Donnerstag, 24. Oktober 2024

Mara Genschel: Midlife-Prosa. Performative Erzählungen (2024)

"Performativ" - das war einmal ein Lieblingsausdruck der Literaturwissenschaften. Wann immer ein Text genau das vollzog, wovon er auch handelte, dann nannte man das "performativ", und vor allem in der Postmoderne erfreuten sich alle an performativen Texten. Das Lesefrüchtchen mag sich noch an ein Seminar über Thomas Bernhard erinnern, wo die Dozentin in heller Entzückung darauf hingewiesen hat, dass die Passage in der Erzählung Gehen, in der unzählige Male der Ausdruck "schüttere Stelle" wiederholt wird, selbst zur schütteren Stelle des Textes wird. Voilà, performativ, quod erat demonstrandum. Ach ja, auch an sog. "performativen Widersprüchen" hatten alle ihre helle Freude, was genau das Umgekehrte meint, wenn der Text das Gegenteil dessen vollzieht, was er aussagt.

Mara Genschel wäre nicht Mara Genschel - ja, die mit dem Schnauzer -, wenn sie diese Performativität in ihrer "Midlife-Prosa" (allein schon der grossartige Titel!) selbst wieder performativ unterläuft bzw. überbietet, indem sie sie allzu wörtlich nimmt. Der Untertitel "performative Erzählung" muss also auch mit ironischem Vorzeichen gelesen werden. Alle versammelten Erzählungen drehen sich nämlich bloss um sich selbst. Performativ eben. Und selbst das reflektieren sie noch performativ in Bezug auf die Autorin: "Manches Mal schien es mir jedenfalls, als sei ihre schiere, potentielle Beobachtbarkeit der einzige Inhalt ihres schriftstellerischen Tuns." Die Erzählungen haben nichts anderes als sich selbst zum Inhalt. Besonders deutlich zeigt sich das im ersten Text, der - und das ist nach so vielen Prosatexten aus der Perspektive von Tieren oder Gegenständen nun doch ein genialer Einfall - von ihm selbst verfasst ist. Gab es das schon einmal? Ich glaube nicht.

Der Text erzählt sich sozusagen selbst, respektive äussert er sich vielmehr ziemlich mokant über seine Autorin, über ihr Aussehen, ihr Parfüm, ihre literarischen Ambitionen, da sie zum Prokrastinieren neigt und eher alles andere macht, als sich ans Werk zu setzen, und ihn, den Text, endlich zu schreiben. Worauf sie letztlich aber verzichtet und der Text so "sein schaurig offenes Ende" findet. Ähnliche gescheiterte Schreibprozesse führen - performativ, was sonst - auch die anderen Texte vor: Umständliche Vorbereitungen zu sieben Lesungen, die dann aber nicht gehalten werden; der erfolglose Neuansatz für das Verfassen eines Drehbuchs; Skizzen zu einer grossen Rede; ein sich selbstzersetzendes Anagramm usw. Und am Schluss die performative Volte schlechthin: die Kapitulation der Autorin bei der Niederschrift des eben gelesenen Buchs in Form eines Emailwechsels mit ihren Verlegern Urs und Christian.

Das klingt nun vielleicht wahnsinnig anstrengend, verschwurbelt und dekonstruktiv, bietet aber fast durchwegs eine höchst amüsante Lektüre, weil die Autorin ihr Handwerk souverän beherrscht und offenbar grossen Spass beim Schreiben hatte, der sich auf die Lesenden überträgt. Alle diese Anti-Erzählungen sind ungemein schlau, witzig, schräg, und in keiner Sekunde langweilig, obwohl die performativen Texte von eigentlich nichts anderem als von sich selbst und ihrem (Nicht-)Geschriebensein handeln. Doch versteht es die Autorin gekonnt verschiedene Register zu ziehen und gleichsam auch zu parodieren, egal ob es sich um neomodischen Jargon, die Unwägbarkeiten der SMS-Kommunikation oder die hochtrabenden Diktion von Ansprachen handelt. Die Freude am spielerischen Umgang mit den Worten ist den Texten ebenso anzumerken wie die hohe Stilsicherheit in allen Belangen. 

"Midlife-Prosa" ist Literatur auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, weil es nicht um Weltbeschreibung geht, nicht darum 'etwas in Worte zu fassen', sondern aus der Sprache heraus etwas entstehen zu lassen. Und das gelingt der Autorin mit fast traumwandlerischer Sicherheit, egal wie scheinbar banal oder abstrus der Inhalt auch sein oder anmuten mag. Zum Vergleich die im letzten Post besprochene "Hasenprosa" von Maren Kames, deren Unbeholfenheit nun noch stärker hervortritt. Im Prinzip handelt es sich in beiden Fällen um sogenannt 'experimentelle' Texte; und gemeinsam ist ihnen überdies, dass es sich um Metatexte handelt, die den Schreibprozess und dessen Krisen mitreflektieren. Während sich aber die "Hasenprosa" in ihrer mäandernden Geschwätzigkeit verliert und irgendwie doch noch einen (biographischen) Plot einzuholen versucht, bietet die "Midlife-Prosa" konzis gearbeitete Miniaturen, die trotz ihrer Unberechenbarkeit an keiner Stelle beliebig wirken. Ganz abgesehen davon, dass ein Titel wie "Midlife-Prosa" für ein Buch über Schreibkrisen um einiges pfiffiger ist.

Warum stehen solche Bücher nie auf irgendeiner Shortlist? 

Samstag, 12. Oktober 2024

Maren Kames: Hasenprosa (2024)

Das Lesefrüchtchen tummelt sich mit Vorliebe in der literarischen Vergangenheit. Doch anlässlich der Vergabe diesjähriger Buchpreise ist es an der Zeit, sich sporadisch wieder einmal in der Gegenwartsliteratur umzusehen. Aus der Shortlist des Deutschen Buchpreises, der am kommenden Montag vergeben wird, hat es sich die "Hasenprosa" von Maren Kames ausgesucht. Was lässt der auffällige Titel wohl erwarten? Der Hase ist bekannt für seine Haken, die er schlägt. Ist diese Prosa ähnlich sprunghaft? Im 18. Jahrhundert hat Jean Paul - unter seinem Pseudonym "Hasus" - bereits einmal die "Hasensprünge" als Metapher für seinen Ideenkombinatorik und den daraus resultierenden witzig-assoziativen Schreibstil verwendet. Mit dieser Referenz auf Jean Paul liegt das Lesefrüchtchen nicht ganz unrichtig, denn tatsächlich handelt es sich bei der "Hasenprosa" um pure "Assoziationsprosa", allerdings um eine ganz anderes gelagerte als bei Jean Paul: Wo sich bei ihm das Assoziationsmaterial in neuem Witz und Sinn entzünden, bleiben hier die assoziierten Versatzstücke disparat.

Die andere literarische Referenz, die sich aufdrängt, ist Alice im Wunderland. Die Ich-Erzählerin fällt zwar nicht durch einen langen Tunnel ins Erdinnere, dafür durch ein Dach auf ein Feld, wo ihr ein Hase begegnet, der sie fortan als eine Art Totemtier oder Power Animal auf eine imaginäre Reise in die Tiefe ihres Herzens, die eigene Vergangenheit und noch weiter in eine vorsintflutliche Urzeit und hinaus ins All mitnimmt. Das Buch beginnt damit eigentlich vielversprechend mit einem fast surreal anmutenden Auftakt und einer temporeichen Sprache, die einem Feingefühl für klangliche Assonanzen verrät, die - bei einem Hasenroman wohl nicht zufällig - häufig um den Vokal a kreisen: "es bangte und knackte schon lang, dann barst es, ich krachte". Hier fügt sich noch alles zu einer zwingend dichten Prosa, die sich dann aber, je länger der Schreibstrom anwächst, ins Unbestimmte verliert. Da hilft es auch nichts, wenn die Rat- und Orientierungslosigkeit mitunter metathematisch wird, etwa wenn der Hase sich zum "Dirigenten deiner Unbrauchbarkeiten und Leidenschaften" erklärt. Auf die Dauer erschöpft sich auch die demonstrativ in Szene gesetzte Sprachvirtuosität, deren Manierismen zuweilen ähnlich aufgesetzt wirken wie die Geschichte mit dem allwissenden Hasen, der die Autorin auf ihrer Sinnsuche begleitet. Sie findet ihn, so viel sei verraten, aber ebenso wenig wie die geneigte Leserin ...

Das Problem des Buchs - als "Roman" kann man es schwerlich bezeichnen - ist seine Beliebigkeit. Die Sprunghaftigkeit ist Programm, denn es wird kaum erzählt, stattdessen mehrheitlich aufgezählt. Eine solche Enumeratio hat seit Homers berühmtem Schiffskatalog selbstredend literarische Tradition, allein hier fehlt der epische Bezug. Es werden reihenweise originelle Formulierungen, Gedanken, Kindheitserinnerungen, Beobachtungen, wikipedisches Fachwissen und Kommentare zum "frei drehenden Ereignisrad der Ultragegenwart" aufgetischt, viel und ausgiebig Literatur und Songtexte anzitiert und jede Menge Namedropping betrieben ohne ersichtlichen inneren Zusammenhang. Was den kunterbunten Mix als Gravitationszentrum einzig verbindet, ist das Ich der Autorin, die in diesem Text offenbar auch eine Art Schreib- oder gar Lebenskrise verarbeitet. Dabei breitet sie Bilder, Lieder, Texte, die ihr offenbar etwas bedeuten, vor der Leserschaft aus, ohne ihnen aber selbst Bedeutung zu verleihen. Für einen solchen Sinngebungsprozess reicht es einfach nicht aus, wenn sich Sätze wie Songs auf einer Playlist aneinanderreihen. Insofern ist eine Liedzeile der als Motto vorangestellten Band International Music durchaus zutreffend: "Für alles kennst du Wörter, die beschreiben, was du siehst | Für alles andere fehlt das Repertoire."

Die Autorin als DJane? Das Buch als Playlist? Was eigentlich eine innovative Idee sein könnte, fällt enttäuschend aus. Aus dem selben Grund: Auch die Verknüpfung von Text, Bild und Musik gelangt nicht über Willkür hinaus. Willkür wohlverstanden für die Lesenden, für die Autorin mögen die ausgewählten Songs, Bilder und Privatfotos vermutlich sogar eine emotionale oder existentielle Bedeutung und sie beim Schreiben beeinflusst haben, nur entzieht sich dieses Moment der Lektüre. Das versammelte Sprach-, Ton- und Bildmaterial transformiert sich an keiner Stelle in Literatur. Es bleibt, was es ist: Vorzeigematerial. Es geht der Autorin gar nicht ums Mit-Teilen, lediglich ums Teilen. Sie zeigt her, was ihr gehört oder gefällt - und auch was sie sprachlich alles kann. Das ist schön und recht, aber braucht es dafür einen Roman? Wenn die Literatur nicht mehr vermag, als sich über eine Ansammlung von Posts und Likes zu definieren, dann macht sie sich selbst überflüssig. Oder ist wenigstens symptomatisch für ihr Zeitalter. Es lohnt sich deshalb eher, die zitierten Songs direkt anzuhören. Als Playlist funktioniert die "Hasenprosa" bestens - und die Autorin beweist über verschiedene Stile hinweg einen sicheren Musikgeschmack. Grandios ist auch ihre Beschreibung von Princes Live-Auftritt 1985 in Syrakus. Doch weshalb steht das nochmals im Buch? Ähm ...

Eine andere tolle Stelle im Buch soll schliesslich auch noch hervorgehoben werden, weniger aus literarischer Hinsicht, sondern weil es sich um ein korrektes Statement handelt. Es ist jene, in der sich die Autorin über den Irrsinn von Lesereisen und Literaturevents beklagt, nachdem der Hase zurecht danach gefragt hat: "Wieso liest man dann nicht einfach still vor sich hin und alle bleiben zuhause?" Das ist fürwahr eine absolut berechtigte Hasenfrage, die als entferntes Echo auch an Blaise Pascals berühmten Ausspruch erinnert: "Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen." Den ganzen Literaturzirkus kann man sich tatsächlich schenken, wenn alle zufrieden zuhause lesen würden. Sollte Maren Kames den Buchpreis erhalten, dürfte das rasch unangenehm für sie werden, denn dann wird sie unweigerlich vom Räderwerk der literarischen Eventitis erfasst. Es ist der Autorin deshalb nicht zu wünschen.

Sonntag, 6. Oktober 2024

Vladimir Nabokov: Verzweiflung (1934)

Normalerweise würde das Leserfrüchtchen nicht unbedingt zu einem Buch mit dem Titel "Verzweiflung" greifen, es sei denn, es stammt wie in diesem Fall vom Meister Nabokov. In der russischen Originalsprache besitzt der Titel, wie der Autor selbst betont, auch ein "weit klangvolleres Heulen": Ottschajanije. Es handelt sich um ein - noch relativ verspieltes - Frühwerk, das 1934 zuerst als Fortsetzungsroman in der russischen Zeitschrift Sovremennye zapiski erschienen ist und vom Autor drei Jahre später auch auf Englisch übersetzt wurde. Der Roman selbst aber ist weder in Russland noch England angesiedelt, sondern in Berlin, wo sich Nabokov zur Zeit der Niederschrift auch aufhielt. Im Kern greift der Roman das insbesondere auch in der russischen Literatur verbreitete Doppelgänger-Motiv auf (man denke nur an Gogol oder Dostojewski) und strikt daraus eine listige metafiktionale Geschichte, die im Kern offenbar auf einer wahren Begebenheit beruht: ein versuchter Versicherungsbetrug, der damals in Berlin gerade für Schlagzeilen sorgte.

Am 2. Mai 1931 wird ein gewisser Kurt Erich Tetzner zur Todesstrafe verurteilt und mit der Guillotine hingerichtet, weil er zuvor mit äusserstes Brutalität einen Wanderburschen umbrachte, die Leiche zerstückelte und in seinem Auto verbrannte, um seinen eigenen Tod vorzutäuschen, den seine Komplizin und Frau unter (allerdings geheuchelten) Tränen auch bestätigte, als sie den falschen Leichnam identifizierte in der Hoffnung, eine tüchtige Witwenrente einzustreichen. Doch der Plan ging nicht auf. Nur wenige Tage nach dem Mord beginnt die Polizei zu ermitteln und verhaftet, nach der Obduktion der Leiche, Tetzner und seine Frau. Dass Nabokov der Fall bekannt war, geht aus dem Roman deutlich hervor, als er seinen Protagonisten sagen lässt: "Da war zum Beispiel ein Kerl, der seinen Wagen mit der Leiche seines Opfers darin verbrannte, nachdem er ihm vorsorglich ein Stück von den Füssen abgesägt hatte, da der Leichnam offenbar eine grössere Schuhnummer aufwies als der Autobesitzer."

Der das sagt, heisst Hermann Karlowitsch und hat ein ganz ähnliches Verbrechen begangen: Als er auf den Vagabunden Felix trifft, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten erscheint, plant auch er an seinem Doppelgänger einen vorgetäuschten Selbstmord, um die Versicherung zu betrügen. Nach erfolgter Tat, zieht er sich nach Pignan in ein Hotel zurück, um dort die Ankunft seiner Frau abzuwarten und seinen Triumph auszukosten, ein perfektes Verbrechen ausgeführt zu haben. Täglich wartet er darauf den Nachricht seiner Ermordung in der Zeitung zu lesen. Doch bald muss er erfahren, dass er als Täter entlarvt ist, nur die Identität der Leiche sei noch ungeklärt, was Karlowitsch in eine grosse Wut und Raserei bringt, weil mit keinem Wort die verblüffende Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Toten erwähnt wird. Ausgerechnet jener Aspekt, auf den er sich am meisten einbildet, bleibt vollkommen unerkannt, weshalb er beschliesst, ein Buch zu schreiben, das sein Genie und sein "Meisterstück" vor Augen führen soll.

Es handelt sich um das Buch, das wir lesen, und das alle Ereignisse aus der unzuverlässigen Sicht - denn sein Gedächtnis folgt "eigenen Launen und Regeln" - von Karlowitsch schildert, bis zum Entschluss, dieses Buch zu verfassen. Lange bleibt für den Leser nämlich unklar, dass er das Geständnis eines Mörders liest und den Vorbereitungen zu einem perfiden Verbrechen beiwohnt. Karlowitsch redet zu Beginn um den heissen Brei herum, schweift ständig ab, verwirrt sich in Nebensachen, schreibt unkonzentriert, unterbricht seine Rede mehrmals und ist noch ganz aufgebracht über den Umstand, dass sein "Meisterstück" nicht als solches erkannt wurde: "Meine Hände zittern, ich möchte kreischen oder irgend etwas mit einem Knall zerschmettern ..." So steht es auf den ersten paar Seiten, ohne dass man dort schon um die Gründe weiss. Die Interjektion erfolgt vollkommen unvermittelt. Und erst allmählich, im Verlauf der Erzählung zeichnen sich die Beweggründe des Protagonisten ab, bis er schliesslich zur Tat schreitet.

Das Buch endet mit dem Moment als die Niederschrift mit dem zehnten Kapitel eigentlich beendet ist und Karlowitsch nach einem geeigneten Titel für sein Werk sucht, das er gewissermassen als Ersatzhandlung für sein nicht gewürdigtes Verbrechen verfasste, um wenigstens in der Literatur sein kriminelles Genie zu beweisen und zum verdienten Ruhm zu gelangen. Hier spielt sich nochmals seine Hybris auf, wenn er - mit Seitenhieb auf "den alten Dosto" (gemeint ist Dostojewski und sein Roman Schuld und Sühne) - schreibt: "Ein Künstler empfindet keine Gewissenbisse, selbst wenn sein Werk nicht verstanden, nicht anerkannt wird." Doch ein zweites Mal werden seine Illusionen herb enttäuscht, als er bei der Durchsicht seines Manuskripts bemerkt, dass ihm ein kapitaler Fehler unterlaufen ist, der sein "gesamtes Meisterwerk" zunichte macht: Er hat Felix' Stock mit seinem eingravierten Namen im Auto vergessen, so dass auch die Identität des Opfers keineswegs verborgen bleibt. Erschüttert über die eigene Stümperei schreibt Karlowitsch "mit einem stumpfen, vor Schmerz aufschreienden Bleistift" den Titel "Verzweiflung" auf sein Manuskript.

Der Roman beschreibt somit eine sukzessive Ent-Täuschung, die Karlowitsch durchläuft, nachdem er  lange Zeit in reiner Selbsttäuschung lebte: Weder ist er der geniale Mörder noch der grosse Literat, vielmehr entpuppt er sich als narzisstische Figur mit einem pathologischen Geltungsdrang, der ihn nicht nur über die eigene Unfähigkeit hinwegtäuscht, sondern offenbar auch eine gestörte Wirklichkeitswahrnehmung verursacht. (Angedeutet wird durch Karlowitsch' Vermögen zur "Spaltung" und "Dissoziation" sogar eine Form von Schizophrenie.) Zumindest geht aus dem Brief eines befreundeten Künstlers hervor, dass die physiognomische Ähnlichkeit mit Felix keine allzu auffällige oder am Ende überhaupt keine war. Selbst dieses entscheidende Detail im vermeintlich genialen Plan beruhte, so drängt der Text zur Annahme, auf purer Einbildung. 

Ganz zum Schluss wird die Pension, in der sich Karlowitsch verschanzte, von der Polizei umstellt. In einem letzten Anflug von Megalomanie imaginiert er sich, wie er als grosser Schauspieler vor die Türe tritt, der gerade eine Flucht inszeniere, und deshalb alle Schaulustigen überzeugen kann, die Polizei in Schach zu halten. - Man darf darauf wetten, dass auch dieses Szenario wie eine Seifenblase zerplatzen wird.

Freitag, 27. September 2024

Édouard Levé: Selbstmord (2008)

Das schmale Büchlein ist in der zweiten Person Singular in Form eines Abschiedsbriefs oder Nachrufs direkt an den Selbstmörder adressiert. Es handelt sich um eine Art Erinnerungsstrom, in dem Reminiszenzen an das Leben und den Charakter des Toten sich mit der Frage vermischen, weshalb er sich das Leben genommen hat. Der Autor findet eine klare Antwort ebenso wenig wie er eine systematische Rekonstruktion vornimmt. Was er bietet, sind einzelne Splitter, die oft ohne näheren Zusammenhang lose nacheinander folgen. Das sei die einzige Möglichkeit, dem toten Freund gerecht zu werden, wie es an einer Stelle heisst: "Dein Leben in einer zusammenhängenden Ordnung zu beschreiben, wäre absurd. Die Gelegenheit macht die Erinnerung an dich. Mein Hirn lässt dich so zufällig in Details auferstehen, wie man Murmeln aus einem Beutel fischt."

So entsteht das Porträt eines introvertierten, wortkargen, grüblerischen und zurückgezogenen Menschen, der aber doch - und es lässt sich vermuten: mehr nolens als volens - an dem gesellschaftlichen Leben teilnimmt, sich kreativ als Musiker betätigt, ein Wirtschaftsstudium beginnt, Tennis spielt, Freunde hat und sich sogar verheiratet, bevor er sich eines Tages entschliesst, einen Gewehrlauf in den Mund zu stecken und abzudrücken. Auf dem Küchentisch hinterliess er einen Comic, dessen aufgeschlagene Seite mutmasslich eine Abschiedsbotschaft enthielt. Doch seine Frau stösst das Heft aus Panik versehentlich um, als sie den Leichnam entdeckt. Seither versucht der Vater krampfhaft herauszufinden, was sein Sohn mitteilen wollte; er füllt Aktenordner mit Indizien und Hinweisen, natürlich vergeblich. Auf diesem Weg lässt sich keinen Sinn in eine Tat bringen, die radikal unbegreiflich ist.

Levé verzichtet deshalb darauf, die Sinnfrage explizit zu stellen. Zwischen den Zeilen jedoch deutet er an, was seinen Freund bewogen haben könnte, sich vorzeitig aus der Welt zu stehlen. So geht aus dem Text hervor, dass der Freund depressiv war und einen geringen Lebenswillen hatte. Für ihn bedeutete seine Existenz ein Rollenspiel, das er nur zum Schein aufrecht erhielt. Er kam mit einer offenen Zukunft schlecht zu recht, er träumte von einem bis zum letzten Tag durchgeplanten Terminkalender. Eindrücklich belegt diese mangelnde Lebensfähigkeit eine der stärksten Passagen des Essays: die Beschreibung seiner Inklination zu Obdachlosen. Hier sah der Freund ein Ideal erfüllt, dem er innerlich gerne gefolgt wäre: die Tendenz zur Verwahrlosung, die Befreiung von allen gesellschaftlichen Zwängen und Pflichten, sich von "allen Dingen, allen Menschen und von der Zeit" zu lösen. Ein Selbstmord "in Zeitlupe". Der Freund wählte schliesslich den rascheren Exitus.

Der Essay ist ohne Pathos und Klage verfasst, trotzdem lässt es nicht unberührt, wie hier Levé mit grossem Einfühlungsvermögen vorgeht und erst postum, als es längst zu spät ist, die Ausweglosigkeit seines Freundes erkennt. Die direkte Anrede an den Toten evoziert manchmal eine gewisse Rührseligkeit, die an manchen Stellen, wo der Text nicht über Plattitüden hinausgelangt, an Kitsch grenzen könnte, wenn da nicht ein Umstand wäre, der ihm eine existentielle Wucht verleiht. Levé hat kurz nach der Niederschrift des Textes mit 42 Jahren selbst Suizid verübt. Offenbar steckt in der Schilderung des Freundes viel vom Autor selbst und er hat ein Teil seiner eigenen Befindlichkeit auf ihn projiziert. Vielleicht deshalb besass er eine besondere Sensitivität für das Bewusstsein eines Selbstmörders, weil er sich selbst zu diesem Schritt prädestiniert fühlte. Somit hinterlässt Levé ein doppeltes Vermächtnis: dasjenige seines Freundes und sein eigenes.

Mittwoch, 25. September 2024

Jerzy Kosinski: Der bemalte Vogel (1965)

Ein Buch von unglaublicher Brutalität. Geschildert wird es aus der Perspektive eines kleinen polnischen Jungen, der bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von seinen Eltern in fremde Obhut gegeben wird, in der Hoffnung ihn dadurch vor dem Schlimmsten zu bewahren. Doch was der Knabe in den Dörfern, in denen er jeweils Unterschlupf findet, erlebt, steht den Schrecken und Grausamkeiten in den Konzentrationslagern in nichts nach. Aufgrund seiner schwarzen Haare rasch als "Teufel" bzw. "Zigeunervampir" verschrien und ausgegrenzt, zeigt sich die Bevölkerung wenig gewillt, ihn bei sich aufzunehmen, aus Angst vor Repressionen von der deutschen Besatzung, wenn sich herausstellen würde, dass sie einen "jüdischen Zigeunerjungen" beschützen. Er gelangt deshalb stets nur zu Aussenseitern und prekären Randgestalten in einer ohnehin rückständigen, abergläubischen und noch vollkommen verrohten Gesellschaft, in der Mord und Totschlag zur Tagesordnung gehört.

Zu Beginn ist der stets namenlose Ich-Erzähler sechs Jahre alt, und wir begleiten ihn von Station zu Station bis ans Ende des Krieges. Der Roman schreitet so episodenhaft voran. Jedes Kapitel ist einer anderen Unterkunft gewidmet, wo der Junge erneut entweder zum Zeugen oder gar selbst zum Opfer von Gewaltverbrechen wird, weshalb er sich genötigt sieht, seinen Standort rasch wieder zu wechseln, oft ein Bild der Verwüstung hinter sich lassend. Ein abergläubisches Weib gräbt ihn bis zum Kopf im Boden ein und lässt ihn über Tage dort stecken, während ihn schon die Raben belagern und piesacken, weil sie dadurch eine Seuche abzuwenden hofft. Später muss er zusehen, wie ein betrunkener Bauer seinem Knecht aus Eifersucht mit einem Löffel die Augäpfel aussticht und sie nachher ,zerquetscht. Auch üble Schändungen und Vergewaltigungen bis hin zu Tötungen spielen sich mehrfach in unmittelbarer Gegenwart des Kindes ab, so dass Gewaltsamkeit und Überlebenskampf zu seinen frühesten Prägungen gehören.

Der Junge lernt, dass menschliches Leben letztlich nichts bedeutet, keinen Stellenwert besitzt. Entsprechend emotionslos werden die brutalen Vorgänge oft geschildert und in allen entsetzlichen Details ausgemalt. Dabei wird die kindliche Perspektive nicht immer konsequent durchgehalten: Manchmal scheint sie allzu naiv, dann wieder ist der erwachsende Autor dahinter erkennbar. Zudem ist den Szenerien ein gewisser sadistischer Voyeurismus nicht abzusprechen. Der menschliche Körper scheint lediglich eine träge Masse zu sein, die nach Belieben zerhackt, zermalmt, zerquetscht, verstümmelt oder von Ratten zerfressen werden kann. Organisches Verschleissmaterial. Lediglich bei der Bauerntocher Ewka, die ihn in ihre Liebeskünste einführt, erlebt er kurze Zeit so etwas wie menschliche Nähe. Doch auch diese Illusion zerbricht, als er eines Abends entdeckt, wie sie es gezwungenermassen, aber leidenschaftlich mit einem Ziegenbock treibt. Den Kulminationspunkt erreicht der widerwärtige Reigen, als der Junge, nachdem er durch eine Ungeschicklichkeit das Hochamt in der Kirche aufstörte, von der wütenden Meute in die Fäkalgrube getaucht wird und dabei seine Stimme verliert.

Gegen Ende des Krieges kommt der Junge bei einer Truppe sowjetischer Soldaten unter und freundet sich insbesondere mit Gavrila an, der ihm Lesen und Schreiben beibringt und ihn mit kommunistischen Lehren indoktriniert, so dass auch der mittlerweile 12jährige Junge zu einem glühenden Verehrer Stalins wird. Hier sieht er einen rettenden Ausgang aus dem primitiven Volk, bezahlt die erhoffte Freiheit aber mit einer ideologischen Gefangenschaft. Wie der Erzähler einmal hellsichtig bemerkt, kennt auch der Kommunismus seine Ausgrenzungspolitik, wenngleich sie nicht von der Ethnie, sondern von der sozialen Klasse abhängt. Aus diesem Grund möchte der Junge nicht zurück zu seinen besser gestellten Eltern, als er nach dem Krieg ins Kinderheim gesteckt wird. Dort reproduziert sich die Brutalität der Kriegserfahrung unter den traumatisierten Kindern; auch sie verhalten sich nach dem Prinzip von homo homini lupus. Den einzigen Moment wahrer Freiheit erlebt der Junge lediglich bei einer Mutprobe, wenn er sich bei einem herannahenden Zug aufs Geleise legt, so dass die Bahnwagen über ihn hinwegdonnern können. In diesem Moment "zählte nichts ausser der einfachen Tatsache, am Leben zu sein". Ein elementares Erlebnis.

Der Titel leitet sich ab von einer Episode relativ zu Beginn des Romans. Lekh, ein Vogelfänger, macht sich einen Spass daraus, die von ihm eingefangenen Vögel farbig anzumalen und wieder in die Freiheit zu entlassen, wo sie zu ihren Artengenossen fliegen, von diesen aber nicht mehr erkannt und deshalb zu Tode gepickt werden, bis sie leblos vom Himmel fallen. Allegorisch spiegelt sich darin auch Schicksal des Jungen, der aufgrund seines fremden, zigeunerhaften Aussehens von seinen Mitmenschen nicht akzeptiert und mitunter sogar drangsaliert wird, so dass er ständig um sein Leben fürchten muss. Mehr noch lässt sich darin sinnbildlich die Katastrophe des Genozids schlechtweg erkennen, die eine ganze Bevölkerungsgruppe in den Tod führte, weil sie nicht als gleichwertig anerkannt worden ist.

Kosinskis Roman wurde rasch als Autobiographie missverstanden, wogegen der Autor in dem Nachwort der Wiederauflage von 1976 Stellung bezieht und betont, dass es sich nicht um reale Erlebnisse handelt, dass er vielmehr eine "erfundene Welt" erschaffen wollte, ein "mythisches Land", eine "anders-weltliche Bosch-hafte Landschaft", die aber sinnbildlich eine Ahnung von der schrecklichen Wirklichkeit vermitteln wolle. Der Vergleich zu den apokalyptischen Gemälden eines Hieronymus Bosch ist treffend, was die Drastik der Darstellung angeht, im Unterschied zum niederländischen Maler fehlen bei Kosinski jedoch die phantastischen Elemente. Die von ihm geschilderten Gräuel sind nicht dämonischer, sondern rein menschlicher Natur, wofür es von verschiedenen Seiten Kritik hagelte. Seine osteuropäischen Landsleute sahen in dem Buch eine üble Verunglimpfung und hetzten gegen den aus ihrer Sicht westlich degenerierten Autor, die amerikanischen Medien wiederum hielten ihm vor, die historische Kriegssituation für seine gewaltpornographischen Phantasien zu missbrauchen. 

Donnerstag, 12. September 2024

Carl Laszlo: Ferien am Waldsee (1955)

Carl Laszlo liess sich sein Schicksal nie anmerken. In Basel war der gebürtige Ungar eine markante Erscheinung. Psychoanalytiker, Kunsthändler mit hedonistischen Zügen, stets eine Zigarre im Mundwinkel, ein gutes Glas Wein in der Hand und auch anderen Exzessen nicht abhold. Mit dem ebenfalls in Basel wohnhaften Albert Hofmann, dem Entdecker der LSD-Substanz, war er gut befreundet. Ausserdem unterhielt er rege Kontakte zur amerikanischen Kunst- und Literaturszene, zu Beat-Poeten und Popart-Künstlern, die er in seinem Panderma-Verlag oder in seiner Zeitschrift Radar portierte. Dass er als junger Mann mehrere Konzentrationslager (Auschwitz, Sachsenhausen, Buchenwald) durch- und überlebte, weiss man nur, weil er darüber ein Buch geschrieben hat.

Ein Opfer des Holocaust wollte er nie sein. Er sah sich vielmehr als Sieger, weil er nicht nur die Schrecken des KZ überstanden hat, sondern sich davon auch nicht traumatisieren liess. Es erfüllt ihn sichtlich mit Stolz, dass er seinem Schicksal die Stirn geboten und dabei nicht eingenickt ist. In die allgemeine Opferhaltung will er deshalb nicht einstimmen, da er sich als Überlebender nicht als Leidtragender betrachtet. Trotzdem hat er ein Buch über seine Lagererfahrung geschrieben, das sich allerdings radikal von der üblichen Holocaust-Literatur unterscheidet. Das liegt vor allem an der schonungslosen Darstellung und dem Verzicht auf jegliche Form der Klage und Larmoyanz. Laszlo schildert den Gang in die Hölle mit der Unerschrockenheit eines Dante - mit dem einzigen Unterschied, das hier eine reale Hölle beschrieben wird.

Ein Beispiel für den lakonischen Ton, mit dem die Ungeheuerlichkeit in Worte gefasst wird, ist dieser Satz: "Die Mittagssonne strahlte, es gab einen französischen Häftling weniger und eine namenlose Leiche mehr." Das wirkt in seiner unbeteiligten, geradezu emotionslosen Verknappung heftiger als die grellste Ausmalung aller Gräuel. Laszlo verzichtet darauf, das Unbeschreibliche in eine drastische Sprache zu kleiden, auch Pathos ist ihm fremd. Stattdessen neigt er zu Ironie und Sarkasmus, zu harten Schnitten, die deutlich machen sollen, wie - nicht weshalb: die Sinnfrage erweist sich selbst als sinnlos - das Unmenschliche im Alltag stattfinden konnte: "alles war still, man hörte nur das Knistern von Stroh und das schwere Atmen einiger Sterbender. Eine friedliche Stimmung, wie in einem Friedhof, verbreitete sich".

Diese Schnitt-Technik erfährt im Kapitel "Romeo und Julia" ihren Kulminationspunkt. Shakespeare-Zitate werden bruchlos einer Massenvernichtungsszene gegenübergestellt. Das erzählende Ich sitzt mit seinem Buch am Boden des Lagerabortes und registriert, während es liest, wie Mitinsassen in die Gaskammern ge- und die Leichen schliesslich ins Krematorium überführt werden. Der rauchende Schlott des Krematoriums ragt permanent über dem Geschehen, er ragt quasi als Mahnmal auch aus dem Buch heraus. Auch da bleibt die Erzählstimme beim bitteren Sarkasmus. Über den Tod eines "Zigeunermädchens" heisst es: "Sie hat wie Millionen andere kein Grab, winzige Teilchen ihrer Asche atmen wir täglich mit der Luft ein."

Wie schon erwähnt: Laszlo meidet die Sinnfrage, weil sie seiner Ansicht nach falsch gestellt ist: "Es kann ja nicht alles sinnlos und umsonst sein, etwas muss es ja bedeuten können, was wir hier erleben, irgendeinen Sinn wird dieser grosse Untergang in sich bergen", reflektiert das erzählende Ich einmal, doch sein Alter Ego mit dem sprechenden Namen Alieno erwidert resigniert (oder eher abgeklärt?): "Wie schön wäre es, wenn es einen Sinn gäbe." Für Laszlo ist deshalb auch klar, dass kein Buch - und sei es noch so authentisch und präzise - die ganze Wahrheit über den Holocaust darstellen könnte, dazu entziehen sich die Vorgänge in den KZ zu sehr jeglicher Vorstellungskraft. Das objektiv "richtige" Buch, das darüber geschrieben werden könnte, wäre eben so sinnlos wie die erlebte Realität. Sein einziger Inhalt: "Leichen, Leichen, Leichen, Leichen ..."

Wie erklärt sich aber der Titel: Ferien am Waldsee? Man könnte das vorschnell für einen Zynismus des Autors halten, tatsächlich ist es ein, allerdings ganz anders gearteter, Zynismus der Nazis, wie Laszlo gleich einleitend erklärt: Angehörige erhielten gelegentlich vorgedruckte Postkarten mit einer knappen nichtssagenden Botschaft und eigenhändiger Unterschrift von deportierten Familienmitgliedern; als Aufenthaltsort wies der Stempel nicht das KZ aus, sondern - als perfides Täuschungsmanöver - den fingierten Ort: "am Waldsee".






Montag, 2. September 2024

Andy Warhol: Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück (1975)

Der Titel ist natürlich mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Eine Philosophie im eigentlichen Sinn ist bei der Popart-Ikone nicht zu erwarten. Vielmehr versammelt das auf dem Höhepunkt seiner Karriere entstandene Buch - 1962 gründete Warhol seine Factory und er kreierte seine berühmte Siebdruck-Serie der Campell's Soup Cans - eine Fülle von Ansichten und Lebensweisheiten aus der New Yorker Party- und Glamour-Szene über Schönheit, Sex, Geld, Kleider, Kunst, Ruhm, Erfolg und was die High Society sonst noch so beschäftigt. Wie auch in seinen Kunstwerken so orientiert sich Warhol auch in seinen Maximen und Reflexionen an den gesellschaftlichen Oberflächenphänomenen, um sie subtil zu subvertieren. Dabei sind seine Ansichten zuweilen erhellend, zuweilen belanglos, immer aber unkonventionell, mitunter provokant.

Ein paar willkürlich ausgewählte Kostproben: "Der höchste Preis, den du für die Liebe zahlen musst, ist, dass du jemanden um dich hast und nicht für dich allein sein kannst, was selbstverständlich besser ist." "Ein biederes Erscheinungsbild finde ich am besten. Wenn ich nicht so 'schlecht' aussehen wollte, dann würde ich 'bieder' aussehen wollen. Das fände ich auch gut." "Bei mir geht's ran, wenn's abgeht, ab ins Bett und Schluss. Das ist der grosse Moment, auf den ich immer warte." "Ich mag Geld an der Wand. Nehmen wir an, du wolltest ein Bild für 200 000 Dollar kaufen. Ich meine, dass du das Geld an eine Schnur binden und an die Wand hängen solltest." "Ein Künstler ist jemand, der Sachen produziert, die keiner haben muss." "In deinem Schrank sollte alles mit einem Verfallsdatum versehen sein, so wie bei Milch und Butter und Illustrierten und Zeitungen, und wenn das Verfallsdatum überschritten ist, sollte man das Ding wegwerfen."

Die im Titel erwähnten Buchstaben A und B suggerieren keine enzyklopädische Ordnung, vielmehr stehen sie für die beiden Gesprächspartner A und B, wobei letzterer eine Art sokratische Hebammenfigur darstellt, die A (i.e. Andy) seine Alltagsphilosopheme entlockt. Es handelt sich also um eine platonischer Dialog im Popart-Gewand, der zuweilen Nonsens-Dialoge vorwegnimmt, wie man sie später aus Tarantino-Filmen kennt, wenn sich zwei Figuren in Nebensächlichkeiten verbeissen, wie hier etwa anhand der Frage nach der Körpergrösse von Ursula Andress: Wo A behauptet sie sei ein Zwerg, bestreitet das B vehement, wobei diverse spitzfindige Argumente aus dem Köcher gezogen werden (z.B. die mutmassliche Höhe der Absätze unter den Schlaghosen), die jedem antiken Sophisten Freude gemacht hätten.

Höhepunkt des 'philosophischen' Rundumschlags sind zweifellos die Beschreibung von Warhols Manie, alles Erdenkliche die Toilette hinunterzuspülen bei gleichzeitiger Angstlust, dass es die Toilette verstopfen und wieder zum Vorschein kommen könne, sowie das Bekenntnis seines Unterhosen-Fetisch. Der Unterhosenkauf besitzt für Warhol eine nachgerade existenzielle Komponente: "Ich meine, ich würde lieber zusehen, wie einer seine Unterhosen kauft, als dass ich ein Buch lesen wollte, das er geschrieben hat." Seine Menschenkenntnis leitet Warhol auch hier vom Konsumgut ab, wobei es sich bei der Unterhose paradoxerweise um Intimwäsche und Warenartikel zugleich handelt, das Innere und Äussere also quasi dialektisch vermittelt.

Als wahrhaft philosophisch erweisen sich Warhols Reflexionen schliesslich dort, wo er ein Alltags-Mysterium thematisiert, das bis heute wohl alle auch regelmässig beschäftigt, auf das er aber ebenso wenig eine befriedigende Antwort finden: Weshalb verschwinden beim Waschen ständig Socken in der Maschine? Und wohin verschwinden sie? "Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich an die abnehmende Zahl glauben. Das ist einfach nicht zu glauben!" Theoretisch zu ergründen offenbar auch nicht. Es bleibt ein Stück unbewältigte Metaphysik.