Sonntag, 7. September 2025
Jörg Fauser: Der Schneemann (1981)
Mittwoch, 3. September 2025
Steven Hall: Gedankenhaie (2007)
Vor fünfzig Jahren kam Jaws von Steven Spielberg in die Kinos und ging als erster Kassenschlager Hollywoods - als Monster-Blockbuster im wahrsten Wortsinn - in die Filmgeschichte ein. Spielbergs Geniestreich brach alle Rekorde: Er gilt bis heute als kommerziell erfolgreichster Kinofilm und setzte neue Massstäbe für Hollywood-Produktionen. Der damals noch nicht einmal 30jährige Regisseur - Spielberg war beim Dreh 29 Jahre alt - zeigte allen, wie man Filme und Geld macht ("making movies and money"). Das führte natürlich Trittbrettfahrer und Nachahmer auf den Plan. Das Genre des 'Haifischfilms' explodierte förmlich und zog eine unüberschaubare Fülle von Adaptionen und Fortführungen nach sich - mitunter auch plumper oder hirnrissiger Art, wie Sand Sharks, die sich durch den Strand fressen, oder in Sharknado, wo Haie, aufgewirbelt durch einen Tornado, über die Luft angreifen. Steven Hall setzt dem allem mit seinen Raw Shark Texts (wie das Buch im Original heisst) die Krone auf: Diese Gedankenhaie schwimmen durch die Informationsflüsse und fressen Gedächtnisinhalte auf ...
Das Buch erschien zwei Jahre nach Jonathan Safran Foers Unglaublich laut (2005) und operiert wie dieser Roman mit typographischen Spielereien in der Tradition der visuellen Poesie. Wie bei Foers handelt es sich um eine Spurensuche, wobei die Indizien in Form von Codes, Karten, Plänen, Diagrammen und Kryptogrammen oder graphisch speziell gestalteten Seiten mimetisch abgebildet sind, um dem Leser selbst in den Erfahrungsmodus eines Fährtenjägers zu versetzen. (An einer Stelle wähnt sich der Protagonist gar als "Indiana Jones", 232) Wo Foers einen autistischen Jungen auf die Suche nach seinem Vater setzt, begibt sich Eric Sanderson, der Protagonist von Steven Hall, auf die Suche nach seinem früheren Ich, denn er leidet angeblich an einem Gedächtnisverlust, der die gesamte Erinnerung an seine Person einfach gelöscht hat. Seine Psychotherapeutin meint, es handle sich um eine Extremform des Fugue-Syndroms, um eine Persönlichkeitsflucht, ausgelöst durch ein traumatisches Ereignis - in Sandersons Fall ein tödliches Unglück seiner Freundin Clio.
Sanderson selbst jedoch hat eine andere Theorie. Zumindest der Sanderson vor dem Gedächtnisverlust, der sein dementes Ich mittels hinterlegten Nachrichten über die Ursache seiner Amnesie informiert. Der Romananfang erinnert an Christopher Nolans Film Memento, wo Guy Pearce ebenfalls jeden Tag aufwacht und sich nur dank tätowierten Informationen seine zweifelhafte Identität aufrecht erhalten kann. Hall schildert Sandersons erwachen als eine "Wiedergeburt" (106) in ein "zweites Leben" (7): die Eingangspassage liest sich, als würde der Protagonist nochmals aus dem Uterus kriechen: "und ich, blind, zitternd, presste meinen verschleimten Mund fest in die hohle Hand und versuchte, zwischen den Fingern hindurch möglichst systematisch zu atmen" (7). Angesichts dessen, dass Freud das intrautesine Dasein als ozeanisches Gefühl umschrieben hat, erinnert die Szene auch an Jemanden, der aus den Tiefen des Ozeans wieder ans Tageslicht auftaucht - und das ist gerade der springende Punkt.
Wie Sanderson der Zweite nämlich sukzessive von den brieflichen Mitteilungen seines Vorgängers erfährt, war dieser beim Versuch gescheitert, seine tote Freundin wieder zum Leben zu erwecken, indem er mit Hilfe von Dr. Trey Fidorous - dem "Klischee des wahnsinnigen Professors" (235) - die Vergangenheit qua Erinnerung manipulieren wollte, dabei aber unversehens einen Grauen Schwammkopf-Geisterhai aktivierte, der nun Jagd auf ihn machte, sein Hirn häppchenweise auffrass und ihn schliesslich mit sich in die Tiefe der Amnesie riss. Diese Bestie zählt als "Konzepthai" zu den "Gedanken-, Wort- und Phantasiefischen" (263), gilt als "persistenter, mnemonischer Räuber" (264) und ist ausgestattet mit "perfekt ausgebildeter Gedanken-Flosse" (161 bzw. 68) sowie einem Rachen "bestückt mit Okhams Klingen" (290): "Das Auge im Schwammkopf ist eine nachtschwarze Null, ein Tintenklecks, ein dunkles Loch in der Welt." (290). Im Text erscheint er in visualisierter Form, zusammengesetzt aus Buchstaben und Textfragmenten, die sich an einer Stelle wie in einem Daumenkino in Bewegung setzen, so dass der Hai plötzlich auf die Lesenden zuschwimmt.
Sanderson begibt sich auf die gelegten Fährten seines früheren Ichs, um Dr. Fidorous aufzusuchen und durch ihn mehr über seine gelöschte Vergangenheit zu erfahren und die Möglichkeit, sich vom Gedankenhai wieder zu befreien. Auf seinem Suche begleiten ihn sein Kater "Ian" und "Scout", eine couragierte junge Frau, die ihm den Weg in den "Unraum" zu Fidorous weist. Dieser lebt abgeschottet in einem unterirdischen Bücherlabyrinth, um sich von den Angriffen des Gedankenhais zu schützen: Denn die Vielzahl an Informationen kann dieser nicht durchdringen (221). Es stellt sich heraus, dass Scout ein analoges Problem wie Eric hat: Sie wurde von der grossen Datenkrake Mycroft Ward gehackt, die sich fortlaufend ausdehnt und ihre virtuelle Existenz auf verschiedene Wirtskörper wie auf Server verteilt. Der Plan besteht nun darin, den Gedankenhai auf Mycroft ward loszulassen, um beide zu neutralisieren: "Gegen ein kollektives Riesenbewusstsein wie Mycroft Ward hilft nur ein Gedankenfresser wie der Geisterhai, das ist gewissermassen wie Materie und Antimaterie, sie heben sich gegenseitig auf. Bumm." (246)
Das Finale spielt sich als Showdown wie im Film Der weisse Hai (Jaws) ab. Die Dreiermannschaft von Fidorous, Eric und Scout sticht mit ihrem Schiff, der Orpheus (nicht die Orca wie im Film), auf hohe See und macht Jagd auf den Hai, indem sie ihn zu ködern versuchen und ihm Fässer mittels Harpunen in den Leib rammen, damit er nicht entkommen kann. Wie im Film erweist sich der Hai jedoch viel gerissener und mächtiger als vermutet, taucht unter, führt die Besatzung in die Irre und attackiert letztlich das Boot. Das Psychodrama, das sich hinter dieser Haifischjagd abspielt, betrifft jedoch Erics traumatisches Erlebnis mit seiner Freundin Clio, als deren Reinkarnation sich, wenig überraschend, die kecke Scout entpuppt, zu der sich längst eine neue Liebschaft angebahnt hat. Inmitten des Grande Finale der Haiattacke sagt zu ihm die erlösenden Worte und sprich ihn von der Verantwortung ihres Todes frei: "Es war nicht deine Schuld." (426) Das Buch endet ambivalent: Einerseits mit einem Happy End der Wiedervereinigung, andererseits mit dem Tod (Suizid?) von Eric. Kurz davor schreibt er an seine Psychotherapeutin eine Postkarte mit der Mitteilung: "Mir geht es gut, ich bin glücklich, aber ich komme nicht mehr zurück," (428)
Die Frage, ob der Ich-Erzähler unter einer Psychose leidet, sich also alles nur einbildet, oder es tatsächlich erlebt, anders formuliert: ob es sich um einen psychologischen oder einen Fantasyroman handelt, ist müssig, zumal der Gedankenhai in beiden Fällen als Monstertrope für das Trauma fungiert. Er verkörpert das Verdrängte, die unbewusste Ängste, die Schuldgefühle, das sich nicht dauerhaft unterdrücken lässt, sondern in Form eines schrecklichen Ungeheuers an die Oberfläche dringt. Der Textkörper des typographisch visualisierten Hais besteht deshalb aus dem dritten Teil des Glühbirnen-Fragments, der man erst am Ende in integraler Form lesen kann. Es enthält die Ursache für die Psychose. Man erfährt, dass Clio bei einem Tauchgang ums Leben kam, bei dem sie unter Wasser Fische fotografierte - mit einer Kamera, die ihr Eric einen Tag zuvor geschenkt hatte. Daher sein Gefühl, schuld an ihrem Tod zu sein; daher auch der Grund, weshalb sich diese unaufgearbeitete Schuld ausgerechnet in Form eines Hai-Fisches manifestiert.
Das Buch beginnt vielversprechend, verliert sich dann aber rasch in einer konventionellen Abenteuergeschichte, deren Cyperpunk-Charme nicht über die Willkürlichkeit des nur anfänglich besonders ausgeklügelt erscheinenden Handlungsverlaufs hinwegtäuschen kann. Steven Hall arbeitet auch als Game Designer - und das merkt man dem Roman an, der streckenweise wie ein Videogame aufgebaut ist, verschiedene Szenerien kreiert und die Protagonisten von einer Aufgabe zur nächsten führt. Eine blühende Phantasie ist dem Autor jedenfalls nicht abzusprechen, doch reicht das nicht für einen gelungenen Roman, wenn die Spracheebene trotz dem Einsatz typographischer Extravaganzen kaum mithalten kann. Er verbleibt dann auf dem Niveau eines Game-Plots, das zwar spannend, aber auf die Dauer auch belanglos wirkt. Abgesehen von den wilden theoretischen Spekulationen bleibt die Sprache bis auf wenige Ausnahmen unauffällig, um nicht zu sagen farblos, und schmiegt sich ganz und gar dem Plot an. Originelle Vergleiche wie dieser sind leider Einzelfälle: "Die Luft im Tunnel roch nach einem antiquarischen Dickens-Roman." (226)
Steven Hall: Gedankenhaie. Thriller. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay, Susanne Hornfeck und Sonja Hauser. München: Piper Verlag, 2007.
Freitag, 22. August 2025
Haruki Murakami: 1Q84. Buch 1 & 2 (2009)
Sonntag, 17. August 2025
J. M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K. (1983)
Freitag, 15. August 2025
Juan Rulfo: Pedro Páramo (1955)
Juan Rulfo gilt als Ikone und Modernisierer der mexikanischen Literatur. Obschon - oder vielleicht gerade weil - er nur ein schmales Oeuvre vorzuweisen hat. Er zählt zum Club der Ein-Buch-Autoren, die ausser einem bahnbrechenden Werk kaum etwas anderes mehr publizierten. Neben wenigen Erzählungen, die 1953 unter dem Titel Der Llamo in Flammen erschienen sind, ist es bei Rulfo der Kurzroman Pedro Páramo, der seinen Ruf als moderner Klassiker begründet hat. Jorge Luis Borges hält ihn für einen der besten Roman überhaupt.
Obschon es von Untoten und unerlöster Seelen nur so wimmelt, ist es kein Zombieroman. Vielmehr handelt es sich um einen höchst orchestrierten Chor der Toten: ein vielstimmiges Geflüster und Geraune ehemaliger Einwohner der mexikanischen Ortschaft Comala, das gleich zu Beginn schon als Purgatorium erscheint: "Da ist es wie auf glühenden Kohlen, wie im Höllenschlund. Wenn ich Ihnen sage, dass die Leute dort, wenn sie sterben, aus der Hölle wieder zurückkommen, um sich eine Decke zu holen." (4) Die Toten kommen tatsächlich zurück und berichten vom Schicksal des gefürchteten und verachteten Gutsherrn Pedro Páramo, der das Landgut Medialuna übernommen hat, nachdem sein Vater an einer Hochzeit in Vilmayo erschossen wurde (86). Bereits er war ein Tyrann, der einen gewaltigen Schuldenberg hinterliess.
Seinen Sohn Pedro hielt er für einen "Faulenzer" (43) und Nichtsnutz; doch dieser erweist als Nachfolger eine "Gerissenheit", die diejenige seines Vaters noch übertrifft. Er installiert sich als Autokrat und lässt alle nach seine Pfeife tanzen: "Von jetzt ab machen wir das Gesetz." (45). Er unterstützt sogar die Revolutionäre, um sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen (105). In einer zentralen Metapher wird er als Unkraut bezeichnet, das sich epidemisch vermehrt: "Die Sache fing damit an, [...] dass Pedro Páramo aus dem Nichts, das er gewesen war, zu einer Macht wurde. Er wuchs wie Unkraut." (75) Eine Gütergemeinschaft wegen hält er um die Hand von Dolores "Lola" Preciado an, die ihn aber bald verlässt, nachdem sie ihm einen Sohn namens Juan geboren hat, den sie mitnimmt. Aus seiner Perspektive wird der Roman anfänglich erzählt. Seine Mutter bitte ihn auf dem Totenbett, nach Comala zurückzukehren und seinen Vater aufzusuchen.
Der Roman beginnt mit Juans Reise nach Comala. Was er dort antrifft, ist jedoch nurmehr eine Geisterstadt. Nicht von ungefähr ist sie mit "Capitana", einem "Unkraut" (11) überwuchert, das symbolisch für die vernichtende Herrschaft (capitana bedeutet auch Anführer) unter Páramo steht. Juan begegnet verschiedenen Personen aus dem Umfeld seines Vaters, die sich aber rasch als Gespenster aus der Vergangenheit erweisen: "Damiana, sagen Sie, Damiana, sind Sie überhaupt ein lebendiger Mensch?" (48) - "Seid ihr auch Tote?" (52) Selbst Pedro Páramo ist, wie sich herausstellt, längst gestorben. Und bald liegt auch Juan im Grab - "in einem schwarzen Kasten, in einem richtigen Sarg" (82) - und lauscht dem Stimmengewirr der Toten, die ihm die Geschichte seines Vaters in fragmentarischer, unzusammenhängender Form erzählen. Literarisch werden diese Textstücke jedoch genial ineinander montiert, so dass ein flirrendes, kleidoskopartiges Gebilde entsteht, das Wirklichkeit und Phantasmagorie in ständiger Schwebe hält.
Pedro steht im Ruf eines "Wutnickel" (33) und "Hurensohn[s] von Gutsherrn" (35). Er führt ein selbstsüchtiges Leben und bedient sich der Frauen im Dorf nach Belieben. Doch sein Herz schlägt nur für seine Jugendliebe Susana, die er seit seiner Kindheit nie mehr gesehen hatte, sich aber in einer irrationalen Sehnsucht zu ihr verzehrt: als Wesen, "das er mehr liebte als irgendeinen anderen Mensch auf der ganzen Erde" (103). Diese fatale Liebe wird ihm und dem gesamten Ort zum Verhängnis. Das erkennt der Vater Susanas sofort, als er mit ihr nach Comala zurückkehrt: "Es gibt Dörfer, die schmecken nach Unglück. Das ist ein unglückliches Dorf, ganz und gar vollgesogen mit Unglück." (90) Gegen ihren Willen nimmt Pedro Susana zur Frau, doch diese verhält sich apathisch: Liegt tagelang im Bett in wirren Fieberträumen versunken (109), in denen sie ihrem verstorbenen Geliebten Florencio nachtrauert. Im Dorf gilt sie schon bald als "wahnsinnig" (92), als "eine arme Verrückte", die "Selbstgespräche" (119) führt, die man weitum hört: "Da schreit ein Mensch, aber das klingt nicht, wie ein menschliches Wesen schreit." (95)
Als Susana schliesslich stirbt, schwört Pedro Rache: "Er schwor, sich an Comala zu rächen." (125) So führt schliesslich alles zum Niedergang, auch von Pedro Páramo selbst. Am Ende vegetiert er, schon halb im Jenseits, beim "Paradiesbaum" dahin und hofft auf einen baldigen Tod, um der drückenden Last seiner Schuld zu entkommen: "Denn er hatte Angst vor den Nächten, die die Dunkelheit ihm mit Gespenster bevölkerte, Angst, mit seinen Gespenstern allen zu sein." (133). Der Roman ist das vielstimmige Geflüster dieser Gespenster, die Pedro Páramo auf dem Gewissen hat. Deshalb trägt der Roman seinen Namen als Titel, weil er sozusagen seine persönliche Nemesis darstellt. Dabei handelt es sich um einen telling name. In Pedro steckt der Stein (piedra) und tatsächlich zerfällt die Figur am Ende dieses symbolträchtigen Romans buchstäblich zu Stein: "Er schlug hart auf die Erde auf und fiel auseinander wie ein Haufen Steine." (133). Páramo wiederum bedeutet baumloses Hochland. Wie schon beim Vergleich mit dem Unkraut wird auch hier die Figur mit einer unwirtlichen Topographie gleichgesetzt.
Juan Rulfo: Pedro Páramo. Roman. Aus dem Spanischen von Mariana Frenk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975.
Dienstag, 12. August 2025
Aura Xilonen: Gringo Champ (2015)
Dieses Buch haut tüchtig auf die Fresse, verbal wie thematisch. Es geht um Liberio, einen jungen, ca. 18jährigen Mexikaner, der illegal über die Grenze in die Südstaaten gelangt und seine Weisheit auf der Strasse findet. Er lernt dort wortwörtlich, sich durchzuschlagen, sowie seine mit Kraftausdrücken gespickte Gossensprache, in der auch das Buch - aus seiner Erzählperspektive - geschrieben ist. An einer Stelle heisst es einmal, er würde mühelos den "Weltrekord der schlimmen Wörter" (188) halten. Unter die zwar vulgäre, doch durchaus originelle Ausdrucksweise mischt sich aber immer wieder Bildungsgut, was zu komischen Kombinationen von schief angewendeten Fremdworten führt: von "paläozoischen Prügeln" (160) ist die Rede, von "anapästischem Lachen" (154) oder "präteritivem Käse" (173).
Angeeignet hat sich der Waisenjunge dieses Vokabular in der Buchhandlung, in der er für den dubiosen "Chief", der mit Schöngeist bloss seinen grobschlächtigen, korrupten Charakter kaschiert, schwarz als Aushilfskraft arbeitet, dafür auf dem Dachboden des Geschäfts wohnen darf. Nächtens schleppt er dort Bücher hin und verschlingt mit Feuereifer die Klassiker von der Antike bis zum Goldenen Zeitalter unter Zuhilfenahme eines Wörterbuchs, da er anfangs kaum etwas versteht. Vor allem stört es ihn, dass die Literatur so rein gar nichts mit dem richtigen Leben zu tun hat, das in seinem Fall mit "all dem Pech" (116) tatsächlich alles andere als romanhaft anmutet: "alles scheint hier gegen mich zu sein" (129), stellt Liborio einmal fest. In kursiv gesetzten Rückblenden rollt er gedanklich seine Herkunft und die Flucht über die Grenze auf.
Seine leibliche Mutter hat er nie gekannt. Angeblich starb sie bei seiner Geburt. Aufgewachsen ist er bei einer Patentante, die mehr wert darauf legte, lediglich die 'Patentante' zu sein als dass sie ihre Sorgfaltspflicht wahrgenommen hätte. Im Gegenteil: Sie unterversorgt, prügelt und beschimpft ihn. Ein tödlicher Unfall bei einem Strassenkampf zwingt ihn schliesslich, Mexiko zu verlassen. Er schafft es, schwimmend, mit letzter Kraft über die Grenze und bleibt wie leblos in der Wüste liegen, wo er von einer Gruppe von ebenfalls illegal immigrierten Baumwollpflückern aufgelesen wird. Einer Razzia dort entkommt er wie durch ein Wunder, indem er stundenlang in einer Schlangenhöhle ausharrt. Seine Resilienz scheint übermenschlich: Er ist nicht nur ein Überlebender, sondern ein mehrfach Auferstandener (108, 143).
"Bin schliesslich tot auf die Welt gekommen" (7), heisst es gleich zu Beginn. Liborio ist einer, der nichts zu verlieren hat und deshalb alles einstecken kann. Das zeigt sich, als er eines Tages einer "Chica", die er heimlich anhimmelt, zur Hilfe eilt, als sie von Jungs belästigt wird. Er schlägt buchstäblich alle in die Flucht. Am nächsten Tag muss er deswegen seinerseits einstecken. Hinterrücks wir er von einer Truppe "Mickerficker" niedergeprügelt. Er liegt am Boden, lässt aber alle Fusstritte stoisch über sich ergehen, was eine abgehalfterte Journalistin filmt und online stellt. Der Clip geht viral und Liborio avanciert ohne sein Wissen zum Star. Erst recht, als ein zweites Video die Runde macht, in dem Liborio, der kurzzeitig als Sparringpartner dienen muss, einen Boxer in Sekundenschnelle ausser Gefecht setzt.
Doch das alles interessiert den jungen Immigranten herzlich wenig. Er hat nur Augen für die "Chica", die er verteidigt hat und die sich nach dem brutalen Angriff um ihn zu kümmern beginnt. Sie gibt ihm neue Schuhe und verschafft ihm unter dem Vorwand, er sei ihr Cousin, eine Bleibe. Es kommt zwangsläufig zu einer Annährung zwischen ihm und Airee. Beide werden jedoch abrupt bei einer Flucht vor der Polizei auseinandergerissen wird, als Airee beim Diebstahl eines teuren Medikaments für ihren Grossvater erwischt wird. Liborio kommt in einem Heim für Obdachlose unter, der "Sekte der Aufgeschmissenen" (191), wie sich die Insassen liebevoll nennen, und lernt dort die neunmalkluge Noemie kennen, die an ihren Rollstuhl gefesselt ist. Im Heim entdeckt man sein Boxtalent, weswegen er für eine Wohltätigkeitsveranstaltung in den Ring steigt - und selbstredend als Held aus dem Ring geht. Alle seine Gegner hat er in Nullkommanichts platt gemacht. Durch die erzielte Medienaufmerksamkeit gelangt das Heim zu neuen Gönnern und Liberio kann sogar, zusammen mit Noemie, eine Bibliothek dort einrichten.
Die Geschichte verläuft in absehbaren Bahnen sowohl, was die äusserliche Wende (der unterschätzte Underdog kämpft sich zum Erfolg), als auch die innere angeht (die Entwicklung zum moralisch gereiften Charakter, die sich übrigens auch sprachlich durch eine Abnahme der Gossensprache vollzieht), überzeugt aber stets mit plastisch ausgestalteten Szenen und Dialogen. Das Storytelling und die Figurenzeichnung sind handwerklich brillant, so dass die Lektüre spannend bleibt und zunehmend auch emotional berührt. Dabei ist es dem Roman hoch anzurechnen, dass er das ganz grosse Happy End vermeidet und Liborio die angehimmelte Aireen nicht für sich gewinnen kann. Sie heiratet einen anderen. Stattdessen kündigt sich eine Romanze zur gehbehinderten Noemie an - ein ungleiches Paar: wie Don Quijote und Sancho Pansa, so der letzte intertextuelle Wink am Ende des Romans.
Seit Erscheinen des international gefeierten und preisgekrönten Debüts, ist kein Zweitling der Autorin erschienen. In einem Text für die Neue Zürcher Zeitung vergleicht sie sich mit ihrem Landsmann Juan Rulfo und mit Harper Lee - beide sind nach ihren Erstlingswerken literarisch verstummt, haben jedoch Bleibendes hinterlassen. Man könnte auch J.D. Salinger nennen, mit dessen Holden Cauffield der Kämpe Liborio mehr als nur eine Gemeinsamkeit teilt. Ohne sich direkt in diese Fluchtlinie zu stellen, hinterfragt die Autorin den Sinn des Weiterschreibens, zumindest Weiterpublizierens, unter erhöhtem Erwartungsdruck, aber auch in einer Zeit, wo sich das Schreiben durch die Flut nicht nur an Gedrucktem, sondern auch durch unzählige Foren und Blogs, wie diesem hier des Lesefrüchtchens, selbst entwertet. Was ist der Sinn des Schreibens, wenn es keinen Spass mehr macht, wenn es zur Pflicht wird? Das nennt man Selbstbewusstsein: Landet mit 19 Jahren einen "fokkin" Beststeller und sagt dann: Das war's mit der Schreiberei, mehr ist nicht zu wollen.
Aura Xilonen: Gringo Champ. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. München: Carl Hanser Verlag, 2019.