Mittwoch, 21. Juni 2017

Luigi Malerba: Der Protagonist (1973)

Catull besang ihn in seinen mentula carmina, Goethe nannte ihn „Meister Iste“ und bei Gerhard Zwerenz taucht der „Kleine Herr“ sogar im Buchtitel auf; aber dass er gleich, wie bei Luigi Malerba, zum Protagonisten eines ganzen Romans erkoren wird, dürfte wohl eine einmalige Angelegenheit sein. Selbst der "Penismonolog" von Blumfeld kann das nicht toppen. Auf die pennälerhafte Idee muss man auch erst einmal kommen, ein membrum virile nicht nur zum Hauptdarsteller einer Geschichte, sondern erst noch zum Erzähler zu wählen.

Der Protagonist, von dem hier die Rede ist, gehört zum „Boss“ - so nennt er seinen stolzen Besitzer, dessen sexuelle Abenteuer er kommentiert und berichtet. Der Boss ist Funkamateur und lässt ab und zu schon mal den Protagonisten als Antenne über den Dächern Roms ausfahren, derweil vorbeieilende Nonnen entstetzt das Kreuz schlagen müssen. Der Boss funkt, um junge „Fräulein“ zu finden, die er in seine Wohnung (die „Höhle“) locken will, um dort in ihren „Garten“ zu dringen. Mit Elisabella hat er schließlich Glück, sie lässt sich auf ein solches Schäferstündchen ein und wartet nur darauf, dass die geladene "Pistole" des Bosses endlich, wie er ständig in Aussicht stellt, zum "Schuss" gelangt.

Doch da zeigt sich die Misere hinter dem ostentativen Geprotze des Bosses: Er schafft es nicht, den Protagonisten zu seiner zugedachten Rolle zu verhelfen. Dieser rühmt sich zwar, nicht unbescheiden, als das aristotelische „Bewegende Organon“ zu gelten - doch beim Boss bewegt sich leider gar nichts, zumindest nicht in Gegenwart von Elisabella. Der Grund liegt, wie sich allmählich zeigt, in in den seltsam abnormen, ja abartigen Neigungen des Bosses. Dass es ihm mitunter gefällt, den Protagonisten in einen warmen Heizkörper zu stecken, mag noch angehen. Dass er dasselbe Verlangen aber auch bei öffentlichen Reiterdenkmälern, einer Mumie und – horribile dictu – einem toten Walfisch verspürt, ist an Perversion kaum zu überbieten.

Malerba scheint mit seinem dritten Roman tatsächlich die Grenzen des guten Geschmacks mehr als nur ausloten zu wollen. Man kann den Roman auch als Neuinterpretation der menippischen Satire verstehen, welche durch einer Verschiebung bzw. Verfremdung der Perspektive eine groteske Realität entwirft. Die Perspektive des Protagonisten ist naturgemäß diejenige von unten. Sie nimmt die angebliche Gewohnheit vieler Männer auf, mit ihrem besten Stück zu sprechen, es zu individualisieren und Namen zu geben. Hier ergreift dieser treue Begleiter tatsächlich einmal das Wort und liefert damit das Porträt eines Mannes, der nicht mit dem Kopf, sondern eben mit seinem Unterleib denkt. Zugleich wird aber auch deutlich, wer oft hinter einem solchen Protagonisten steckt: ein veritabler Schlappschwanz nämlich.


Mittwoch, 14. Juni 2017

Harry Mathews: Zigaretten (1987)

Der diesen Januar mit 86 Jahren verstorbene Harry Mathews war als einziger amerikanischer Schriftsteller Mitglied der Gruppe OULIPO, dem Ouvroir de la Litterature Potentielle, zu der auch Oskar Pastior, Italo Calvino und Georges Perec gehören. Mit Perec war Mathews eng befreundet, sein Roman The Sinking of the Odradek Stadium wurde von ihm auf Französisch übersetzt. Ein schwieriges, fast unmögliches Unterfangen, zumal die Hälfte dieses Briefromans in der Schreibweise einer Legasthenikerin verfasst ist. Mitunter wohl ein Grund, weshalb bis heute eine deutsche Übersetzung fehlt. Den Roman Zigaretten widmet Mathews „In Gedenken an Georges Perec“, was angesichts der Tatsache, dass Perec an Lungenkrebs gestorben ist, auf einen seltsam sarkastischen Humor zwischen den beiden schließen lässt.

Im Vergleich zu früheren Werken ist dieser Roman deutlich weniger experimentell ausgefallen, wenngleich er der Methode von OULIPO, die Kreativität durch formale Regeln und formale Restriktionen herauszufordern, prinzipiell verpflichtet ist. In diesem Fall spielt sich der Formalismus in der strengen Kapitelgliederung ab, die je ein Personenpaar behandelt. Das Inhaltsverzeichnis liest sich wie eine willkürliche Namensliste. Die erste Hälfte der insgesamt 15 Kaptiel wird dabei aus männlicher Sicht, die zweite Hälfte aus weiblicher Sicht geschildert, wobei jeweils die letzten drei Kapitel je zwei Männer resp. zwei Frauen im Zentrum stehen, es sich ansonsten aber um gemischte Paare handelt. Diese strenge Symmetrie (und auch darin liegt ein oulipischer Trick) wird indes durch ein Doppelkapitel aufgebrochen: das Kapitel über „Owen und Phoebe“ ist unterteilt in römisch I und II. Wohl nicht zufällig fällt in diesem aus der Reihe tanzenden Kapitel das einzige Mal im gesamten Buch der Titelbegriff „Zigaretten“ (und das auch gleich doppelt).

Obwohl der Roman, wie es scheint, auf dem Reißbrett entstanden ist und eine höchst ausgeklügelte Konstruktion aufweist, wirkt er in keiner Sekunde anstrengend oder formalistisch. Im Gegenteil liest er sich je länger je mehr als veritabler Pageturner. Das liegt an der äußerst raffinierten, nicht-linearen Informationsverteilung, die oft entscheidende Details erst nachträglich enthüllt und die Geschehnisse in jeder Episode wieder in neuem Licht erscheinen lässt. Wie sich bei fortlaufender Lektüre allmählich herausstellt, sind die zunächst lose aneinander gereihten Episoden eng miteinander verflochten. Eigentlich hat Mathews mit diesem Verfahren bereits die Technik der Short Cuts vorweggenommen, die Robert Altman mit seinem gleichnamigen Film aus dem Jahr 1993 salonfähig gemacht hat. Der Roman Zigaretten ist eine literarische Multi Charakter Form, deren separat erzählte Episoden verschiedentlich Berührungspunkte untereinander aufweisen. Im Unterschied zu Altmans Short Cuts, wo solche Überschneidungen nur sehr oberflächlich auftreten, sind die Schicksale der Protagonisten in Zigaretten viel stärker ineinander verstrickt.

Im Verlauf der Erzählung entpuppen sich diverse familiäre, amouröse, intrigante sowie geschäftliche Beziehungen unter den Protagonisten. Die Klammer bildet gewissermaßen die mysteriöse Elizabeth, die im ersten und dann wieder im letzten Kapitel auftritt, wo die anfänglich geschilderte Situation unter neuer Perspektive nochmals aufgenommen wird: Allan wird von seiner Frau Maud aufgrund seiner Affäre mit Elizabeth aus dem Haus geworfen, weshalb er aus Rache das Porträt von Elizabeth in jüngeren Jahren mitnimmt, das Maud vor wenigen Tagen zufällig vom Kunstkritiker Morris gekauft hat, der auf Anraten von Mauds Tochter Priscilla in den Kunsthandel eingestiegen ist, um seiner Schwester Irene, einer erfolgreichen Galeristin, eins auszuwischen. Das Porträt stammt vom Künstler Walter Tale, über dessen Werk (speziell über das Frauenbildnis) Priscilla wiederum promoviert und Morris einen viel beachteten Artikel verfasst hat.

Priscilla weist in ihrer Arbeit nach, dass Elizabeth dem Künstler die „animalische Anmut und transzendentale Sexualität“ der weiblichen Schönheit offenbart habe; Morris wiederum orakelt in seiner Besprechung vom „stürmischen Himmel der Vagina“. Die Aufmerksamkeit, die diesem Bild von verschiedene Figuren der Erzählung entgegen gebracht wird, deutet schon an, dass es den heimlichen Hauptdarsteller des Romans markiert. Es taucht in jedem Kapitel mehr oder weniger prominent einmal auf und wechselt im Verlauf der Erzählung mehrmals seinen Besitzer, so dass alle Protagonisten des Romans mindestens einmal mit ihm in Berührung kommen. Die Pointe besteht jedoch darin, dass es sich – wie der Leser erst später erfährt, als man schon meint, das Gemälde sei zerstört worden – gar nicht um das Original, sondern um eine Kopie handelt, die Phoebe zu Übungszwecken angefertigt hat, als sie angeleitet durch Walter Tale sich zur Künstlerin ausbilden wollte.

Phoebe ist also die Urheberin des duplizierten Gemäldes, das im gesamten Roman zirkuliert, weshalb ihr nicht von ungefähr auch das aus der Reihe fallende Doppelkapitel gewidmet ist, das die schwierige Beziehung zu ihrem Vater Owen schildert, der – ohne zu wissen, dass es sich um ein Bild seiner Tochter handelt – das Porträt vernichten wird. Dieser Akt der Zerstörung steht symbolisch für das tragische Schicksal seiner Tochter, die durch die Double-Bind-Beziehung zu ihrem Vater letztlich einen psycho-somatischen Zusammenbruch erleidet und in einer klinischen Depression versinkt. Während ihrer Psychose beginnt sie eine Stimme (sie nennt es: ihr inneres Megaphon) zu hören, die sie ihr kryptische Botschaften diktiert, und ihre Großmutter begleitet sie in Gestalt eines Vogels. Hier deutet sich eine strukturelle Ähnlichkeit zu Elizabeths Schicksal an, die am Ende des Romans ebenfalls todkrank im Spital liegt und dort träumt, dass sie ein Vogel sei. Es ließen sich bestimmt noch weitere Parallelen entdecken, die diese beiden 'Hauptfiguren' zueinander in Relation setzen.

Auf diese Weise gleicht die gesamte Erzählanlage einem grossen Puzzlespiel, bei dem sich sukzessive die Teile zu einem Gesamtbild fügen. Die anfänglich vollkommen isoliert erscheinenden Personen sind alle sehr eng miteinander in einem Gewebe von Lügen und Ent-Täuschungen miteinander verstrickt. Sie bilden eine Schicksalgemeinschaft, ohne es selbst immer zu wissen. Die Übersicht behält eigentlich nur das auktorial überlegene Erzählerich, das sich direkt nur ganz am Anfang und am Ende des Romans zu Wort meldet, ansonsten aber die personal perspektivierte Handlungsführung in Form von kurzen Klammerbemerkungen ergänzt. Woher das „Ich“ dieses Wissen bezieht, bleibt unklar. Rätselhaft bleiben auch der Titel des Romans und dessen Schluss, bei dem das erzählende Ich wieder aus dem Schatten der Narration hervortritt.

Ganz offensichtlich gehört der Erzähler zum Kreis der porträtierten Personen, über seine eigene Identität gibt es jedoch keine Silbe preis. Man erfährt lediglich, dass er eben von „den Beerdigungen“ zurückgekehrt sei. Wer da kollektiv bestattet wurde, darüber lässt sich nur spekulieren: Sind es etwa die Protagonisten des Romans, die an zum Schluss ihre Funktion für den Erzähler erfüllt haben? Die metaphysische Reflexionen, in die sich das erzählende Ich verliert, verleiten zu dieser Spekulation. Es räsoniert darüber, wie die Toten in einer ewigen Präsenz weiter existieren, indem sie von den Lebenden Besitz ergreifen. Das Leben speist sich, seiner Theorie zufolge, von der „Energie der Verstorbenen“, die sich bis auf die Anfangszeiten eines „ursprünglichen und heldenhaften Akteurs“ zurückführen lässt, dem „die Welt [...] gegeben war, damit er ohne Reue und Angst darin spielen konnte.“ Mit dieser Rückbindung an einen mythopoetischen Archetypen endet der Roman.

Dieser Schluss kommt ebenso unerwartet, wie er auch das sonst wohlkonstruierte Erzählgebilde merklich aufstört und letztlich hinter die subtil verwobene Geschichte ein großes Fragezeichen setzt. Man wird das Gefühl nicht richtig los, als treibe dieses aufgesetzte Ende ein falsches Spiel mit dem Leser. Dem Autor verschafft es offenbar eine diebische Freude, bei aller erzählerischen Kommensurabilität, überall hermeneutische Spuren und Fingerzeige für den Deutungswilligen zu legen. Irgendwie riecht alles danach, entschlüsselt zu werden. Das gilt auch für den Titel, der sich aus der Romanhandlung selbst aber kaum erschließt. Nur eine Episode nimmt ihn expressis verbis auf, als die derilierende Phoebe im Geräusch eines fahrenden Zuges die Wortfolge „Zigaretten, tsch tsch / Zigaretten, tsch tsch“ vernimmt. Es wird also alles darauf angelegt, die titelgebenden Zigaretten als rätselhafte Chiffre erscheinen zu lassen. Mögen sich Andere die Zähne (oder in Anspielung eines weiteren Romantitels von Mathews: die Zlähne) daran ausbeißen.

Angeblich hat Mathews in einem Interview auf die Frage, was der Titel denn bedeute, geantwortet, er solle dazu anregen, just über seine Bedeutung zu reflektieren. Auch sonst gab sich der Autor eher zurückhaltend und hat die Strukturgesetze und Regeln, denen er sich beim Schreiben unterzog, nie offengelegt. Vielleicht hat er aber eine davon im Roman selber versteckt. Als Elizabeth am Ende über eine Art Offenbarung erzählt, die ihr ein unbekümmertes Lebensgefühl vermittelt habe, wird sie kurz von Maud unterbrochen mit der Aufforderung: „Kein post hoc ergo propter hoc bitte schön!“ Gemeint ist damit eine unzulässige Schlussfolgerung, die ein späteres Ereignis (post) durch ein früheres verursacht (propter) sieht, also ein Kausalverhältnis herstellt, wo lediglich eine zeitliche Folge vorliegt. Solche Kausalknoten, die seit jeher das Grundprinzip des epischen Erzählens bilden, unterläuft Mathews mit seiner nonlinear und kaleidoskopisch gebrochenen Handlungsführung systematisch.

Mittwoch, 31. Mai 2017

Brentano / Görres: BOGS, der Uhrmacher (1807)

Ein poetisches Konzept der deutschen Romantik war das Schreiben im Kollektiv. Friedrich Schlegel formulierte in einem seiner Athenäums-Fragmente das Ideal einer „Sympoesie“, bei der „es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehrere sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten“. Und Novalis sah in den Journalen „eigentlich schon“ das Vorbild für „gemeinschaftliche Bücher“. Das berühmteste Unternehmen in kollektiver Autorschaft sind Die Versuche und Hindernisse Karls (1808), auch als Doppelroman der Berliner Romantik bekannt, an dem sich Karl August Varnhagen von Ense, Wilhelm Neumann, August Ferdinand Bernhardi und Friedrich de la Motte Fouqué beteiligten, die alternierend ihre Kapitel zu dem Projekt beisteuerten.

Bereits ein Jahr zuvor erschien im Umkreis der Heidelberger Romantiker eine Doppel- oder Kollektivnovelle als Gemeinschaftswerk von Clemens Brentano und Joseph Görres, das aber eher aus einer Laune heraus entstanden ist. Inspiriert durch eine Zeitungsnachricht konzipierten die beiden Autoren zunächst eine scherzhafte Konzertannoce, die sich unter der Hand aber zu einer arabesken Geschichte ausweitete, weshalb diese schließlich unter dem Titel „Die über die Ufer der Badischen Wochenschrift als Beilage ausgetretene Konzert-Anzeige“ als separates Bändchen bei Mohr & Zimmer publiziert wurde – wie damals üblich: anonym. Die Verfasser versteckten ihre Autorschaft indes im Namen ihres Helden BOGS, der sich aus den ersten und letzten Buchstaben ihrer Nachnamen zusammensetzt: BrentanO/GörreS.

Der Inhalt dieser kleinen Groteske ist rasch erzählt: Der Uhrmacher BOGS will sich bei einer Schützengesellschaft bewerben und muss zu diesem Zweck ein „Selbstbekenntniß über [seinen] Karakter und [seine] Grundsätze“ ablegen, damit die Gesellschaft auf dieser Basis beurteilen kann, ob er einer Aufnahme würdig sei. Aus dem Bekenntnis geht aber hervor, dass der Uhrmacher eine irrational starke Inklination zur Musik besitzt, eine „wahrscheinlich physische Schwäche eines sehr reizbaren etwas zum Trunke geneigten Ohrs“. Die ganz auf bürgerlich-konservative Werte bedachte Schützengesellschaft stellt ihn deshalb auf die Probe: Wenn BOGS einem Konzert beiwohnen könne, ohne davon übermäßig hingerissen zu werden, dann wolle sie ein Auge zudrücken und den musisch-empfindlichen Kandidaten in ihren Kreis aufnehmen.

In Kenntnis seiner unkontrollierbaren Leidenschaft willigt BOGS nur zögernd in das Experiment ein: „Anfangs wollte ich mein Herz und meinen Kopf zu Hause lassen, aber zuletzt mußte ich doch ersters der Courage und letzteren des Hutes wegen mitnehmen.“ Wie befürchtet gerät das Probekonzert zum Fiasko: BOGS lässt sich von der Darbietung nicht nur hinreißen, er beginnt richtiggehend zu derilieren. Er verliert das Bewusstsein, verstrickt sich in Phantasmagorien, sieht bizarre Traumwelten vor seinen inneren Augen vorbeiziehen, und kann sich zwischen den Stücken nur notdürftig an die Uhren klammern, die er als dingfeste Stützen mitgenommen hat, ihm den nötigen Wirklichkeitsrückhalt zu sichern.

Die Bilanz fällt entsprechend kläglich aus: Die Schützengesellschaft verweigert BOGS nicht bloß die Aufnahme, sie zweifelt nachhaltig an seinem Verstand, weshalb der Uhrmacher angeleitet durch Doktor Sphex – der schon in Jean Pauls Titanroman herumgeisterte – einer medizinischen Untersuchung unterzogen wird, die eine anatomische Absonderlichkeit zu Tage fördert: BOGS besitzt einen Januskopf. Auf der Hinterseite, versteckt unter dem Haar, verbirgt sich ein zweites Konterfei, welches als Antipode des armen Uhrmachers für die Schattenseite seiner Vernunft verantwortlich ist, findet sich doch im „Höhlenwerk seines Kopfes“ alle Phantasmagorien wieder, die BOGS während der Konzertvorführung heimgesucht haben, hier aber unter der Schädeldecke fröhliche Urständ feiern.

Als wäre dieser Befund – eine Art Vorfläufermotiv von Dr. Jekyll und Mr. Hyde – nicht schon phantastisch genug, beschließt Doktor Sphex in die seltsam bevölkerte Kopfhöhle hinabzusteigen, „um sich durch den unmittelbaren Augenschein über den eigentlichen Bestand der Sache Auskunft zu verschaffen“. Durch den fremden Eindringling wacht das zuvor eingeschläferte Janusgesicht aber auf und gerät dabei so stark in Rage, dass er mit dem Uhrmacher im Raum herumwirbelt, bis „endlich die Verbundenen durch die Centrifugalkraft des Schwunges von einander ließen“. So kann der Uhrmacher mehr zufällig als durch medizinisches Geschick von seinem Parasiten befreit und endlich „als stiller, gesetzter, sedater Mensch“ in die hochlöbliche Jagdgesellschaft aufgenommen werden.

Soweit die groteske äußere Handlung der Erzählung, die sich rasch als romantische Allegorie entpuppt. Zunächst kann das Janusgeschöpf BOGS, abgesehen davon, dass die Romantik eine Vorliebe für Doppelgänger- und Zwillingsmotive hatte, als Figuration der doppelten Autorschaft von Brentano und Görres selbst angesehen werden. Mehr noch aber lässt sich der Exorzismus, den BOGS über sich ergehen lassen muss, als Konflikt zwischen romantischer und bürgerlicher Weltanschauung lesen. Die nüchterne Seite von BOGS entspricht der bürgerlichen Tugend, während das rückseitige Janusgesicht die Schattenseite der Romantik verkörpert. Die Profession des Uhrmachers ist gewissermaßen auch der Inbegriff des Pedantischen und Philiströsen, das den Romantiker ein Dorn im Auge war, weshalb es in der Erzählung nicht zufällig heißt, die „Prediger aus der neuen romantischen Klique“ hätten „gegen die klassischen Uhrmacher einen Bund geschlossen“.

Die Pointe der Erzählung verläuft indes in umgekehrter Richtung, wenn es darum geht, den Uhrmacher von seinen romantischen Anleihen zu befreien. Ganz zu Beginn, in einer überlangen Annonce der Jagdgesellschaft, die ebenfalls die gutbürgerliche Tradition vertreten und die Verbannung des romantischen Gedankenguts propagieren, werden die Romantiker als „Zifferfeinde und Ungeziefer“ bezeichnet. Kein Wunder setzen solche Zifferfeinde just einem Uhrmacher, der sich ex professio mit Ziffern und Ziffernblättern befasst, besonders hart zu, weshalb es letztlich gilt, dieses romantische Ungeziefer, das leibhaftig seinen Kopf befallen hat, zu entfernen. Ironischerweise steuert gerade im Teil, welcher die Austreibung der Romantik aus dem BOGS'schen Schädel schildert, das Phantastische und Irreale der Erzählung auf eine radikale Klimax zu, dass letztlich doch, wenn nicht auf der Handlungsebene, so doch poetologisch die romantische Ästhetik den Sieg davon trägt.

Freitag, 26. Mai 2017

Friedrich Schiller: Die Räuber (1781)

In seinem Anstoß Zur Geschichte des menschlichen Herzens erzählt Christian Friedrich Daniel Schubart die Anekdote zweier ungleicher Brüder: der eine heißt Carl, ist ein verbummelter, genusssüchtiger Mensch, weshalb er bei seinem Vater zunächst in Ungnade fällt, erweist sich dann aber von rechtschaffener Natur, während der andere Wilhelm, vordergründig ein Musterknabe, sich letztlich als eigennütziger und ziemlich skrupelloser Kerl entpuppt. Er macht sich des versuchten Mordes an seinem Vater schuldig, wovor ihn nur durch Zufall sein verstoßener Sohn retten kann. Schubart leitet seinen kurzen Bericht der angeblich wahren Begebenheit mit den Worten ein: „Hier ist ein Geschichtchen, das sich mitten unter uns zugetragen hat, und ich gebe es einem Genie preis, eine Komödie oder einen Roman daraus zu machen“.

Das Genie, das den Stoff dramatisierte, war der damals zwanzigjährige Friedrich Schiller. Er liess sich davon für sein erstes Stück Die Räuber inspieren, das 1781 anonym und im Selbstverlag erschienen ist – und erst später und unter erheblichen, nicht autorisierten Veränderungen uraufgeführt wurde. Beim publizierten Text handelt es sich also um ein Lesedrama, das in erster Linie als Buch und nicht für die Bühne konzipiert wurde. In der Vorrede zur ersten Auflage schreibt Schiller: „Nun ist es aber nicht sowohl die Masse meines Schauspiels als vielmehr sein Inhalt, der es von der Bühne verbannet.“ Inhaltlich stehen die beiden Brüder Karl und Franz Moor im Zentrum, die aus unterschiedlichen Beweggründen die Gesetze überschreiten und zu grausamen Verbrechern werden, wobei Franz der moralisch verworfene Gegentypus zum edlen oder „erhabenen Verbrecher“ Karl Moor markiert.

Franz, der zweitgeborene Sohn des Grafen von Moor, fühlt sich gegenüber dem charismatischen und viel attraktiveren Bruder Karl fürs Leben benachteiligt, weshalb er gewillt ist, diese naturgegebene Hintansetzung eigenmächtig aus dem Weg zu räumen, indem er eine Intrige gegen den Bruder in die Wege leitet. Er lässt seinem greisen Vater die falsche Nachricht von der Verworfenheit seines Sohnes Karl zukommen, worauf dieser Karl verflucht und aus Gram über dessen Lebenswandel dahinsiecht. Tatsächlich will der skrupellose Franz nichts anderes, als den Tod seines Vaters zu forcieren, um das Erbe baldmöglichst anzutreten. Er besitzt ein „Gewissen nach der neuesten Façon“, das wie die Beinschnallen an den Hosen beliebig – also bis zur absoluten Gewissenlosigkeit – erweitert werden kann und auch den versuchten Mord nicht ausschließt. Franz ist der ganz große Schurke, der in seiner Verzweiflung letztlich sogar gegen Gott frevelt.

Karl dagegen agiert nicht weniger grausam, allerdings nicht aus genuiner Unmoral, sondern aufgrund einer existenziellen Enttäuschung. Wie Schiller in seiner Selbstbesprechung zum Stück schreibt, steigert sich bei Karl eine „Privatverbitterung“ in „Universalhaß gegen das ganze Menschengeschlecht“. Dass ihn sein Vater (aufgrund des Ränkespiels von Franz) verstößt, veranlasst Karl (da er nichts von der Intrige weiß und sich den Zorn des Vaters also nicht erklären kann) impulsiv alle gesellschaftlichen Bande aufzukündigen und als mordender und brandschatzender Räuberhauptmann in die böhmischen Wälder zu ziehen. Trotz seiner Untaten verliert Karl sein Ehrgefühl nicht. Im Unterschied zum niederträchtigen Kumpanen Spielmann geht es ihm nicht um Spaß an der Sache, vielmehr versteht er sich als Rächer an einer dekadenten Welt: „Sag ihnen, mein Handwerk ist Wiedervergeltung – Rache ist mein Gewerbe.“

Karl wie Franz, so unterschiedlich auch ihre moralische Verfassung beschaffen ist, sind beides typische Sturm-und-Drang-Figuren, welche sich von den sozialen Fesseln losreißen und mit allen Kräften ins Unbedingte vordringen wollen. Nicht zufällig erwähnt Karl gleich zu Beginn den „Prometheus“, die Galionsfigur des Sturm-und-Drang, um aber festzustellen, dass der „lohe Lichtfunke“ von ihm heutzutage ausgebrannt sei, weil die Zivilisation alles Große und Erhabene im Keim ersticke: „Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug gewesen wäre.“ Genau so, mit exakter derselben Wortwahl, fühlt sich auch Franz an die äußeren Umstände gebunden, die er überwinden will: „Soll sich mein hochfliegender Geist an den Schneckengang der Materie ketten lassen?“ Beide sind sie Kraftmenschen, welche die lähmenden gesellschaftlichen Konventionen zugunsten einer absoluten Freiheit für sich aushebeln wollen. Das Stück zeigt aber, das radikale Freiheit letztlich nur in neuer Barbarei enden wird.

Schillers Räuber sind Ausdruck des aufklärerischen Interesses an der Natur des Verbrechens. Die Vorstellung, dass der Mensch von Natur aus böse sei, wie es Thomas Hobbes etwa mit seiner Formel von homo homini lupus noch postuliert hatte, war aus aufklärerischer Sicht, die von einem humanistischen Ideal ausging, unhaltbar. Entsprechend richtete man die Aufmerksamkeit auf die sozialen Umstände, unter denen ein Mensch auf die schiefe Bahn gerät und in die Kriminalität getrieben wird. Ein ganz ähnliches Anliegen verfolgte Schiller auch in der fast gleichzeitig entstandenen Erzählung Der Verbrecher aus verlorene Ehre (1786). In der programmatischen Einleitung fordert Schiller eine Art Linné'sches System, welches das Menschengeschlecht „nach Trieben und Neigungen klassifizierte“, um die innern Beweggründe des menschlichen Handlens besser zu verstehen: „An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten.“

Diese Absicht führt jedoch mit sich, dass man das Laster dem Leser in all seinen Facetten vor Augen führen, ja nachgerade eine „Leichenöffnung“ des Lasters veranstalten muss, um das Entsetzliche verständlich zu machen. Vor diese Herausforderung sieht sich der junge Dramatiker auch im Schauspiel Die Räuber gestellt, weshalb er in der Vorrede zum Stück die berechtigte Befürchtung ausspricht, dass es vom unverständigen „Pöbel“ in seiner Intention diametral als „Apologie des Lasters“ missverstanden werden könnte, was doch als abschreckendes Beispiel gedacht sei: „Wer sich den Zweck vorgezeichnet hat, das Laster zu stürzen und Religion, Moral und bürgerliche Gesetze an ihren Feinden zu rächen, ein solcher muß das Laster in seiner nackten Abscheulichkeit enthüllen und in seiner kolossalischen Größe vor das Auge der Menschheit stellen“.

Schiller formuliert darin eine Absicht, die er wenige Jahre später in seinem Aufsatz Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (1784) theoretisch weiter ausführen wird, u.a. unter direkter Bezugnahme auf sein Stück Die Räuber, das er in einer Reihe mit Shakespeare und Molière erwähnt, was nicht zuletzt auch ein Licht auf das keineswegs geringe Selbstverständnis des jungen Schiller wirft. Wie die genannten Vorgänger so will auch Schiller den Menschen in all seinen erschreckenden Abgründen auf die Bühne stellen, um dem Publikum den Spiegel vorzuhalten, damit es die eigenen Schwächen im Schicksal der tragischen Figuren erkenne. Zwar räumt Schiller ein, dass ein Franz oder Karl Moor auf der Bühne faktisch keinen Verbrecher bekehren könne; der Wert des Schauspiels liege aber darin, dass man mit diesen Abirrungen des menschlichen Daseins bekannt gemacht werde, um im richtigen Leben davor gewappnet zu sein. Dem Schrecken auf der Bühne spricht Schiller somit eine humanisierende Wirkung zu.

Schiller präsentiert mit den Räubern ein Drama in grellen Farben, mit drastischen Szenen und liefert mit dem Aufsatz über die Schaubühne als moralische Anstalt zugleich eine Begründung für diese Ästhetik des Bösen nach. Interessanterweise geht Schiller – anders als in heutigen Debatten über den angeblich negativen Einfluss von Gewaltdarstellungen – in keinem Punkt von der Annahme aus, dass der Zuschauer zur Imitation angestiftet werden könnte. Im Gegenteil glaubt Schiller, dass letztlich „Menschlichkeit und Duldung“ durch „Rührung und Schrecken“ bewirkt werde. Der „kühne Verbrecher“ dient „zum schauervollen Unterricht“ und soll im Zuschauer entsprechenden einen „heilsamen Schauer“ hervorrufen, der an die Tugend appelliert. Das ist freilich eine Überzeugung, die aus dem Optimismus der Aufklärung heraus gedacht wurde. Dass Schreckens- und Gewaltdarstellungen den Menschen moralisch bessern, ist wohl ebenso idealistisch, wie die gegenteilige Vermutung, dass sie ihn verderben, unnötig fatalistisch ist.

Mittwoch, 24. Mai 2017

E. W. Hornung: Raffles (1899-1905)

Raffles, der Edelverbrecher aus der Feder des Schwagers von Sir Conan Doyle, ist das kriminelle Pendant zum Meisterdetektiv Sherlock Holmes. Wie dieser ist Raffles brillant, vornehm, distinguiert und überlegen mit einem untrüglichen „Sinn für Ästhetik“, der bei seinen Verbrechen stets eine Rolle spielt. Raffles versteht sie als Kunststücke und sein Ehrgeiz liegt weniger in der grossen Beute, sondern in der Formvollendetheit seiner Gaunerstücke, weshalb er sich vor immer verücktere Herausforderungen stellt. So wie Holmes' Leidenschaft darin besteht, scheinbar unlösbare Verbrechen aufzudecken, strebt Raffles danach, scheinbar unmögliche Verbrechen zu begehen. Dabei handelt es sich um keine schweren Verbrechen, mehrheitlich konzentriert sich Raffles auf Diebstähle, so dass man fast schon geneigt ist, von Kavaliersdelikten zu sprechen. Denn Raffles ist ein Gentleman, der trotz seiner kriminellen Neigung es nicht an Ehrenhaftigkeit missen lässt. So verabscheut er Gewalt, die er nur in äusserten Notfällen anwenden würde: „Gewalt ist das Eingeständnis einer schrecklichen Unfähigkeit.“ Raffles aber ist alles andere als unfähig, sondern ein Meisterdieb, der „größte der Prä-Raffleiten“, wie er einmal witzig meint, auch wenn er sich selbst bloss als Amateur versteht. Tatsächlich ist er ein Amateur im Wortsinn: Ein Liebhaber des Verbrechens, das er nicht aus Eigennutz oder zur Selbstbereicherung, sondern aufgrund seiner Schönheit – quasi als l'art pour l'art – begeht.

Die Erzählungen lesen sich somit wie inverse Kriminalgeschichten. Die Spannung liegt nicht darin, wie ein Verbrechen aufgedeckt, sondern wie und mit welcher Raffinesse und Brillanz es begangen wird. Am Ende triumphiert immer Raffles, wenn er seinem verblüfften Kompagnon mit dem Spitznamen Bunny den genialen Streich offenlegt. Wie Dr. Watson bei Sherlock Holmes so fungiert auch Rafffles Begleiter zugleich als Erzähler und getreuer Chronist der gemeinsam erlebten Abenteuer. Und wie Watson so bringt auch Bunny dem überlegenen Freund eine grenzenlose Bewunderung entgegen, in die sich mitunter aber auch eine Spur von Eifersucht mischt, wenn ihm wieder deutlich wird, dass er in diesem Duett stets die zweite Geige spielen wird. Bunny dient Raffles vornehmlich als Statist bei seinem Unternehmungen, entsprechend wenig wird er in die Pläne eingeweiht, damit er den Ahnungslosen nicht nur spielt, sondern tatsächlich auch ist, und damit jeden Verdacht von sich und Raffles abwendet: „Wie hättest du dich so tadellos benehmen können“, lobt ihn Raffles, „wenn du das gewußt hättest? Wer hätte das überhaupt zustande gebracht? Niemals hättest du deine Rolle so spielen können, und kein erster Bühnenstern an deiner Stelle hätte es besser machen können.“

Raffles liebt es allgemein, die Leute an der Nase herumzuführen. Nicht nur pflegt er ein Doppelleben – als national anerkannter Kricket-Spieler und ein heimliches als Dieb –, er mischt sich auch gerne inkognito unter die Gesellschaft, die er bestiehlt, und spricht mit den Leuten über sich und seine Taten, was ihm eine tiefe Befriedigung und eine diabolische Freude verschafft. In diesem Punkt offenbart sich die narzisstische Persönlichkeitsstruktur Raffles, der sich von den ahnungslosen Opfern selbst die nötige Bestätigung seiner Genialität holen will. So fühlt er sich natürlich auch geschmeichelt, als im Kriminalmuseum von Scotland Yard die „Reliquien“ seiner Verbrecherkarriere ausgestellt werden. Raffles lässt es sich nicht nehmen, in Begleitung eines Polizisten die Stücke selbst anzusehen, um sie dann aus dem Museum zu entwenden. Doch Raffles Wagemut wird ihm eines Tages zum Verhängnis: Er wird fast gefasst, was ihn zwingt, seine Identität zu ändern und fortan als moribunder Herr Maturin eine Deckexistenz zu fristen. Unter dieser Maskerade wird er aber nicht nur von Bunny entdeckt, sondern auch von einer alten Geliebten entlarvt, was ihn wiederum nötigt unterzutauchen, diesmal indem er seinen eigenen Tod vortäuscht. Und es wäre nicht Raffles, wenn er sich nicht heimlich unter die Trauergäste gemischt hätte, um seinem eigenen Begräbnis beizuwohnen.

Montag, 22. Mai 2017

Gerold Späth: Stimmgänge (1972)

In Stimmgänge macht Gerold Späth den Orgelbau, das traditionsreiche Metier seiner Familie, zum Thema einer gargantuesken Lebensgeschichte. Noch heute steht die Marke Späth für Qualitätsorgeln. Im Roman wird sie, nebst zahlreichen anderen, auch beiläufig, aber an zentraler Stelle erwähnt, nämlich dort, wo in der Kirche St. Bombast alle Orgelpfeifen in einer wilden Kakophonie losdröhnen: „Sauer, Seuffert, Silbermann, Slegel, Späth, Schweimb, Riepp und Gabler haben einander, auf einmal höllisch aufbrüllend, an der Gurgel und gehen – wie das in dem Kunsthandwerk üblich ist – alle zusammen wie der Teufel auf den Hasslocher los“. Das „hornt“ dann nicht nur „wie vor Jericho“, sondern bringt in der Tat die Kuppel der Kirche zum Einsturz, so dass der Fuß des genannten Hasslocher unter den niederfallenden Steinmassen zerquetscht wird.

Dieser zertrümmerte Fuß setzt nun das ganze Erzählwerk in Gang. Denn Jakob Hasslocher, der Protagonist und Erzähler, verkürzt sich den Aufenthalt im Spital mit der Niederschrift seiner Lebensgeschichte. Adressiert sind seine Aufzeichnungen an Haydée, seine ehemalige Geliebte und Ehefrau, von ihm mehrmals als „ewiges Mädchen“ apostrophiert, da sie in der Tat eine Art Urweib verkörpert. Jedenfalls handelt es sich um eine der merkwürdigsten Frauenfiguren der Weltliteratur: eine wahrhaft männerverschlingende Femme fatale, die ihre Opfer während des Beischlafs aussaugt und vaginal vertilgt. Eine menschliche Venusfliegenfalle, die mit jedem einverleibten Opfer ein noch stärkeres Odeur verströmt, das die Männer reihenweise anlockt und um den Verstand bringt, Hasslocher nutzt die unbändige Libido seiner Frau, um daraus Kapital zu schlagen, indem er ihr auf der gemeinsamen Hochzeitsreise regelmäßig Freier zuführt, die dann gegen gutes Geld im gierigen Schlund ihres Unterleibs verschwinden.

Zu diesem Schritt nötigt ihn das Testament seiner verstorbenen Großmutter, die ebenfalls ein monströses Urweib war und die halbe Sippschaft auf dem Gewissen hat. Auch für ihren Enkel hat sie sich über den Tod hinaus einen bösen Scherz ausgedacht. Gemäß der testamentarischen Verfügung kann Hasslocher sein Erbe erst antreten, wenn er eine Million beisammen hat. Immer wieder erscheint ihm die tote Großmutter und drängt ihn dazu, nicht länger auf der faulen Haut zu liegen und die Million endlich aufzutreiben. Mit dem Orgelhandwerk allein ist das kaum zu meistern, auch wenn er davon träumt, eine Orgel der Superlative zu bauen. Durch ein traumatisches Ereignis im Wald – Hasslocher gerät mitten in eine unkontrollierte Schießübung des Militärs – verschlägt es ihm zudem die Sprache. Seither ist er stumm, was mitunter auch ein unerwünschtes Erbe seiner Großmutter sein dürfte, die durch ein herrisches „Halt's Maul“ die anderen zum Schweigen verdammte und so aus Hasslochers Vater einen „Murmler“ machte.

Unter diesen Voraussetzungen – mit der toten Großmutter im Nacken, einem Kropf im Hals und der Vision einer Superorgel vor Augen – schlägt sich der junge Hasslocher auf seinen Stimmgängen durchs Leben, bis er schließlich seine eigene Stimme wieder findet und – gefördert durch den dubiosen Mäzen Jean de Blégrangers – zu einem renommierten Orgelbauer wird, der die verrücktesten Modelle entwirft. Ein Anhang zum Buch verzeichnet alle realisierten und nicht-realisierten Orgelprojekte von Hasslocher. Nur die Sache mit dem Testament erweist sich letztlich als Jux: die Großmutter hat ihren Enkel vollkommen vergebens angestachelt, denn ein lohnenswertes Erbe hat sie gar nicht vorzuweisen. So geht Hasslocher am Ende zwar leer aus, hat dafür allerhand Abenteuer erlebt. Die „Stimmgänge“ stehen deshalb auch metaphorisch für die zahlreichen, mitunter arg abschweifenden Episoden und Geschichten. Andererseits gibt Hasslocher auch an, er wolle sein Erzählung wie eine Orgel mit allen möglichen Ober-, Unter- und Zwischentönen orchestrieren. Das ist eine indirekte Einladung, die Romanarchitektur mit den eingeschalteten Konstruktionsplänen des komplexen Rudwieser Orgelwerks zu vergleichen. Am Ende liegt mit den Stimmgängen eine papierne Version der von Hasslocher erstrebten Wunderorgel vor.

Jedenfalls stellen die Stimmgänge einen Wälzer von epischem Ausmass dar, der alle Register zieht. Wie schon der Vorgänger Unschlecht, in dem der Orgelbauer Jakob Hasslocher als Nebenfigur bereits einen kurzen Auftritt hat, besticht auch der Zweitling des Autors durch eine archaische Sprachgewalt, eine derbe Komik und eine funkensprühende Fabulierfreude. Mitten in der postulierten Krise des Erzählens der Nachkriegszeit belebte Späth, in der Folge von Günter Grass, die Literatur mit neobarocken Romanungetümen, die alle Grenzen sprengen und ihre Herkunft aus der Tradition des Schelmenromans nicht verleugnen können. Narren und Schelme treten in der Literatur häufig auf, wenn es gilt der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. So sehen sich auch Späths naiv-gewiefte Helden wie weiland Simplicissimus einer bigotten und korrupten Gesellschaft ausgesetzt, der sie aber - zu ihrem eigenen Vorteil - mit List und Tücke begegnen. Nicht von ungefähr heißt Hasslocher Jakob mit Vornamen und sollte eigentlich auf den Namen Simon getauft werden: „Jakob der Listige und Simon der Erhörte“. Durch List zu Ruhm, so könnte verkürzt der Verlauf der Stimmgänge zusammengefasst werden.

Neben barocken Anleihen, beerbt der Roman auch seine modernen Vorläufer. So sind Kapitelüberschriften wie „Erstes fruchtiges Kopf- und Hinterstück“ ganz offensichtlich von Jean Pauls Blumen- und Fruchtstücken aus dem Siebenkäs inspiriert, während die Stimmgänge insgesamt auf der Folie von Melvilles Moby Dick komponiert sind. Wie dort das Buch mit dem berühmten Auftakt, den von einem Hilfsunterbibliothekar zusammengetragenen Exzerpten aus der gesamten Walfischliteratur, einsetzt, so beginnt auch Späths Roman mit einer mehrseitigen Reihe von Zitaten zur Orgel. Die Orgel – insbesondere die Vision einer Wunderorgel – bedeutet für Hasslocher somit, was der weiße Wal für Kapitän Ahab darstellt: eine gefährliche Obsession. Ahab und Hasslocher sind Verwandte im Geiste. Nicht von ungefähr hat ihre Leidenschaft beiden eine Prothese eingebracht: Der Wal biss Ahab das Bein ab, und der Orgelklang zertrümmerte Hasslochers Fuß. So bekennt er zum Schluss auch: „ich habe einen Bockfuss zu verstecken [...] es ist, hier haben Sie's: meine hasslochische Besessenheit“.

Dass beiläufig doch noch von einem echten Walfisch in den Stimmgängen die Rede ist, bildet die heimliche Pointe dieser literarisch durchtriebenen Tour de force. In einem erzähltechnisch herausragenden Kapitel, das verschiedene Geräusch- und Gesprächsebenen polyphon miteinander verfugt und außerdem noch typographisch mit einer semimimetischen Wiedergabe der Klangstruktur experimentiert, erzählt ein mitgenommener Tramper und „monströser Schwätzer“ während der Autofahrt von einem gestrandeten Walfisch, einem „Monstrum“ und „Riesentier“, dessen Speck er stückweise verkauft habe, bis das Tier ganz grauenhaft zu stinken begonnen habe und er den Kadaver in Formalin legen musste. - Das ist nur eine von vielen, scheinbar zusammenhangslosen Episoden, in die der Roman zu zerfallen droht. Doch zum einen besitzen solche Binnengeschichten hintergründig - wie hier mit dem Walfisch - eine symbolische Funktion für die Gesamterzählung; andererseits weisen sie strukturell auch auf die folgenden Werke von Späth voraus wie etwa Commedia oder Sindbandland, die dann zugunsten narrativer Mikrozellen gänzlich auf einen durchgehenden Handlungsbogen verzichten.

Dienstag, 2. Mai 2017

Albert Drach: Unsentimentale Reise (1966)

Eine jüdische Exilgeschichte als Abenteuer- und Schelmenroman: Ist das moralisch vertretbar, selbst wenn sie vom Betroffenen selbst erzählt wird? Aber weshalb soll man sich noch um narrative Angemessenheit und Gattungsgesetze kümmern, wenn die Welt ohnehin aus den Fugen geraten ist? So heißt es auch ziemlich zu Beginn schon: „Was anders ist, das ist, daß ich das Leben nicht mehr so ernst nehme, seit ich weiß, daß ich das die Gesetze aufgehoben sind, die es schützen.“ Zudem handelt es sich um eine unsentimentale Erzählung, die weder auf Mitleid pocht noch solches vom Leser einfordert. Der Titel ist eine Anspielung auf Laurence Sternes Sentimental Journey (1768), die im Deutschland des 18. Jahrhunderts einen veritablen Gefühlskult hervorgerufen und ein ganzes Genre der launigen Erzählweise begründet hat (tatsächlich wurde das engl. sentimental oft mit launig übersetzt). Von diesem heiter-melancholischen Ton distanziert sich Drach jedoch explizit und wählt stattdessen eine „unsentimentale“ Erzählweise, die von einem sarkastischen bis defätistischen Humor getragen ist, der sich mitunter auch gegen das erzählende Ich selbst richtet. Es weiß, dass er sich auf einer unsentimentalen Reise befindet, die falls sie überhaupt jemals endet, nur letal enden kann: „Sofern sie ein Ziel hat, ist es das, wohin ich nicht will, wohin man einen bringt und wo die Reise nicht mehr weitergeht.“

Geschildert wird aus der Ich-Perspektive die prekären Lebenumstände im französischen Exil des österreichischen Juden Peter Kucku (bzw. Pierre Coucou), der ein leicht dechiffrierbares Alter Ego des Autor ist (er gibt sich an einer Stelle sogar als Verfasser von Albert Drachs Großem Protokoll gegen Zwetschkenbaum zu erkennen). Das Buch ist in drei Teile gegliedert, wobei der letzte fast die Hälfte des gesamten Umfangs einnimmt und eine für den episodischen Schelmenromans typische Fülle an Personal und Handlungssequenzen umfasst, weshalb hier der Inhalt nur sehr raffend wiedergegeben werden kann. Der erste Teil dreht sich um die Deportation und die Internierung im Zwischenlager von Rives Altes, aus dem Coucou zusammen mit anderen Inhaftieren durch eine glückliche Fügung wieder entlassen wird. Ohnehin versucht Coucou mit allen Mitteln, den Nazis zu entkommen, auf die er eine ungeheure Wut hat, die sich einmal in einer fulminanten Hasstirade auf Hitler entlädt, dem „'Mann' genannten Hämling, der selbst nicht genau weiß, aus welchem Schleim seine eigene Rasse kommt“. Aus diesem „Zorn“ erwächst ein fast trotziger „Entschluß zu leben“ und den Faschisten zu entkommen. Zu diesem Zweck lässt sich Coucou durch eine Schummelei von der französischen Regierung einen Attest ausstellen, dass er kein Jude sei, indem er das Kürzel I.K.G. (für Israelische Kultusgemeinde) auf seinem Heimatschein durch eine Notlüge zur Formel „Im Katholischen Glauben“ uminterpretiert.

Der zweite Teil spielt mehrheitlich in Nizza, wo sich Coucuo nach seiner Entlassung aus dem Lager eine gesicherte Existenz verschaffen will und dabei mit verschiedenen Leuten in Kontakt tritt, um an Geld, Unterkunft und Essen zu kommen. Er fühlt sich einigermaßen in Sicherheit, da Nizza von den Italiener besetzt ist, doch dauert es nicht lange und die Gestapo reißt die Stadt an sich, weshalb Coucou wieder fliehen muss. Auf Rat einer irren Baronin fährt er mit dem Autobus in das Gebirgsdorf Caminflour La Commune in den Meeralpen, wo ihm die englische Familie Withorse („Witzpferd“) als Kontakt empfohlen wird (ob da eine Anspielung auf das hobby-horse und den sprunghaften Witz bei Sterne vorliegt, geht nicht eindeutig hervor). Der dritte Teil ist dem Aufenthalt in diesem Ort gewidmet, den Coucou mit merkwürdigen Bekanntschaften wie den Withorse oder dem germanophilen Dichter Lebleu verbringt, aber auch in ständiger Angst, entdeckt zu werden, sowie permanenten Geldsorgen. Erst als am Ende die Alliierten nicht zuletzt dank seiner Intervention einfahren, entschärft sich die Lage, wenngleich sie sich auch nicht normalisiert. Die Gefahr durch die Nazis weicht jetzt dem schlechten Gewissen, das den Entkommenen als raunende innere Stimme von Dr. Honigmann begleitet, der mit Coucou deportiert worden ist, im Unterschied zu ihm aber den Tod in der Gaskammer fand.

Doch Fragen der Moral gelten in diesen Zeit nicht, in der Freund und Feind nicht mehr klar zu trennen sind, in der Juden ihre Mitbrüder verraten, um sich selbst das Leben zu retten oder gar wie im Falle des Separatisten Quierke zur Gestapo überlaufen. Letztlich ist niemandem mehr zu trauen und man ist ganz auf sich alleine gestellt. Mit dieser morale provisoire ausgestattet, kämpft Coucou um sein Dasein, ohne falsche Skrupel und Rücksicht auf Verluste. Aus diesem Grund beschleicht den Protagonisten, so sehr ihn auch der Entschluss zu leben motiviert hatte, allmählich das Gefühl, dass er sich von sich selbst entfremdet und längst schon den Toten angehört (am Schluss nimmt die Verszeile „Die Toten reiten schnell“ aus Gottfried August Bürgers berühmter Ballade Lenore dieses Motiv auf). Tatsächlich fristet Coucou weitgehend ein abgestorbenes, moribundes Dasein, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass er trotz starker erotomaner Neigungen gerade zu jungen Mädchen nicht mehr zum Beischlaf fähig ist, obwohl sich mehrfach die Gelegenheit bieten würde. Ein weiteres auffälliges Defizit ist sein schwaches Erinnerungsvermögen, weshalb er ständig Personen begegnet, die ihn sehr gut kennen, er sich auf Anhieb aber kaum an sie erinnern kann, denn: „Man vergißt viel auf einer unsentimentalen Reise.“

Drachs kompromissloser, tiefschwarzer, aber von einer wiederum fast selbstdestruktiven Frivolität geprägter „Bericht“ (so lautet die offizielle Gattungsbezeichnung) ist ein absolute Ausnahmeerscheinung in der Exil- wie in der Romanprosa überhaupt. Vergleichbar ist die ausufernde erzählerische Wucht eigentlich nur mit zwei anderen Romanen, die mit derselben humoristischen Abgeklärtheit gegen die selbsterfahrene Zwangslage im Exil anschreiben: zum einen Ulrich Bechers Murmeljagd (im Schweizerischen Graubünden) und Albert Vigoleis Thelens Die Insel des zweiten Gesichts (auf Mallorca). In allen drei Fällen meldet sich ein autofiktionaler Ich-Erzähler zu Wort, keck und tolldreist, der sich trotz widrigster Lebensumständen nicht kleinkriegen lässt, sondern sich im Gegenteil durch Witz, List und einer gehörigen Portion wildentschlossener Frechheit gegen das tumbe Gewaltregime zur Wehr setzt, ohne dabei in eine Heldenpose zu verfallen. Vielmehr handelt es sich auch bei Pierre Coucou um eine ganz und gar unheroische, bisweilen sogar tragische Figur, die allein ein wacher Sinn fürs Absurde vor der restlosen Verzweiflung bewahrt.