Mittwoch, 25. September 2024

Jerzy Kosinski: Der bemalte Vogel (1965)

Ein Buch von unglaublicher Brutalität. Geschildert wird es aus der Perspektive eines kleinen polnischen Jungen, der bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von seinen Eltern in fremde Obhut gegeben wird, in der Hoffnung ihn dadurch vor dem Schlimmsten zu bewahren. Doch was der Knabe in den Dörfern, in denen er jeweils Unterschlupf findet, erlebt, steht den Schrecken und Grausamkeiten in den Konzentrationslagern in nichts nach. Aufgrund seiner schwarzen Haare rasch als "Teufel" bzw. "Zigeunervampir" verschrien und ausgegrenzt, zeigt sich die Bevölkerung wenig gewillt, ihn bei sich aufzunehmen, aus Angst vor Repressionen von der deutschen Besatzung, wenn sich herausstellen würde, dass sie einen "jüdischen Zigeunerjungen" beschützen. Er gelangt deshalb stets nur zu Aussenseitern und prekären Randgestalten in einer ohnehin rückständigen, abergläubischen und noch vollkommen verrohten Gesellschaft, in der Mord und Totschlag zur Tagesordnung gehört.

Zu Beginn ist der stets namenlose Ich-Erzähler sechs Jahre alt, und wir begleiten ihn von Station zu Station bis ans Ende des Krieges. Der Roman schreitet so episodenhaft voran. Jedes Kapitel ist einer anderen Unterkunft gewidmet, wo der Junge erneut entweder zum Zeugen oder gar selbst zum Opfer von Gewaltverbrechen wird, weshalb er sich genötigt sieht, seinen Standort rasch wieder zu wechseln, oft ein Bild der Verwüstung hinter sich lassend. Ein abergläubisches Weib gräbt ihn bis zum Kopf im Boden ein und lässt ihn über Tage dort stecken, während ihn schon die Raben belagern und piesacken, weil sie dadurch eine Seuche abzuwenden hofft. Später muss er zusehen, wie ein betrunkener Bauer seinem Knecht aus Eifersucht mit einem Löffel die Augäpfel aussticht und sie nachher ,zerquetscht. Auch üble Schändungen und Vergewaltigungen bis hin zu Tötungen spielen sich mehrfach in unmittelbarer Gegenwart des Kindes ab, so dass Gewaltsamkeit und Überlebenskampf zu seinen frühesten Prägungen gehören.

Der Junge lernt, dass menschliches Leben letztlich nichts bedeutet, keinen Stellenwert besitzt. Entsprechend emotionslos werden die brutalen Vorgänge oft geschildert und in allen entsetzlichen Details ausgemalt. Dabei wird die kindliche Perspektive nicht immer konsequent durchgehalten: Manchmal scheint sie allzu naiv, dann wieder ist der erwachsende Autor dahinter erkennbar. Zudem ist den Szenerien ein gewisser sadistischer Voyeurismus nicht abzusprechen. Der menschliche Körper scheint lediglich eine träge Masse zu sein, die nach Belieben zerhackt, zermalmt, zerquetscht, verstümmelt oder von Ratten zerfressen werden kann. Organisches Verschleissmaterial. Lediglich bei der Bauerntocher Ewka, die ihn in ihre Liebeskünste einführt, erlebt er kurze Zeit so etwas wie menschliche Nähe. Doch auch diese Illusion zerbricht, als er eines Abends entdeckt, wie sie es gezwungenermassen, aber leidenschaftlich mit einem Ziegenbock treibt. Den Kulminationspunkt erreicht der widerwärtige Reigen, als der Junge, nachdem er durch eine Ungeschicklichkeit das Hochamt in der Kirche aufstörte, von der wütenden Meute in die Fäkalgrube getaucht wird und dabei seine Stimme verliert.

Gegen Ende des Krieges kommt der Junge bei einer Truppe sowjetischer Soldaten unter und freundet sich insbesondere mit Gavrila an, der ihm Lesen und Schreiben beibringt und ihn mit kommunistischen Lehren indoktriniert, so dass auch der mittlerweile 12jährige Junge zu einem glühenden Verehrer Stalins wird. Hier sieht er einen rettenden Ausgang aus dem primitiven Volk, bezahlt die erhoffte Freiheit aber mit einer ideologischen Gefangenschaft. Wie der Erzähler einmal hellsichtig bemerkt, kennt auch der Kommunismus seine Ausgrenzungspolitik, wenngleich sie nicht von der Ethnie, sondern von der sozialen Klasse abhängt. Aus diesem Grund möchte der Junge nicht zurück zu seinen besser gestellten Eltern, als er nach dem Krieg ins Kinderheim gesteckt wird. Dort reproduziert sich die Brutalität der Kriegserfahrung unter den traumatisierten Kindern; auch sie verhalten sich nach dem Prinzip von homo homini lupus. Den einzigen Moment wahrer Freiheit erlebt der Junge lediglich bei einer Mutprobe, wenn er sich bei einem herannahenden Zug aufs Geleise legt, so dass die Bahnwagen über ihn hinwegdonnern können. In diesem Moment "zählte nichts ausser der einfachen Tatsache, am Leben zu sein". Ein elementares Erlebnis.

Der Titel leitet sich ab von einer Episode relativ zu Beginn des Romans. Lekh, ein Vogelfänger, macht sich einen Spass daraus, die von ihm eingefangenen Vögel farbig anzumalen und wieder in die Freiheit zu entlassen, wo sie zu ihren Artengenossen fliegen, von diesen aber nicht mehr erkannt und deshalb zu Tode gepickt werden, bis sie leblos vom Himmel fallen. Allegorisch spiegelt sich darin auch Schicksal des Jungen, der aufgrund seines fremden, zigeunerhaften Aussehens von seinen Mitmenschen nicht akzeptiert und mitunter sogar drangsaliert wird, so dass er ständig um sein Leben fürchten muss. Mehr noch lässt sich darin sinnbildlich die Katastrophe des Genozids schlechtweg erkennen, die eine ganze Bevölkerungsgruppe in den Tod führte, weil sie nicht als gleichwertig anerkannt worden ist.

Kosinskis Roman wurde rasch als Autobiographie missverstanden, wogegen der Autor in dem Nachwort der Wiederauflage von 1976 Stellung bezieht und betont, dass es sich nicht um reale Erlebnisse handelt, dass er vielmehr eine "erfundene Welt" erschaffen wollte, ein "mythisches Land", eine "anders-weltliche Bosch-hafte Landschaft", die aber sinnbildlich eine Ahnung von der schrecklichen Wirklichkeit vermitteln wolle. Der Vergleich zu den apokalyptischen Gemälden eines Hieronymus Bosch ist treffend, was die Drastik der Darstellung angeht, im Unterschied zum niederländischen Maler fehlen bei Kosinski jedoch die phantastischen Elemente. Die von ihm geschilderten Gräuel sind nicht dämonischer, sondern rein menschlicher Natur, wofür es von verschiedenen Seiten Kritik hagelte. Seine osteuropäischen Landsleute sahen in dem Buch eine üble Verunglimpfung und hetzten gegen den aus ihrer Sicht westlich degenerierten Autor, die amerikanischen Medien wiederum hielten ihm vor, die historische Kriegssituation für seine gewaltpornographischen Phantasien zu missbrauchen. 

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