Sonntag, 7. September 2025

Jörg Fauser: Der Schneemann (1981)

Der Kultroman des Kultautors Jörg Fauser, der in den 1970er Jahren in der deutschsprachigen Beat-Szene debütierte und mit Aqualunge und Tophane zwei Cut-Up-Texte im Stil von William S. Burroughs verfertigte. Von diesem experimentellen Anfängen ist hier nichts mehr spürbar. Der Schneemann ist eine straight und schnörkellos erzählte und mit einer gehörigen Prise Sarkasmus gewürzte Ganoven-Geschichte oder vielmehr: Antiganoven-Geschichte, denn beim Protagonisten handelt es sich um einen tölpelhaften Kleinkriminellen, der unverhofft ins Drogengeschäft rutscht, das eine Kragenweite zu gross für ihn ist. Dieser Figurentyp wird später durch die Filme Coen Brothers populär werden.

Im Zentrum steht der 39jährige Siegfried Blum, "wie Blume ohne e" (105), aus dessen personaler Perspektive erzählt wird. Dank manch krummer Tour konnte er bislang über die Runden kommen. Nun befindet er sich aber abgebrannt auf Malta, wo er auf illegale Weise dänische Vintage-Pornohefte an den Mann zu bringen versucht. Allerdings mit mässigem Erfolg: Ein Kunde findet die Hefte langweilig: "immer die gleiche Frau, immer der gleiche Mann, ja." "Es ist ja auch immer die gleiche Sache" (18) Von solchen Sprüchen mit sprödem Witz, gibt es etliche in dem Buch.

Doch dann gelangt Blum durch Zufall an einen Hinterlegungsschein für die Gepäckaufgabe in München, den er in der Perücke eines italienischen Playboys fand, dem er die Hefte, die ihm kurz zuvor gestohlen wurden, eigentlich verkaufen wollte. Als er jedoch sein Hotelzimmer betritt, findet er alles verwüstet vor, vom Italiener keiner Spur, stattdessen liegt die Perücke herum - und Blum ergreift die Gelegenheit: Er nimmt den Schein an sich, fährt nach München und ist schon bald im Besitz von 2,5 Kilo reinstem Kokain ("Peruvian Flake"), zur Tarnung abgefüllt in Rasierschaumdosen. 

Vom Drogenhandel hat Blum keine Ahnung. Trotzdem will er das weisse Pulver so rasch wie möglich zu Geld machen, um sich seinen Traum zu verwirklichen und sich auf den Bahamas zur Ruhe zu setzen. Doch der Plan geht nicht ganz auf: Während er kaum jemanden in der Szene kennt, spricht sich dort rasch herum, dass es einen neuen "Schneemann" gibt. Seine Naivität als Dealer zeigt sich an einer Party, wo ein Gast unter dem Szenebegriff "Charley" nach Kokain verlangt, Blum die Frage aber komplett missversteht: "Ich höre gerade, wir haben Charley im Haus. Sind Sie das?" "Tut mir leid, ich heisse Blum" (64).

Blum ist auf der Hut und will sich keineswegs übervorteilen lassen. Doch jeder Deal, den er anzetteln will, platzt vorschnell oder scheitert an seiner Sturheit, da er kaum bereit ist, Kompromisse einzugehen: "Sekt oder Selters", lautet seine Geschäftsdevise. So bleibt er nolens volens auf seinem Stoff sitzen: "und hier hockte er in diesem Zimmer in einer Absteige und brachte es nicht fertig, fünf Pfund Kokain zu Geld zu machen" (95). Stattdessen lernt er Cora, eine "blonde Kifferschlampe" (107), kennen, die ein Dach über dem Kopf sucht. Gemeinsam gehen sie in Blums Absteige, wo er zum ersten Mal selbst kokst, bevor er mit Cora eine explosive Liebesnacht durchlebt.

Cora vermittelt ihm kleinere Deals mit Szeneleuten, doch Blum ist nicht daran interessiert, selbst zu dealen, er will den Stoff auf einmal abstossen und dann verschwinden. Je länger er auf dem Koks sitzen bleibt, desto nervöser wird er. Blum fühlt sich zusehends von der Mafia, vom "Syndikat", von unberechenbaren Junkiebräuten und von der Polizei verfolgt. Selbst Cora vertraut er nicht mehr. Er schlittert in eine veritable Paranoia, wähnt sich sich schon als "Butter-Blume" (157) in der Fernsehsendung Aktenzeichen XY verfolgt wähnt. Seine Situation kommentiert er einmal lapidarisch: "Was den Koks betrifft, bin ich vielleicht Amateur, aber was das Überleben angeht, bin ich 40 Jahre in der Branche." (77)

Als er eines Abends tatsächlich sein Hotelzimmer durchsucht vorfindet, beschliesst er über die Grenze nach Amsterdam zu fahren, was ihm nach einigen Umwegen auch gelingt. Dort warten auf ihn alte Bekannte: Harry Hackensack aus Malta, der sich als ehemaliger CIA-Agent entpuppt, Larry (ebenfalls aus Malta), ein australischer Söldner, der bei der Drogenfahndung untergekommen ist, und der Missionar Norman. Alle drei haben im Vietnamkrieg ihr Geld verloren und wollten es durch Koksverkauf wieder zurückbekommen. Dummerweise durchkreuzte Blums Zufallsfund ihre Pläne, so dass sie ihre 'Vorsorge' nun von ihm zurückverlangen, generös aber anbieten, er bekäme als Unterhändler eine kleine Provision. Doch Blum winkt konsterniert ab: "ihr macht doch immer die gleiche alte Scheisse. Regierung. Mission. Krieg" (246). Er pfeift auf das Geschäft, bleibt "ein Sieger im Kleinen" (248) und schaut sich die Strip-Show in der Roxy-Bar an.

Der Roman gefällt nicht nur aufgrund seines zuweilen fast parodistischen Hard-Boiled-Charakters, sondern auch wegen seiner satirischen Stossrichtung, die so manches Klischee lustvoll übersteigert. Insbesondere die Schilderung der Kreise von Kokainkonsumenten - vom Mafiaboss über die Werbebranche und Kreativwirtschaft bis zur Sponti-Szene - stellt die Beobachtungsgabe des Autors ebenso unter Beweis als auch seinen herrlich trockenen Sarkasmus, den er der passenderweise Aussenseiterfigur Blum in den Mund legt: "Dagegen die Flottmeister aus der Kunstgewerbesprache, von denen hatte er nun die Schnauze aber gestrichen voll." (146)

Bereits 1985 wird der Roman mit Marius Müller-Westernhagen in der Hauptrolle des - wie er nun anstatt Blum heisst - Dorn verfilmt: "frei" nach der Vorlage von Fauser. In der Tat: sehr frei. Mit dem Roman hat der Film, abgesehen von der Kokain-Geschichte, kaum mehr etwas zu tun. Die Handlungsstränge werden verkürzt und neu zusammengeknüpft, so dass aus der vergeblichen Suche nach einem Abnehmer eine Verfolgungsjagd und aus der kurzen Amour fou mit Cora eine finale Romanze wird. Anstatt alleine im Stripclub zu landen, verzichtet Dorn auf das Geld, das er im Film tatsächlich mit dem Kokain umsetzen kann, für eine gemeinsame Zukunft mit Cora ohne kriminelle Basis.

Jörg Fauser: Der Schneemann. Roman. Hamburg, Zürich: Luchterhand-Literaturverlag, 1992.

Mittwoch, 3. September 2025

Steven Hall: Gedankenhaie (2007)

Vor fünfzig Jahren kam Jaws von Steven Spielberg in die Kinos und ging als erster Kassenschlager Hollywoods - als Monster-Blockbuster im wahrsten Wortsinn - in die Filmgeschichte ein. Spielbergs Geniestreich brach alle Rekorde: Er gilt bis heute als kommerziell erfolgreichster Kinofilm und setzte neue Massstäbe für Hollywood-Produktionen. Der damals noch nicht einmal 30jährige Regisseur - Spielberg war beim Dreh 29 Jahre alt - zeigte allen, wie man Filme und Geld macht ("making movies and money"). Das führte natürlich Trittbrettfahrer und Nachahmer auf den Plan. Das Genre des 'Haifischfilms' explodierte förmlich und zog eine unüberschaubare Fülle von Adaptionen und Fortführungen nach sich - mitunter auch plumper oder hirnrissiger Art, wie Sand Sharks, die sich durch den Strand fressen, oder in Sharknado, wo Haie, aufgewirbelt durch einen Tornado, über die Luft angreifen. Steven Hall setzt dem allem mit seinen Raw Shark Texts (wie das Buch im Original heisst) die Krone auf: Diese Gedankenhaie schwimmen durch die Informationsflüsse und fressen Gedächtnisinhalte auf ...

Das Buch erschien zwei Jahre nach Jonathan Safran Foers Unglaublich laut (2005) und operiert wie dieser Roman mit typographischen Spielereien in der Tradition der visuellen Poesie. Wie bei Foers handelt es sich um eine Spurensuche, wobei die Indizien in Form von Codes, Karten, Plänen, Diagrammen und Kryptogrammen oder graphisch speziell gestalteten Seiten mimetisch abgebildet sind, um dem Leser selbst in den Erfahrungsmodus eines Fährtenjägers zu versetzen. (An einer Stelle wähnt sich der Protagonist gar als "Indiana Jones", 232) Wo Foers einen autistischen Jungen auf die Suche nach seinem Vater setzt, begibt sich Eric Sanderson, der Protagonist von Steven Hall, auf die Suche nach seinem früheren Ich, denn er leidet angeblich an einem Gedächtnisverlust, der die gesamte Erinnerung an seine Person einfach gelöscht hat. Seine Psychotherapeutin meint, es handle sich um eine Extremform des Fugue-Syndroms, um eine Persönlichkeitsflucht, ausgelöst durch ein traumatisches Ereignis - in Sandersons Fall ein tödliches Unglück seiner Freundin Clio.

Sanderson selbst jedoch hat eine andere Theorie. Zumindest der Sanderson vor dem Gedächtnisverlust, der sein dementes Ich mittels hinterlegten Nachrichten über die Ursache seiner Amnesie informiert. Der Romananfang erinnert an Christopher Nolans Film Memento, wo Guy Pearce ebenfalls jeden Tag aufwacht und sich nur dank tätowierten Informationen seine zweifelhafte Identität aufrecht erhalten kann. Hall schildert Sandersons erwachen als eine "Wiedergeburt" (106) in ein "zweites Leben" (7): die Eingangspassage liest sich, als würde der Protagonist nochmals aus dem Uterus kriechen: "und ich, blind, zitternd, presste meinen verschleimten Mund fest in die hohle Hand und versuchte, zwischen den Fingern hindurch möglichst systematisch zu atmen" (7). Angesichts dessen, dass Freud das intrautesine Dasein als ozeanisches Gefühl umschrieben hat, erinnert die Szene auch an Jemanden, der aus den Tiefen des Ozeans wieder ans Tageslicht auftaucht - und das ist gerade der springende Punkt.

Wie Sanderson der Zweite nämlich sukzessive von den brieflichen Mitteilungen seines Vorgängers erfährt, war dieser beim Versuch gescheitert, seine tote Freundin wieder zum Leben zu erwecken, indem er mit Hilfe von Dr. Trey Fidorous - dem "Klischee des wahnsinnigen Professors" (235) - die Vergangenheit qua Erinnerung manipulieren wollte, dabei aber unversehens einen Grauen Schwammkopf-Geisterhai aktivierte, der nun Jagd auf ihn machte, sein Hirn häppchenweise auffrass und ihn schliesslich mit sich in die Tiefe der Amnesie riss. Diese Bestie zählt als "Konzepthai" zu den "Gedanken-, Wort- und Phantasiefischen" (263), gilt als "persistenter, mnemonischer Räuber" (264) und ist ausgestattet mit "perfekt ausgebildeter Gedanken-Flosse" (161 bzw. 68) sowie einem Rachen "bestückt mit Okhams Klingen" (290): "Das Auge im Schwammkopf ist eine nachtschwarze Null, ein Tintenklecks, ein dunkles Loch in der Welt." (290). Im Text erscheint er in visualisierter Form, zusammengesetzt aus Buchstaben und Textfragmenten, die sich an einer Stelle wie in einem Daumenkino in Bewegung setzen, so dass der Hai plötzlich auf die Lesenden zuschwimmt.

Sanderson begibt sich auf die gelegten Fährten seines früheren Ichs, um Dr. Fidorous aufzusuchen und durch ihn mehr über seine gelöschte Vergangenheit zu erfahren und die Möglichkeit, sich vom Gedankenhai wieder zu befreien. Auf seinem Suche begleiten ihn sein Kater "Ian" und "Scout", eine couragierte junge Frau, die ihm den Weg in den "Unraum" zu Fidorous weist. Dieser lebt abgeschottet in einem unterirdischen Bücherlabyrinth, um sich von den Angriffen des Gedankenhais zu schützen: Denn die Vielzahl an Informationen kann dieser nicht durchdringen (221). Es stellt sich heraus, dass Scout ein analoges Problem wie Eric hat: Sie wurde von der grossen Datenkrake Mycroft Ward gehackt, die sich fortlaufend ausdehnt und ihre virtuelle Existenz auf verschiedene Wirtskörper wie auf Server verteilt. Der Plan besteht nun darin, den Gedankenhai auf Mycroft ward loszulassen, um beide zu neutralisieren: "Gegen ein kollektives Riesenbewusstsein wie Mycroft Ward hilft nur ein Gedankenfresser wie der Geisterhai, das ist gewissermassen wie Materie und Antimaterie, sie heben sich gegenseitig auf. Bumm." (246)

Das Finale spielt sich als Showdown wie im Film Der weisse Hai (Jaws) ab. Die Dreiermannschaft von Fidorous, Eric und Scout sticht mit ihrem Schiff, der Orpheus (nicht die Orca wie im Film), auf hohe See und macht Jagd auf den Hai, indem sie ihn zu ködern versuchen und ihm Fässer mittels Harpunen in den Leib rammen, damit er nicht entkommen kann. Wie im Film erweist sich der Hai jedoch viel gerissener und mächtiger als vermutet, taucht unter, führt die Besatzung in die Irre und attackiert letztlich das Boot. Das Psychodrama, das sich hinter dieser Haifischjagd abspielt, betrifft jedoch Erics traumatisches Erlebnis mit seiner Freundin Clio, als deren Reinkarnation sich, wenig überraschend, die kecke Scout entpuppt, zu der sich längst eine neue Liebschaft angebahnt hat. Inmitten des Grande Finale der Haiattacke sagt zu ihm die erlösenden Worte und sprich ihn von der Verantwortung ihres Todes frei: "Es war nicht deine Schuld." (426) Das Buch endet ambivalent: Einerseits mit einem Happy End der Wiedervereinigung, andererseits mit dem Tod (Suizid?) von Eric. Kurz davor schreibt er an seine Psychotherapeutin eine Postkarte mit der Mitteilung: "Mir geht es gut, ich bin glücklich, aber ich komme nicht mehr zurück," (428)

Die Frage, ob der Ich-Erzähler unter einer Psychose leidet, sich also alles nur einbildet, oder es tatsächlich erlebt, anders formuliert: ob es sich um einen psychologischen oder einen Fantasyroman handelt, ist müssig, zumal der Gedankenhai in beiden Fällen als Monstertrope für das Trauma fungiert. Er verkörpert das Verdrängte, die unbewusste Ängste, die Schuldgefühle, das sich nicht dauerhaft unterdrücken lässt, sondern in Form eines schrecklichen Ungeheuers an die Oberfläche dringt. Der Textkörper des typographisch visualisierten Hais besteht deshalb aus dem dritten Teil des Glühbirnen-Fragments, der man erst am Ende in integraler Form lesen kann. Es enthält die Ursache für die Psychose. Man erfährt, dass Clio bei einem Tauchgang ums Leben kam, bei dem sie unter Wasser Fische fotografierte - mit einer Kamera, die ihr Eric einen Tag zuvor geschenkt hatte. Daher sein Gefühl, schuld an ihrem Tod zu sein; daher auch der Grund, weshalb sich diese unaufgearbeitete Schuld ausgerechnet in Form eines Hai-Fisches manifestiert. 

Das Buch beginnt vielversprechend, verliert sich dann aber rasch in einer konventionellen Abenteuergeschichte, deren Cyperpunk-Charme nicht über die Willkürlichkeit des nur anfänglich besonders ausgeklügelt erscheinenden Handlungsverlaufs hinwegtäuschen kann. Steven Hall arbeitet auch als Game Designer - und das merkt man dem Roman an, der streckenweise wie ein Videogame aufgebaut ist, verschiedene Szenerien kreiert und die Protagonisten von einer Aufgabe zur nächsten führt. Eine blühende Phantasie ist dem Autor jedenfalls nicht abzusprechen, doch reicht das nicht für einen gelungenen Roman, wenn die Spracheebene trotz dem Einsatz typographischer Extravaganzen kaum mithalten kann. Er verbleibt dann auf dem Niveau eines Game-Plots, das zwar spannend, aber auf die Dauer auch belanglos wirkt. Abgesehen von den wilden theoretischen Spekulationen bleibt die Sprache bis auf wenige Ausnahmen unauffällig, um nicht zu sagen farblos, und schmiegt sich ganz und gar dem Plot an. Originelle Vergleiche wie dieser sind leider Einzelfälle: "Die Luft im Tunnel roch nach einem antiquarischen Dickens-Roman." (226)

Steven Hall: Gedankenhaie. Thriller. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay, Susanne Hornfeck und Sonja Hauser. München: Piper Verlag, 2007.