bereits 1985 wird der Roman mit Marius Müller-Westernhagen in der Hauptrolle des - wie er nun anstatt Blum heisst - Dorn verfilmt: "frei" nach der Vorlage von Fauser. In der Tat: sehr frei. Mit dem Roman hat der Film, abgesehen von der Kokain-Geschichte, kaum mehr etwas zu tun. Die Handlungsstränge werden verkürzt und neu zusammengeknüpft, so dass aus der vergeblichen Suche nach einem Abnehmer eine Verfolgungsjagd und aus der kurzen Amour fou mit Cora eine finale Romanze wird. Anstatt alleine im Stripclub zu landen, verzichtet Dorn auf das Geld, das er im Film tatsächlich mit dem Kokain umsetzen kann, für eine gemeinsame Zukunft mit Cora ohne kriminelle Basis.

Jörg Fauser: Der Schneemann. Roman. Hamburg, Zürich: Luchterhand-Literaturverlag, 1992.

Mittwoch, 3. September 2025

Steven Hall: Gedankenhaie (2007)

Vor fünfzig Jahren kam Jaws von Steven Spielberg in die Kinos und ging als erster Kassenschlager Hollywoods - als Monster-Blockbuster im wahrsten Wortsinn - in die Filmgeschichte ein. Spielbergs Geniestreich brach alle Rekorde: Er gilt bis heute als kommerziell erfolgreichster Kinofilm und setzte neue Massstäbe für Hollywood-Produktionen. Der damals noch nicht einmal 30jährige Regisseur - Spielberg war beim Dreh 29 Jahre alt - zeigte allen, wie man Filme und Geld macht ("making movies and money"). Das führte natürlich Trittbrettfahrer und Nachahmer auf den Plan. Das Genre des 'Haifischfilms' explodierte förmlich und zog eine unüberschaubare Fülle von Adaptionen und Fortführungen nach sich - mitunter auch plumper oder hirnrissiger Art, wie Sand Sharks, die sich durch den Strand fressen, oder in Sharknado, wo Haie, aufgewirbelt durch einen Tornado, über die Luft angreifen. Steven Hall setzt dem allem mit seinen Raw Shark Texts (wie das Buch im Original heisst) die Krone auf: Diese Gedankenhaie schwimmen durch die Informationsflüsse und fressen Gedächtnisinhalte auf ...

Das Buch erschien zwei Jahre nach Jonathan Safran Foers Unglaublich laut (2005) und operiert wie dieser Roman mit typographischen Spielereien in der Tradition der visuellen Poesie. Wie bei Foers handelt es sich um eine Spurensuche, wobei die Indizien in Form von Codes, Karten, Plänen, Diagrammen und Kryptogrammen oder graphisch speziell gestalteten Seiten mimetisch abgebildet sind, um dem Leser selbst in den Erfahrungsmodus eines Fährtenjägers zu versetzen. (An einer Stelle wähnt sich der Protagonist gar als "Indiana Jones", 232) Wo Foers einen autistischen Jungen auf die Suche nach seinem Vater setzt, begibt sich Eric Sanderson, der Protagonist von Steven Hall, auf die Suche nach seinem früheren Ich, denn er leidet angeblich an einem Gedächtnisverlust, der die gesamte Erinnerung an seine Person einfach gelöscht hat. Seine Psychotherapeutin meint, es handle sich um eine Extremform des Fugue-Syndroms, um eine Persönlichkeitsflucht, ausgelöst durch ein traumatisches Ereignis - in Sandersons Fall ein tödliches Unglück seiner Freundin Clio.

Sanderson selbst jedoch hat eine andere Theorie. Zumindest der Sanderson vor dem Gedächtnisverlust, der sein dementes Ich mittels hinterlegten Nachrichten über die Ursache seiner Amnesie informiert. Der Romananfang erinnert an Christopher Nolans Film Memento, wo Guy Pearce ebenfalls jeden Tag aufwacht und sich nur dank tätowierten Informationen seine zweifelhafte Identität aufrecht erhalten kann. Hall schildert Sandersons erwachen als eine "Wiedergeburt" (106) in ein "zweites Leben" (7): die Eingangspassage liest sich, als würde der Protagonist nochmals aus dem Uterus kriechen: "und ich, blind, zitternd, presste meinen verschleimten Mund fest in die hohle Hand und versuchte, zwischen den Fingern hindurch möglichst systematisch zu atmen" (7). Angesichts dessen, dass Freud das intrautesine Dasein als ozeanisches Gefühl umschrieben hat, erinnert die Szene auch an Jemanden, der aus den Tiefen des Ozeans wieder ans Tageslicht auftaucht - und das ist gerade der springende Punkt.

Wie Sanderson der Zweite nämlich sukzessive von den brieflichen Mitteilungen seines Vorgängers erfährt, war dieser beim Versuch gescheitert, seine tote Freundin wieder zum Leben zu erwecken, indem er mit Hilfe von Dr. Trey Fidorous - dem "Klischee des wahnsinnigen Professors" (235) - die Vergangenheit qua Erinnerung manipulieren wollte, dabei aber unversehens einen Grauen Schwammkopf-Geisterhai aktivierte, der nun Jagd auf ihn machte, sein Hirn häppchenweise auffrass und ihn schliesslich mit sich in die Tiefe der Amnesie riss. Diese Bestie zählt als "Konzepthai" zu den "Gedanken-, Wort- und Phantasiefischen" (263), gilt als "persistenter, mnemonischer Räuber" (264) und ist ausgestattet mit "perfekt ausgebildeter Gedanken-Flosse" (161 bzw. 68) sowie einem Rachen "bestückt mit Okhams Klingen" (290): "Das Auge im Schwammkopf ist eine nachtschwarze Null, ein Tintenklecks, ein dunkles Loch in der Welt." (290). Im Text erscheint er in visualisierter Form, zusammengesetzt aus Buchstaben und Textfragmenten, die sich an einer Stelle wie in einem Daumenkino in Bewegung setzen, so dass der Hai plötzlich auf die Lesenden zuschwimmt.

Sanderson begibt sich auf die gelegten Fährten seines früheren Ichs, um Dr. Fidorous aufzusuchen und durch ihn mehr über seine gelöschte Vergangenheit zu erfahren und die Möglichkeit, sich vom Gedankenhai wieder zu befreien. Auf seinem Suche begleiten ihn sein Kater "Ian" und "Scout", eine couragierte junge Frau, die ihm den Weg in den "Unraum" zu Fidorous weist. Dieser lebt abgeschottet in einem unterirdischen Bücherlabyrinth, um sich von den Angriffen des Gedankenhais zu schützen: Denn die Vielzahl an Informationen kann dieser nicht durchdringen (221). Es stellt sich heraus, dass Scout ein analoges Problem wie Eric hat: Sie wurde von der grossen Datenkrake Mycroft Ward gehackt, die sich fortlaufend ausdehnt und ihre virtuelle Existenz auf verschiedene Wirtskörper wie auf Server verteilt. Der Plan besteht nun darin, den Gedankenhai auf Mycroft ward loszulassen, um beide zu neutralisieren: "Gegen ein kollektives Riesenbewusstsein wie Mycroft Ward hilft nur ein Gedankenfresser wie der Geisterhai, das ist gewissermassen wie Materie und Antimaterie, sie heben sich gegenseitig auf. Bumm." (246)

Das Finale spielt sich als Showdown wie im Film Der weisse Hai (Jaws) ab. Die Dreiermannschaft von Fidorous, Eric und Scout sticht mit ihrem Schiff, der Orpheus (nicht die Orca wie im Film), auf hohe See und macht Jagd auf den Hai, indem sie ihn zu ködern versuchen und ihm Fässer mittels Harpunen in den Leib rammen, damit er nicht entkommen kann. Wie im Film erweist sich der Hai jedoch viel gerissener und mächtiger als vermutet, taucht unter, führt die Besatzung in die Irre und attackiert letztlich das Boot. Das Psychodrama, das sich hinter dieser Haifischjagd abspielt, betrifft jedoch Erics traumatisches Erlebnis mit seiner Freundin Clio, als deren Reinkarnation sich, wenig überraschend, die kecke Scout entpuppt, zu der sich längst eine neue Liebschaft angebahnt hat. Inmitten des Grande Finale der Haiattacke sagt zu ihm die erlösenden Worte und sprich ihn von der Verantwortung ihres Todes frei: "Es war nicht deine Schuld." (426) Das Buch endet ambivalent: Einerseits mit einem Happy End der Wiedervereinigung, andererseits mit dem Tod (Suizid?) von Eric. Kurz davor schreibt er an seine Psychotherapeutin eine Postkarte mit der Mitteilung: "Mir geht es gut, ich bin glücklich, aber ich komme nicht mehr zurück," (428)

Die Frage, ob der Ich-Erzähler unter einer Psychose leidet, sich also alles nur einbildet, oder es tatsächlich erlebt, anders formuliert: ob es sich um einen psychologischen oder einen Fantasyroman handelt, ist müssig, zumal der Gedankenhai in beiden Fällen als Monstertrope für das Trauma fungiert. Er verkörpert das Verdrängte, die unbewusste Ängste, die Schuldgefühle, das sich nicht dauerhaft unterdrücken lässt, sondern in Form eines schrecklichen Ungeheuers an die Oberfläche dringt. Der Textkörper des typographisch visualisierten Hais besteht deshalb aus dem dritten Teil des Glühbirnen-Fragments, der man erst am Ende in integraler Form lesen kann. Es enthält die Ursache für die Psychose. Man erfährt, dass Clio bei einem Tauchgang ums Leben kam, bei dem sie unter Wasser Fische fotografierte - mit einer Kamera, die ihr Eric einen Tag zuvor geschenkt hatte. Daher sein Gefühl, schuld an ihrem Tod zu sein; daher auch der Grund, weshalb sich diese unaufgearbeitete Schuld ausgerechnet in Form eines Hai-Fisches manifestiert. 

Das Buch beginnt vielversprechend, verliert sich dann aber rasch in einer konventionellen Abenteuergeschichte, deren Cyperpunk-Charme nicht über die Willkürlichkeit des nur anfänglich besonders ausgeklügelt erscheinenden Handlungsverlaufs hinwegtäuschen kann. Steven Hall arbeitet auch als Game Designer - und das merkt man dem Roman an, der streckenweise wie ein Videogame aufgebaut ist, verschiedene Szenerien kreiert und die Protagonisten von einer Aufgabe zur nächsten führt. Eine blühende Phantasie ist dem Autor jedenfalls nicht abzusprechen, doch reicht das nicht für einen gelungenen Roman, wenn die Spracheebene trotz dem Einsatz typographischer Extravaganzen kaum mithalten kann. Er verbleibt dann auf dem Niveau eines Game-Plots, das zwar spannend, aber auf die Dauer auch belanglos wirkt. Abgesehen von den wilden theoretischen Spekulationen bleibt die Sprache bis auf wenige Ausnahmen unauffällig, um nicht zu sagen farblos, und schmiegt sich ganz und gar dem Plot an. Originelle Vergleiche wie dieser sind leider Einzelfälle: "Die Luft im Tunnel roch nach einem antiquarischen Dickens-Roman." (226)

Steven Hall: Gedankenhaie. Thriller. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay, Susanne Hornfeck und Sonja Hauser. München: Piper Verlag, 2007.

Freitag, 22. August 2025

Haruki Murakami: 1Q84. Buch 1 & 2 (2009)

Vor einem Jahr pfiff sich das Lesefrüchtchen seinen ersten Murakami (Kafka am Strand) rein und war, nun ja, mässig begeistert. Nun knöpft es sich, um dem Autor nochmals eine Chance zu geben, sein Opus magnum vor, auch weil es wohl keine idealere Sommerlektüre geben kann als einen Murakami, der sich in einem Flow wegliest, auch wenn das Buch über 1000 Seiten umfasst. Das Erstaunliche an Murakami ist ja, dass es einem trotz des narrativen Füllmaterials nie langweilig wird. Seine Prosa erzeugt einen eigentümlichen Sog, der über die Inhaltsleere hinweghebt. Gerade deshalb muss man sich bei Murakami aber auch darauf einstellen, dass man sich ab einem gewissen Punkt verarscht vorkommt, wenn sich die hochgekochte Geschichte als dünnes Süppchen erweist: als letztlich zwar technisch brillantes, hochpoliertes, geschmeidiges, aber leider auch substanzarmes Erzählkonstrukt. Es verhält sich, wie es im Roman selbst einmal heisst, dass man "am Ende in einem geheimnisvollen Bassin aus Fragezeichen" (660) zurückgelassen wird, weil es "wie üblich [...] einfach zu viele Fragen und zu wenig Antworten" (910) gibt.

Dabei beginnt der Roman mit einer spektakulären, filmreifen Ouvertüre (musikalisch untermalt von Janaceks Sinfonietta), die man so rasch nicht vergessen wird: Auf der Autobahn Nr. 3 steckt Aomame im Stau in einem Taxi fest, aus dessen Lautsprecher die Sinfonietta erklingt, die sie sofort erkennt, ohne zu wissen warum. Da sie zu einem dringenden Termin muss - und zwar, wie sich als Überraschungseffekt herausstellen wird, um jemanden umzubringen - rät ihr der Taxifahrer, die Notfalltreppe bei der Esso-Reklametafel zu benutzen. Aomame hat noch nie von einer solchen Notfalltreppe gehört, trotzdem beschliesst sie, dem Hinweis des Chauffeurs zu folgen, der ihr noch folgenden Rat mit auf dem Weg gibt: "Die Dinge sind meist nicht das, was sie zu sein scheinen." (18) Das klingt ziemlich nach Twin Peaks. Und der Fahrer fügt noch an: "Aber man darf sich vom äusseren Schein nicht täuschen lassen. Es gibt immer nur eine Realität." (19) Doch just in dem Moment, als Aomame die Treppe (die am Schluss des Romans nicht mehr vorhanden ist) hinuntersteigt, gleitet sie - was sie zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht weiss - in eine andere Realität hinüber: vom Jahr 1984 ins Jahr 1Q84. So als ob "eine zeitliche Schiene", eine "Weiche umgestellt" wurde (802).

Das Q steht für Question Mark, ausserdem sind der Buchstabe Q und die Zahl 9 im Japanischen phonetisch identisch, sodass 1Q84 wie 1984 ausgesprochen wird. Die Referenz auf George Orwells Dystopie ist offensichtlich. Sie findet im Roman auch mehrfach Erwähnung. Doch ist Murkamis Roman keine Neuauflage von Orwells Klassiker. Wie immer bei ihm wird solches Bildungsgut nur oberflächlich eingestreut. Murakami bietet keine kritische Zukunftsvision eines totalitären Systems, sondern eine Fantasiewelt mit zwei Monden am Himmel, wo es um einen universalen Kampf gegen Gut und Böse geht, in den nolens volens die beiden Charakter Aomame und Tengo einbezogen sind, die in der Kindheit eine Art Seelentausch erlebten, als Tengo sich für die gehänselte Aomame zur Wehr setzte, und deshalb täglich aneinander denken müssen, obschon sie sich seit dem 10. Lebensjahr aus den Augen verloren haben: "Dennoch war ihm, als habe Aomame damals einen Teil von ihm mit sich genommen. Einen Teil seiner Selle oder seines Körper. Und dafür einen Teil von sich in ihm zurückgelassen." (632) Im Jahr 1Q84 sind ihre beiden Schicksale miteinander verknüpft, ohne dass sie davon wissen.

Tengo Kawana ist ein zurückgezogener Mathematik-Dozent, der in der Freizeit seinen literarischen Ambitionen nachgeht, ausser kleineren Auftragsarbeiten aber noch keinen eigenen Roman veröffentlicht hat, nun aber die Gelegenheit erhält, als Ghostwriter zu arbeiten. Bei seinem Verleger ging ein spektakuläres Manuskript eines Mädchens namens Fukaeri ein, das trotz sprachlicher Mängel (Fukaeri leidet an Legasthenie, 179) jeden sofort in den Bann zieht. Tengo soll den Text für eine Publikation aufpolieren. Von Anbeginn ist er selber so begeistert von der Geschichte, dass er einen intrinsischen Drang verspürt, sich dem Text zu widmen. Mehr noch versteht Tengo die junge Autorin Fukaeri als "eine an mich gerichtete Botschaft" (492). Die Roman Die Puppe aus Luft, die wie ein "Märchen" (932) anmutet, dreht sich ebenfalls um ein Mädchen, das in einer Kommune mit strengen Regeln aufwächst. Einer Art Sekte, die ähnlich totalitär organisiert ist, wie Orwells Ozeanien. Als sie eines Tage zur Strafe in den "Raum der Selbstkritik" (926) gesperrt wird, kriechen die Little People aus dem Maul einer toten Ziege und beginnen mit dem Mädchen eine Puppe aus Luft zu spinnen, ein leuchtender Kokon, in dessen Innern ein Klon des Mädchens reift, ihre sogenannte "daughter", der "Schatten" ihrer "Seele" (935, 937).

Phantastisch genug, deutet alles darauf hin, dass die Geschichte nicht erfunden ist, es sich viel mehr um autobiographische Erlebnisse handelt. Erzähltechnisch wird kein Zweifel daran gelassen, dass im Jahr 1Q84 die Little People existieren, und zwar in einer genialen Szene, die in ihrer Schlichtheit äusserst effektiv ist. Während die Little People lange Zeit nur in Fukaeris Buch oder in Figurenreden erwähnt werden, es sich also um ein Hirngespinst handeln könnte, erwähnt sie der auktoriale Erzähler plötzlich relativ unvermittelt, als sie aus dem Mund eines Mädchens kriechen, das aus derselben Sekte der "Vorreiter" entflohen ist, von der auch Fukaeris Buch handelt. Mehr noch der "Leader" der Sekte ist niemand anders als Fukaeris Vater, den Aomame im Auftrag einer alten Dame ins Jenseits befördern soll. Aomame, die hauptberuflich in einem Fitnesscenter jobt und zehn Arten kennt, wie man Männern in die Eier tritt, arbeitet nebenher als Auftragskillerin für die vermögende alte Dame. Diese leitet ein Frauenhaus und hat es sich zur Lebensaufgabe gestellt, Femizide und Vergewaltigungen zu rächen. Auch der "Leader" steht im Verdacht, junge Mädchen rituell zu missbrauchen, weshalb er auf der Abschlussliste steht.

Die Begegnung des Leaders mit Aomame ist eine der Schlüsselszenen des Romans. Allein schon der Auftakt, wie Aomame das Hotel betritt und von den Leibwächtern nach oben geführt wird, beweist Murakamis atmosphärisches Erzähltalent. Unter dem Vorwand, sein körperliches Leiden durch eine Massage lindern zu wollen, wird ein Treffen in einem Hotel arrangiert, während sich draussen ein heftiges Unwetter anbahnt. In einem langen Gespräch erläutert der Leader nicht nur die Mythologie der Little People und erklärt, dass er keineswegs mit dem Mädchen in der Sekte schlafe, sondern mit ihren Avataren, den Puppen aus Luft, um sich mit ihnen zu vereinigen, wobei die Mädchen als "Perciever" der Little People fungieren und er selber als "Reciever". Die Little People seien erzürnt, weil Fukaeri ihr Geheimnis mit dem Buch ausgeplaudert und sich ausserdem von der Sekte losgesagt habe, um wieder ein Gleichgewicht zwischen den guten und bösen Kräften im Universum herzustellen, indem sie sich mit Tengo zusammentat, der nun für sie als "Reciever" dient. Tatsächlich ereignet sich zur selben Zeit, als das Gewitter losbricht, eine mystische sexuelle Vereinigung zwischen Fukaeri und Tengo, der körperlich völlig erstarrt, aber mit stramm aufgerichteter Penisantenne auf dem Bett liegt und den rituellen Akt über sich ergehen lässt.

Von zwei Seiten her, sind Aomame und Tengo also in die rätselhaften Vorgänge verstrickt. Fukaeri offenbart Tengo auch, dass sie Aomame ganz in der Nähe befinde, ohne genau sagen zu können wo. Nach ihrem Auftragsmord, den sie schliesslich im Einverständnis des Leaders, der sterben will, ausführt, taucht sie in einer Wohnung unter, unweit von Tengos eigenem Heim. Als er nach dem Koitus mit Fukaeri zum ersten Mal die beiden Monde am Himmel erblickt, sieht ihn von ihrem Fenster aus auch Aomeme, wie er auf dem Spielplatz im Hof oben auf der Rutsche sitzt. Intuitiv erkennt sie, dass es sich um Tengo handeln muss, den sie sehnsüchtig vermisste und sich doch nie auf die Suche nach ihm machte, sondern ihr bisheriges Leben auf die zufällige Wiederbegegnung wartete. Doch auch in diesem Moment verpassen sie einander. Tengo ist sich nicht einmal bewusst, dass er beobachtet wird. Wenig später jedoch, am Ende des Romans, sieht er auf dem Bett seines todkranken Vaters eine Puppe aus Luft in deren Kokon er das Abbild der 10jährigen Aomame erblickt. In diesem Augenblick weiss Tengo, sie haben sich "gefunden." (1021)

In der Nacherzählung wirkt vieles platt, wie Teenagerliteratur für Erwachsene, garniert mit einigen Sexszenen. Die Stärke von Murakami liegt eindeutig in der narrativen Technik, wie er die eigentlich hanebüchene Geschichte auf tausend Seiten auswalzt und vor allem durch die Parallelführung der beiden Erzählstränge von Aomame und Tengo und eine dosierte Informationsverteilung so geschickt aufbaut, dass ein permanenter Spannungsbogen aufrecht erhalten wird, der zum Weiterlesen zwingt. Nur sukzessive gibt der Roman die Zusammenhänge preis. Zwischendurch werden Alltagsroutinen und allgemeine Beobachtungen bzw. Reflexionen eingestreut in Form von Floskeln und Lebensweisheiten, so allgemeingültig, dass sich jeder damit einverstanden erklären kann. Wie überhaupt die Prosa äusserst austariert und glattpoliert ist und sich, abgesehen von gewissen übertrieben bildhaften Vergleichen, keine Exzentrizitäten erlaubt. Zum Beispiel: "und öffnete die Flache mit einer knappen präzisen Handbewegung, fast als würde er einem Vogel den Hals umdrehen" (556). Oder: "Doch in dieser kurzen Zeit hat ich seelisch und körperlich angerührt. Wie man mit einem Löffel eine Tasse Kakao umrührt." (983 f.) Dezente Stilbrüche in einer sonst unauffälligen Prosa.

Es gibt noch einen dritten Teil, den das Lesefrüchtchen nicht gelesen hat. Gemäss der Einschätzung auf Fanforen handelt es sich eher um einen müden Aufguss und bietet nicht wirklich Neues. Und irgendwie ist das offene Ende, das zugleich schon vorwegnimmt, dass sich Tengo und Aomame wieder begegnen werden, auch besser. Das zweite Buch schliesst mit dem Satz: "Ich werde Aomame finden, bekräftigte er seinen Entschluss. Was auch geschieht, wo und wir sie auch sei." (1021)

Haruki Murakami: 1Q84. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Köln: DuMont Buchverlag, 2010.

Sonntag, 17. August 2025

J. M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K. (1983)

Ein Buch, das bei fortschreitender Lektüre immer stärker in den Bann zieht. Wie sich die Hauptfigur, der tumbe Tor Michael K., nicht nur radikal von der Gesellschaft abwendet, sondern sich aus dem Leben richtiggehend zurückzieht und sich eine eigene Welt ausserhalb aller menschlichen Bindungen einrichtet und damit seine innere Abgeschiedenheit durch die äussere Isolation sinnfällig werden lässt, ist in der geschilderten Konsequenz von einer beunruhigenden Wucht. "Er ist nicht von unserer Welt. Er lebt in einer ganz eigenen Welt." (174), sagt ein ihn untersuchender Arzt einmal fassungslos. "Du hast Dein ganzes Leben geschlafen" (111), sagt Robert, eine andere Figur.

Freilich ein Aussenseiter war der mit einer Hasenscharte geborene Michael K. schon seit seiner Geburt: ein eingeschlossener/ausgeschlossener Dritter, wie Michel Serres seine Denkfigur des Parasiten umschreibt. Einer, der nicht ins System passt und doch notwendig mit ihm zusammenhängt. Als Parasit versteht sich K. selbst: "Doch im übrigen lebte er jenseits von Kalender und Uhr in einer gesegnet vernachlässigten Ecke, halb wachend, halb schlafend. Wie ein im Darm dösender Parasit" (143). Die Metapher wird später vom Erzähler nochmals aufgenommen: "Michaels hat die Därme des Staates unverdaut passiert." (197). Michael K. wird in seiner Passivität - er will im Grunde nichts anderes als schlafen, vegetieren - zu einer seltsamen Widerstandsfigur inmitten von Bürgerkriegswirren. Je nach Perspektive "eine Witzfigur, ein Clown, ein Holzkopf" (183) oder - ein Heiliger.

Daran appelliert das Zitat von Heraklit, das dem Roman vorangestellt ist. Und zwar das berühmte Diktum, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei. Doch das Zitat geht noch weiter, wenn es heisst: "die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen; die einen zu Sklaven, die andern zu Freien." Michael K. gehört zu Letzteren: Ohne es zu beabsichtigen, geht er aus den Kriegszuständen als Verkörperung absoluter Freiheit hervor: als eine Art Adamit, der sich als "Kind dieser Erde" in seinem selbsterschaffenen Paradiesgärtchen, seinem "Garten Eden" (190), verkriecht, um "sich in den Eingeweiden der Erde zu vergraben, als deren Geschöpf zu werden" (132) Darin mündet schliesslich die Erkenntnis des Protagonisten: "die Wahrheit, die Wahrheit über mich. Ich bin ein Gärtner" (219). 

Der Roman erzählt die Geschichte einer Person, die eigentlich nicht existiert - oder nicht existieren dürfte: ein "ungeborenes Geschöpf" (166), ein Häuflein menschlicher Abfall, das "in einer Welt wie dieser nie hätte geboren werden sollen" (190) -, aber gerade dadurch zum Existential wird: von einem (mit Hasenscharte) Gezeichneten zu einem Zeichen der Zeit. Michael K. will mit seiner kranken Mutter zurück von Kapstadt in ihre Heimat aufs Land ziehen, in der Hoffnung auf gesundheitliche Besserung. Doch auf dem Weg stirbt sie und Michael erreicht sein Ziel nur mit einem Päckchen Asche unter dem Arm, das er auf dem ehemaligen Landgut verstreut, in ihrer Ackererde Kürbisse und Melonen züchtet und sich selbst, aus Furcht vom Militär entdeckt zu werden, in die Muttererde vergräbt, wo er in einer uterusähnlichen Grube haust.

Die Früchte aus der mit der Mutter gedüngten Scholle zieht er wie Ersatzkinder hoch: "Er lag in seinem Bau und dachte an diese seine zweiten Kinder, wie sie den Kampf aufnahmen durch die dunkle Erde zur Sonne empor." (126) Seine Zeit verbringt er neben der Kürbissucht hauptsächlich mit Schlafen. Er isst immer weniger. Schliesslich wird er halb verhungert von Soldaten aufgespürt, die ihn für einen Widerstandskämpfer halten, der hier Notvorräte für seine Verbündeten anlegt. Sie schleppen ihn in ein Militärlager und wollen ihn zu einem Geständnis zwingen. Doch Michael bleibt so verstockt und wortkarg, wie er auch jegliche Nahrungsaufnahme verweigert. Egal ob im Lager oder draussen: Überall versuchen die Menschen vergeblich, ihn wieder zum Essen zu bewegen. Doch er entzieht sich jedes Mal solcher "Nächstenliebe" (218) und verharrt in seiner hermetisch verschlossenen Welt.

Es dauert ein wenig, bis der Roman in Schwung kommt. Lange Zeit fragt man sich, worauf die Geschichte hinausläuft und weshalb sie erzählt wird, bis sich die existentielle Dimension mit zwingender Logik audrängt: Was sich hier am Rande der südafrikanischen Bürgerkriegs abspielt, ist eine einzige Parabel auf das Dasein, erkennbar an so ungeheuerlichen Sätzen wie diesen: "Es schien nichts zu tun zu geben als zu leben." (85) Eine Erkenntnis, die Michael K. in einem Wiedereingliederungslager ereilt. Das Lager wird so zur Metapher für die Conditio humana ("Soll ich hier in diesem Lager endlich etwas über das Leben erfahren?", 112) - und K.'s Fluchtversuche zum Ausdruck des Wunsches, die menschliche Gesellschaft hinter sich zu lassen: "Die Wahrheit ist vielleicht, dass es genügt, ausserhalb der Lager zu sein, ausserhalb aller Lager zugleich." (220)

Doch werden solche Deutungsversuche vom Roman direkt wieder sabotiert, zumal die Frage nach der Symbolik des Protagonisten selbst zum Thema wird. Die Figur des sich restlos verweigernden Michael K. stellt nicht nur ein Rätsel, sondern für die Gesellschaft zugleich ein Ärgernis dar, weshalb von allen Seiten versucht wird, ihn zu 'verstehen' und wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. Es gehört mit zur ausgeklügelten Erzählweise, dass der zweite von drei Teilen aus der Sicht eines Arztes geschildert wird, der - getrieben von einem "Verlangen nach Bedeutung" (202) - K. "Geheimnis" (201) unbedingt ergründen will, letztlich aber einsehen muss, dass jeder Erklärungsversuch zum Scheitern verurteilt ist. Coetzee installiert somit die Position des hilflosen Interpreten in der Geschichte selbst. K. wiederum hält seine Geschichte folgerichtig für "unbedeutend" (212).

Literarische Referenzen gibt es viele: vom Schelmenroman bis zur Robinsonade. Vor allem aber steckt viel Kafka in dem Roman, worauf das Initial K.* des Protagonisten bereits hindeutet: In seiner Essensverweigerung gleicht er dem Hungerkünstler, seine Lagererfahrungen lassen Erinnerungen an die Strafkolonie wach werden, und wie er sich, einem "Maulwurf" (132, 219) ähnlich, in der Erde verkriecht, gleicht er dem wühlenden Tier im Bau. Auch Parallelen an die Verwandlung lassen sich ziehen, da K. eine Art Metamorphose zu einem sozialem Ungeziefer vollzieht. Einmal wird er tatsächlich auch ein "stockartiges Insekt" (183) genannt. Und schliesslich ist im deutenden Arzt, der in Michael K. eine "sich ballende Bedeutsamkeit" (202), gar ein "Symbol" (203) erblicken will, eine Referenz an die Exegese der Türhüter-Legende im Process-Roman zu erblicken, wo die hermeneutische Vergeblichkeit ebenso vorgeführt wird.

J.M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K. Roman. Aus dem Englischen von Wulf Teichmann. 5. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2003.

*Nachträgliche Anmerkungen: Bei "Michael K." denken die literaturhistorisch beschlagenen Leser, zu denen freilich auch Coetzee gehört, selbstverständlich auch an Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist. Coetzees Michael K. ist quasi die Antithese zu Kohlhaas: kein blinder Wüterich gegen die Ungerechtigkeit, sondern, wenn man so will, eine Figur der passiven Aggressivität - und darin wiederum auch dem Schreiber Bartebly aus Melvilles gleichnamiger Erzählung verwandt, dessen bedingungslose Verweigerungshaltung ebenso unerklärlich wie provokant ist.