Freitag, 22. August 2025

Haruki Murakami: 1Q84. Buch 1 & 2 (2009)

Vor einem Jahr pfiff sich das Lesefrüchtchen seinen ersten Murakami (Kafka am Strand) rein und war, nun ja, mässig begeistert. Nun knöpft es sich, um dem Autor nochmals eine Chance zu geben, sein Opus magnum vor, auch weil es wohl keine idealere Sommerlektüre geben kann als einen Murakami, der sich in einem Flow wegliest, auch wenn das Buch über 1000 Seiten umfasst. Das Erstaunliche an Murakami ist ja, dass es einem trotz des narrativen Füllmaterials nie langweilig wird. Seine Prosa erzeugt einen eigentümlichen Sog, der über die Inhaltsleere hinweghebt. Gerade deshalb muss man sich bei Murakami aber auch darauf einstellen, dass man sich ab einem gewissen Punkt verarscht vorkommt, wenn sich die hochgekochte Geschichte als dünnes Süppchen erweist: als letztlich zwar technisch brillantes, hochpoliertes, geschmeidiges, aber leider auch substanzarmes Erzählkonstrukt. Es verhält sich, wie es im Roman selbst einmal heisst, dass man "am Ende in einem geheimnisvollen Bassin aus Fragezeichen" (660) zurückgelassen wird, weil es "wie üblich [...] einfach zu viele Fragen und zu wenig Antworten" (910) gibt.

Dabei beginnt der Roman mit einer spektakulären, filmreifen Ouvertüre (musikalisch untermalt von Janaceks Sinfonietta), die man so rasch nicht vergessen wird: Auf der Autobahn Nr. 3 steckt Aomame im Stau in einem Taxi fest, aus dessen Lautsprecher die Sinfonietta erklingt, die sie sofort erkennt, ohne zu wissen warum. Da sie zu einem dringenden Termin muss - und zwar, wie sich als Überraschungseffekt herausstellen wird, um jemanden umzubringen - rät ihr der Taxifahrer, die Notfalltreppe bei der Esso-Reklametafel zu benutzen. Aomame hat noch nie von einer solchen Notfalltreppe gehört, trotzdem beschliesst sie, dem Hinweis des Chauffeurs zu folgen, der ihr noch folgenden Rat mit auf dem Weg gibt: "Die Dinge sind meist nicht das, was sie zu sein scheinen." (18) Das klingt ziemlich nach Twin Peaks. Und der Fahrer fügt noch an: "Aber man darf sich vom äusseren Schein nicht täuschen lassen. Es gibt immer nur eine Realität." (19) Doch just in dem Moment, als Aomame die Treppe (die am Schluss des Romans nicht mehr vorhanden ist) hinuntersteigt, gleitet sie - was sie zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht weiss - in eine andere Realität hinüber: vom Jahr 1984 ins Jahr 1Q84. So als ob "eine zeitliche Schiene", eine "Weiche umgestellt" wurde (802).

Das Q steht für Question Mark, ausserdem sind der Buchstabe Q und die Zahl 9 im Japanischen phonetisch identisch, sodass 1Q84 wie 1984 ausgesprochen wird. Die Referenz auf George Orwells Dystopie ist offensichtlich. Sie findet im Roman auch mehrfach Erwähnung. Doch ist Murkamis Roman keine Neuauflage von Orwells Klassiker. Wie immer bei ihm wird solches Bildungsgut nur oberflächlich eingestreut. Murakami bietet keine kritische Zukunftsvision eines totalitären Systems, sondern eine Fantasiewelt mit zwei Monden am Himmel, wo es um einen universalen Kampf gegen Gut und Böse geht, in den nolens volens die beiden Charakter Aomame und Tengo einbezogen sind, die in der Kindheit eine Art Seelentausch erlebten, als Tengo sich für die gehänselte Aomame zur Wehr setzte, und deshalb täglich aneinander denken müssen, obschon sie sich seit dem 10. Lebensjahr aus den Augen verloren haben: "Dennoch war ihm, als habe Aomame damals einen Teil von ihm mit sich genommen. Einen Teil seiner Selle oder seines Körper. Und dafür einen Teil von sich in ihm zurückgelassen." (632) Im Jahr 1Q84 sind ihre beiden Schicksale miteinander verknüpft, ohne dass sie davon wissen.

Tengo Kawana ist ein zurückgezogener Mathematik-Dozent, der in der Freizeit seinen literarischen Ambitionen nachgeht, ausser kleineren Auftragsarbeiten aber noch keinen eigenen Roman veröffentlicht hat, nun aber die Gelegenheit erhält, als Ghostwriter zu arbeiten. Bei seinem Verleger ging ein spektakuläres Manuskript eines Mädchens namens Fukaeri ein, das trotz sprachlicher Mängel (Fukaeri leidet an Legasthenie, 179) jeden sofort in den Bann zieht. Tengo soll den Text für eine Publikation aufpolieren. Von Anbeginn ist er selber so begeistert von der Geschichte, dass er einen intrinsischen Drang verspürt, sich dem Text zu widmen. Mehr noch versteht Tengo die junge Autorin Fukaeri als "eine an mich gerichtete Botschaft" (492). Die Roman Die Puppe aus Luft, die wie ein "Märchen" (932) anmutet, dreht sich ebenfalls um ein Mädchen, das in einer Kommune mit strengen Regeln aufwächst. Einer Art Sekte, die ähnlich totalitär organisiert ist, wie Orwells Ozeanien. Als sie eines Tage zur Strafe in den "Raum der Selbstkritik" (926) gesperrt wird, kriechen die Little People aus dem Maul einer toten Ziege und beginnen mit dem Mädchen eine Puppe aus Luft zu spinnen, ein leuchtender Kokon, in dessen Innern ein Klon des Mädchens reift, ihre sogenannte "daughter", der "Schatten" ihrer "Seele" (935, 937).

Phantastisch genug, deutet alles darauf hin, dass die Geschichte nicht erfunden ist, es sich viel mehr um autobiographische Erlebnisse handelt. Erzähltechnisch wird kein Zweifel daran gelassen, dass im Jahr 1Q84 die Little People existieren, und zwar in einer genialen Szene, die in ihrer Schlichtheit äusserst effektiv ist. Während die Little People lange Zeit nur in Fukaeris Buch oder in Figurenreden erwähnt werden, es sich also um ein Hirngespinst handeln könnte, erwähnt sie der auktoriale Erzähler plötzlich relativ unvermittelt, als sie aus dem Mund eines Mädchens kriechen, das aus derselben Sekte der "Vorreiter" entflohen ist, von der auch Fukaeris Buch handelt. Mehr noch der "Leader" der Sekte ist niemand anders als Fukaeris Vater, den Aomame im Auftrag einer alten Dame ins Jenseits befördern soll. Aomame, die hauptberuflich in einem Fitnesscenter jobt und zehn Arten kennt, wie man Männern in die Eier tritt, arbeitet nebenher als Auftragskillerin für die vermögende alte Dame. Diese leitet ein Frauenhaus und hat es sich zur Lebensaufgabe gestellt, Femizide und Vergewaltigungen zu rächen. Auch der "Leader" steht im Verdacht, junge Mädchen rituell zu missbrauchen, weshalb er auf der Abschlussliste steht.

Die Begegnung des Leaders mit Aomame ist eine der Schlüsselszenen des Romans. Allein schon der Auftakt, wie Aomame das Hotel betritt und von den Leibwächtern nach oben geführt wird, beweist Murakamis atmosphärisches Erzähltalent. Unter dem Vorwand, sein körperliches Leiden durch eine Massage lindern zu wollen, wird ein Treffen in einem Hotel arrangiert, während sich draussen ein heftiges Unwetter anbahnt. In einem langen Gespräch erläutert der Leader nicht nur die Mythologie der Little People und erklärt, dass er keineswegs mit dem Mädchen in der Sekte schlafe, sondern mit ihren Avataren, den Puppen aus Luft, um sich mit ihnen zu vereinigen, wobei die Mädchen als "Perciever" der Little People fungieren und er selber als "Reciever". Die Little People seien erzürnt, weil Fukaeri ihr Geheimnis mit dem Buch ausgeplaudert und sich ausserdem von der Sekte losgesagt habe, um wieder ein Gleichgewicht zwischen den guten und bösen Kräften im Universum herzustellen, indem sie sich mit Tengo zusammentat, der nun für sie als "Reciever" dient. Tatsächlich ereignet sich zur selben Zeit, als das Gewitter losbricht, eine mystische sexuelle Vereinigung zwischen Fukaeri und Tengo, der körperlich völlig erstarrt, aber mit stramm aufgerichteter Penisantenne auf dem Bett liegt und den rituellen Akt über sich ergehen lässt.

Von zwei Seiten her, sind Aomame und Tengo also in die rätselhaften Vorgänge verstrickt. Fukaeri offenbart Tengo auch, dass sie Aomame ganz in der Nähe befinde, ohne genau sagen zu können wo. Nach ihrem Auftragsmord, den sie schliesslich im Einverständnis des Leaders, der sterben will, ausführt, taucht sie in einer Wohnung unter, unweit von Tengos eigenem Heim. Als er nach dem Koitus mit Fukaeri zum ersten Mal die beiden Monde am Himmel erblickt, sieht ihn von ihrem Fenster aus auch Aomeme, wie er auf dem Spielplatz im Hof oben auf der Rutsche sitzt. Intuitiv erkennt sie, dass es sich um Tengo handeln muss, den sie sehnsüchtig vermisste und sich doch nie auf die Suche nach ihm machte, sondern ihr bisheriges Leben auf die zufällige Wiederbegegnung wartete. Doch auch in diesem Moment verpassen sie einander. Tengo ist sich nicht einmal bewusst, dass er beobachtet wird. Wenig später jedoch, am Ende des Romans, sieht er auf dem Bett seines todkranken Vaters eine Puppe aus Luft in deren Kokon er das Abbild der 10jährigen Aomame erblickt. In diesem Augenblick weiss Tengo, sie haben sich "gefunden." (1021)

In der Nacherzählung wirkt vieles platt, wie Teenagerliteratur für Erwachsene, garniert mit einigen Sexszenen. Die Stärke von Murakami liegt eindeutig in der narrativen Technik, wie er die eigentlich hanebüchene Geschichte auf tausend Seiten auswalzt und vor allem durch die Parallelführung der beiden Erzählstränge von Aomame und Tengo und eine dosierte Informationsverteilung so geschickt aufbaut, dass ein permanenter Spannungsbogen aufrecht erhalten wird, der zum Weiterlesen zwingt. Nur sukzessive gibt der Roman die Zusammenhänge preis. Zwischendurch werden Alltagsroutinen und allgemeine Beobachtungen bzw. Reflexionen eingestreut in Form von Floskeln und Lebensweisheiten, so allgemeingültig, dass sich jeder damit einverstanden erklären kann. Wie überhaupt die Prosa äusserst austariert und glattpoliert ist und sich, abgesehen von gewissen übertrieben bildhaften Vergleichen, keine Exzentrizitäten erlaubt. Zum Beispiel: "und öffnete die Flache mit einer knappen präzisen Handbewegung, fast als würde er einem Vogel den Hals umdrehen" (556). Oder: "Doch in dieser kurzen Zeit hat ich seelisch und körperlich angerührt. Wie man mit einem Löffel eine Tasse Kakao umrührt." (983 f.) Dezente Stilbrüche in einer sonst unauffälligen Prosa.

Es gibt noch einen dritten Teil, den das Lesefrüchtchen nicht gelesen hat. Gemäss der Einschätzung auf Fanforen handelt es sich eher um einen müden Aufguss und bietet nicht wirklich Neues. Und irgendwie ist das offene Ende, das zugleich schon vorwegnimmt, dass sich Tengo und Aomame wieder begegnen werden, auch besser. Das zweite Buch schliesst mit dem Satz: "Ich werde Aomame finden, bekräftigte er seinen Entschluss. Was auch geschieht, wo und wir sie auch sei." (1021)

Haruki Murakami: 1Q84. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Köln: DuMont Buchverlag, 2010.

Sonntag, 17. August 2025

J. M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K. (1983)

Ein Buch, das bei fortschreitender Lektüre immer stärker in den Bann zieht. Wie sich die Hauptfigur, der tumbe Tor Michael K., nicht nur radikal von der Gesellschaft abwendet, sondern sich aus dem Leben richtiggehend zurückzieht und sich eine eigene Welt ausserhalb aller menschlichen Bindungen einrichtet und damit seine innere Abgeschiedenheit durch die äussere Isolation sinnfällig werden lässt, ist in der geschilderten Konsequenz von einer beunruhigenden Wucht. "Er ist nicht von unserer Welt. Er lebt in einer ganz eigenen Welt." (174), sagt ein ihn untersuchender Arzt einmal fassungslos. "Du hast Dein ganzes Leben geschlafen" (111), sagt Robert, eine andere Figur.

Freilich ein Aussenseiter war der mit einer Hasenscharte geborene Michael K. schon seit seiner Geburt: ein eingeschlossener/ausgeschlossener Dritter, wie Michel Serres seine Denkfigur des Parasiten umschreibt. Einer, der nicht ins System passt und doch notwendig mit ihm zusammenhängt. Als Parasit versteht sich K. selbst: "Doch im übrigen lebte er jenseits von Kalender und Uhr in einer gesegnet vernachlässigten Ecke, halb wachend, halb schlafend. Wie ein im Darm dösender Parasit" (143). Die Metapher wird später vom Erzähler nochmals aufgenommen: "Michaels hat die Därme des Staates unverdaut passiert." (197). Michael K. wird in seiner Passivität - er will im Grunde nichts anderes als schlafen, vegetieren - zu einer seltsamen Widerstandsfigur inmitten von Bürgerkriegswirren. Je nach Perspektive "eine Witzfigur, ein Clown, ein Holzkopf" (183) oder - ein Heiliger.

Daran appelliert das Zitat von Heraklit, das dem Roman vorangestellt ist. Und zwar das berühmte Diktum, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei. Doch das Zitat geht noch weiter, wenn es heisst: "die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen; die einen zu Sklaven, die andern zu Freien." Michael K. gehört zu Letzteren: Ohne es zu beabsichtigen, geht er aus den Kriegszuständen als Verkörperung absoluter Freiheit hervor: als eine Art Adamit, der sich als "Kind dieser Erde" in seinem selbsterschaffenen Paradiesgärtchen, seinem "Garten Eden" (190), verkriecht, um "sich in den Eingeweiden der Erde zu vergraben, als deren Geschöpf zu werden" (132) Darin mündet schliesslich die Erkenntnis des Protagonisten: "die Wahrheit, die Wahrheit über mich. Ich bin ein Gärtner" (219). 

Der Roman erzählt die Geschichte einer Person, die eigentlich nicht existiert - oder nicht existieren dürfte: ein "ungeborenes Geschöpf" (166), ein Häuflein menschlicher Abfall, das "in einer Welt wie dieser nie hätte geboren werden sollen" (190) -, aber gerade dadurch zum Existential wird: von einem (mit Hasenscharte) Gezeichneten zu einem Zeichen der Zeit. Michael K. will mit seiner kranken Mutter zurück von Kapstadt in ihre Heimat aufs Land ziehen, in der Hoffnung auf gesundheitliche Besserung. Doch auf dem Weg stirbt sie und Michael erreicht sein Ziel nur mit einem Päckchen Asche unter dem Arm, das er auf dem ehemaligen Landgut verstreut, in ihrer Ackererde Kürbisse und Melonen züchtet und sich selbst, aus Furcht vom Militär entdeckt zu werden, in die Muttererde vergräbt, wo er in einer uterusähnlichen Grube haust.

Die Früchte aus der mit der Mutter gedüngten Scholle zieht er wie Ersatzkinder hoch: "Er lag in seinem Bau und dachte an diese seine zweiten Kinder, wie sie den Kampf aufnahmen durch die dunkle Erde zur Sonne empor." (126) Seine Zeit verbringt er neben der Kürbissucht hauptsächlich mit Schlafen. Er isst immer weniger. Schliesslich wird er halb verhungert von Soldaten aufgespürt, die ihn für einen Widerstandskämpfer halten, der hier Notvorräte für seine Verbündeten anlegt. Sie schleppen ihn in ein Militärlager und wollen ihn zu einem Geständnis zwingen. Doch Michael bleibt so verstockt und wortkarg, wie er auch jegliche Nahrungsaufnahme verweigert. Egal ob im Lager oder draussen: Überall versuchen die Menschen vergeblich, ihn wieder zum Essen zu bewegen. Doch er entzieht sich jedes Mal solcher "Nächstenliebe" (218) und verharrt in seiner hermetisch verschlossenen Welt.

Es dauert ein wenig, bis der Roman in Schwung kommt. Lange Zeit fragt man sich, worauf die Geschichte hinausläuft und weshalb sie erzählt wird, bis sich die existentielle Dimension mit zwingender Logik audrängt: Was sich hier am Rande der südafrikanischen Bürgerkriegs abspielt, ist eine einzige Parabel auf das Dasein, erkennbar an so ungeheuerlichen Sätzen wie diesen: "Es schien nichts zu tun zu geben als zu leben." (85) Eine Erkenntnis, die Michael K. in einem Wiedereingliederungslager ereilt. Das Lager wird so zur Metapher für die Conditio humana ("Soll ich hier in diesem Lager endlich etwas über das Leben erfahren?", 112) - und K.'s Fluchtversuche zum Ausdruck des Wunsches, die menschliche Gesellschaft hinter sich zu lassen: "Die Wahrheit ist vielleicht, dass es genügt, ausserhalb der Lager zu sein, ausserhalb aller Lager zugleich." (220)

Doch werden solche Deutungsversuche vom Roman direkt wieder sabotiert, zumal die Frage nach der Symbolik des Protagonisten selbst zum Thema wird. Die Figur des sich restlos verweigernden Michael K. stellt nicht nur ein Rätsel, sondern für die Gesellschaft zugleich ein Ärgernis dar, weshalb von allen Seiten versucht wird, ihn zu 'verstehen' und wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. Es gehört mit zur ausgeklügelten Erzählweise, dass der zweite von drei Teilen aus der Sicht eines Arztes geschildert wird, der - getrieben von einem "Verlangen nach Bedeutung" (202) - K. "Geheimnis" (201) unbedingt ergründen will, letztlich aber einsehen muss, dass jeder Erklärungsversuch zum Scheitern verurteilt ist. Coetzee installiert somit die Position des hilflosen Interpreten in der Geschichte selbst. K. wiederum hält seine Geschichte folgerichtig für "unbedeutend" (212).

Literarische Referenzen gibt es viele: vom Schelmenroman bis zur Robinsonade. Vor allem aber steckt viel Kafka in dem Roman, worauf das Initial K.* des Protagonisten bereits hindeutet: In seiner Essensverweigerung gleicht er dem Hungerkünstler, seine Lagererfahrungen lassen Erinnerungen an die Strafkolonie wach werden, und wie er sich, einem "Maulwurf" (132, 219) ähnlich, in der Erde verkriecht, gleicht er dem wühlenden Tier im Bau. Auch Parallelen an die Verwandlung lassen sich ziehen, da K. eine Art Metamorphose zu einem sozialem Ungeziefer vollzieht. Einmal wird er tatsächlich auch ein "stockartiges Insekt" (183) genannt. Und schliesslich ist im deutenden Arzt, der in Michael K. eine "sich ballende Bedeutsamkeit" (202), gar ein "Symbol" (203) erblicken will, eine Referenz an die Exegese der Türhüter-Legende im Process-Roman zu erblicken, wo die hermeneutische Vergeblichkeit ebenso vorgeführt wird.

J.M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K. Roman. Aus dem Englischen von Wulf Teichmann. 5. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2003.

*Nachträgliche Anmerkungen: Bei "Michael K." denken die literaturhistorisch beschlagenen Leser, zu denen freilich auch Coetzee gehört, selbstverständlich auch an Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist. Coetzees Michael K. ist quasi die Antithese zu Kohlhaas: kein blinder Wüterich gegen die Ungerechtigkeit, sondern, wenn man so will, eine Figur der passiven Aggressivität - und darin wiederum auch dem Schreiber Bartebly aus Melvilles gleichnamiger Erzählung verwandt, dessen bedingungslose Verweigerungshaltung ebenso unerklärlich wie provokant ist.

Freitag, 15. August 2025

Juan Rulfo: Pedro Páramo (1955)

Juan Rulfo gilt als Ikone und Modernisierer der mexikanischen Literatur. Obschon - oder vielleicht gerade weil - er nur ein schmales Oeuvre vorzuweisen hat. Er zählt zum Club der Ein-Buch-Autoren, die ausser einem bahnbrechenden Werk kaum etwas anderes mehr publizierten. Neben wenigen Erzählungen, die 1953 unter dem Titel Der Llamo in Flammen erschienen sind, ist es bei Rulfo der Kurzroman Pedro Páramo, der seinen Ruf als moderner Klassiker begründet hat. Jorge Luis Borges hält ihn für einen der besten Roman überhaupt.

Obschon es von Untoten und unerlöster Seelen nur so wimmelt, ist es kein Zombieroman. Vielmehr handelt es sich um einen höchst orchestrierten Chor der Toten: ein vielstimmiges Geflüster und Geraune ehemaliger Einwohner der mexikanischen Ortschaft Comala, das gleich zu Beginn schon als Purgatorium erscheint: "Da ist es wie auf glühenden Kohlen, wie im Höllenschlund. Wenn ich Ihnen sage, dass die Leute dort, wenn sie sterben, aus der Hölle wieder zurückkommen, um sich eine Decke zu holen." (4) Die Toten kommen tatsächlich zurück und berichten vom Schicksal des gefürchteten und verachteten Gutsherrn Pedro Páramo, der das Landgut Medialuna übernommen hat, nachdem sein Vater an einer Hochzeit in Vilmayo erschossen wurde (86). Bereits er war ein Tyrann, der einen gewaltigen Schuldenberg hinterliess.

Seinen Sohn Pedro hielt er für einen "Faulenzer" (43) und Nichtsnutz; doch dieser erweist als Nachfolger eine "Gerissenheit", die diejenige seines Vaters noch übertrifft. Er installiert sich als Autokrat und lässt alle nach seine Pfeife tanzen: "Von jetzt ab machen wir das Gesetz." (45). Er unterstützt sogar die Revolutionäre, um sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen (105). In einer zentralen Metapher wird er als Unkraut bezeichnet, das sich epidemisch vermehrt: "Die Sache fing damit an, [...] dass Pedro Páramo aus dem Nichts, das er gewesen war, zu einer Macht wurde. Er wuchs wie Unkraut." (75) Eine Gütergemeinschaft wegen hält er um die Hand von Dolores "Lola" Preciado an, die ihn aber bald verlässt, nachdem sie ihm einen Sohn namens Juan geboren hat, den sie mitnimmt. Aus seiner Perspektive wird der Roman anfänglich erzählt. Seine Mutter bitte ihn auf dem Totenbett, nach Comala zurückzukehren und seinen Vater aufzusuchen.

Der Roman beginnt mit Juans Reise nach Comala. Was er dort antrifft, ist jedoch nurmehr eine Geisterstadt. Nicht von ungefähr ist sie mit "Capitana", einem "Unkraut" (11) überwuchert, das symbolisch für die vernichtende Herrschaft (capitana bedeutet auch Anführer) unter Páramo steht. Juan begegnet verschiedenen Personen aus dem Umfeld seines Vaters, die sich aber rasch als Gespenster aus der Vergangenheit erweisen: "Damiana, sagen Sie, Damiana, sind Sie überhaupt ein lebendiger Mensch?" (48) - "Seid ihr auch Tote?" (52) Selbst Pedro Páramo ist, wie sich herausstellt, längst gestorben. Und bald liegt auch Juan im Grab - "in einem schwarzen Kasten, in einem richtigen Sarg" (82) - und lauscht dem Stimmengewirr der Toten, die ihm die Geschichte seines Vaters in fragmentarischer, unzusammenhängender Form erzählen. Literarisch werden diese Textstücke jedoch genial ineinander montiert, so dass ein flirrendes, kleidoskopartiges Gebilde entsteht, das Wirklichkeit und Phantasmagorie in ständiger Schwebe hält.

Pedro steht im Ruf eines "Wutnickel" (33) und "Hurensohn[s] von Gutsherrn" (35). Er führt ein selbstsüchtiges Leben und bedient sich der Frauen im Dorf nach Belieben. Doch sein Herz schlägt nur für seine Jugendliebe Susana, die er seit seiner Kindheit nie mehr gesehen hatte, sich aber in einer irrationalen Sehnsucht zu ihr verzehrt: als Wesen, "das er mehr liebte als irgendeinen anderen Mensch auf der ganzen Erde" (103). Diese fatale Liebe wird ihm und dem gesamten Ort zum Verhängnis. Das erkennt der Vater Susanas sofort, als er mit ihr nach Comala zurückkehrt: "Es gibt Dörfer, die schmecken nach Unglück. Das ist ein unglückliches Dorf, ganz und gar vollgesogen mit Unglück." (90) Gegen ihren Willen nimmt Pedro Susana zur Frau, doch diese verhält sich apathisch: Liegt tagelang im Bett in wirren Fieberträumen versunken (109), in denen sie ihrem verstorbenen Geliebten Florencio nachtrauert. Im Dorf gilt sie schon bald als "wahnsinnig" (92), als "eine arme Verrückte", die "Selbstgespräche" (119) führt, die man weitum hört: "Da schreit ein Mensch, aber das klingt nicht, wie ein menschliches Wesen schreit." (95)

Als Susana schliesslich stirbt, schwört Pedro Rache: "Er schwor, sich an Comala zu rächen." (125) So führt schliesslich alles zum Niedergang, auch von Pedro Páramo selbst. Am Ende vegetiert er, schon halb im Jenseits, beim "Paradiesbaum" dahin und hofft auf einen baldigen Tod, um der drückenden Last seiner Schuld zu entkommen: "Denn er hatte Angst vor den Nächten, die die Dunkelheit ihm mit Gespenster bevölkerte, Angst, mit seinen Gespenstern allen zu sein." (133). Der Roman ist das vielstimmige Geflüster dieser Gespenster, die Pedro Páramo auf dem Gewissen hat. Deshalb trägt der Roman seinen Namen als Titel, weil er sozusagen seine persönliche Nemesis darstellt. Dabei handelt es sich um einen telling name. In Pedro steckt der Stein (piedra) und tatsächlich zerfällt die Figur am Ende dieses symbolträchtigen Romans buchstäblich zu Stein: "Er schlug hart auf die Erde auf und fiel auseinander wie ein Haufen Steine." (133). Páramo wiederum bedeutet baumloses Hochland. Wie schon beim Vergleich mit dem Unkraut wird auch hier die Figur mit einer unwirtlichen Topographie gleichgesetzt.

Juan Rulfo: Pedro Páramo. Roman. Aus dem Spanischen von Mariana Frenk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975.

Dienstag, 12. August 2025

Aura Xilonen: Gringo Champ (2015)

Dieses Buch haut tüchtig auf die Fresse, verbal wie thematisch. Es geht um Liberio, einen jungen, ca. 18jährigen Mexikaner, der illegal über die Grenze in die Südstaaten gelangt und seine Weisheit auf der Strasse findet. Er lernt dort wortwörtlich, sich durchzuschlagen, sowie seine mit Kraftausdrücken gespickte Gossensprache, in der auch das Buch - aus seiner Erzählperspektive - geschrieben ist. An einer Stelle heisst es einmal, er würde mühelos den "Weltrekord der schlimmen Wörter" (188) halten. Unter die zwar vulgäre, doch durchaus originelle Ausdrucksweise mischt sich aber immer wieder Bildungsgut, was zu komischen Kombinationen von schief angewendeten Fremdworten führt: von "paläozoischen Prügeln" (160) ist die Rede, von "anapästischem Lachen" (154) oder "präteritivem Käse" (173).

Angeeignet hat sich der Waisenjunge dieses Vokabular in der Buchhandlung, in der er für den dubiosen "Chief", der mit Schöngeist bloss seinen grobschlächtigen, korrupten Charakter kaschiert, schwarz als Aushilfskraft arbeitet, dafür auf dem Dachboden des Geschäfts wohnen kann. Nächtens schleppt er dort Bücher hin und verschlingt mit Feuereifer die Klassiker von der Antike bis zum Goldenen Zeitalter unter Zuhilfenahme eines Wörterbuchs, da er anfangs kaum etwas versteht. Vor allem stört es ihn, dass die Literatur so rein gar nichts mit dem richtigen Leben zu tun hat, das in seinem Fall mit "all dem Pech" (116) tatsächlich alles andere als Romanhaft anmutet: "alles scheint hier gegen mich zu sein" (129), stellt Liborio einmal fest. In kursiv gesetzten Rückblenden rollt er gedanklich seine Herkunft und die Flucht über die Grenze auf. 

Seine leibliche Mutter hat er nie gekannt. Angeblich starb sie bei seiner Geburt. Aufgewachsen ist er bei einer Patenttante, die mehr wert darauf legte, lediglich die 'Patentante' zu sein als dass sie ihre Sorgfaltspflicht wahrgenommen hätte. Im Gegenteil: Sie unterversorgt, prügelt und beschimpft ihn. Ein tödlicher Unfall bei einem Strassenkampf zwingt ihn schliesslich, Mexiko zu verlassen. Er schafft es, schwimmend, mit letzter Kraft über die Grenze und bleibt wie leblos in der Wüste liegen, wo er von einer Gruppe von, ebenfalls illegal immigrierten, Baumwollpflückern aufgelesen wird. Einer Razzia dort entkommt er ebenfalls, wie durch ein Wunder, indem er stundenlang in einer Schlangenhöhle ausharrt. Seine Resilienz scheint übermenschlich: Er ist nicht nur ein Überlebender, sondern ein mehrfach Auferstandener (108, 143).

"Bin schliesslich tot auf die Welt gekommen" (7), heisst es gleich zu Beginn. Liborio ist einer, der nichts zu verlieren hat und deshalb alles einstecken kann. Das zeigt sich, als er eines Tages einer "Chica", die er heimlich anhimmelt, zur Hilfe eilt, als sie von Jungs belästigt wird. Er schlägt buchstäblich alle in die Flucht. Am nächsten Tag muss er deswegen seinerseits einstecken. Hinterrücks wir er von einer Truppe "Mickerficker" niedergeprügelt. Er liegt am Boden, lässt aber alle Fusstritte stoisch über sich ergehen, was eine abgehalfterte Journalistin filmt und online stellt. Der Clip geht viral und Liborio avanciert ohne sein Wissen zum Star. Erst recht, als ein zweites Video die Runde macht, in dem Liborio, der kurzzeitig als Sparringpartner dienen muss, einen Boxer in Sekundenschnelle ausser Gefecht setzt.

Doch das alles interessiert den jungen Immigranten herzlich wenig. Er hat nur Augen für die "Chica", die er verteidigt hat und die sich nach dem brutalen Angriff um ihn zu kümmern beginnt. Sie gibt ihm neue Schuhe und verschafft ihm unter dem Vorwand, er sei ihr Cousin, eine Bleibe. Es kommt zwangsläufig zu einer Annährung zwischen ihm und Airee. Beide werden jedoch abrupt bei einer Flucht vor der Polizei auseinandergerissen wird, als Airee beim Diebstahl eines teuren Medikaments für ihren Grossvater erwischt wird. Liborio kommt in einem Heim für Obdachlose unter, der "Sekte der Aufgeschmissenen" (191), wie sich die Insassen liebevoll nennen, und lernt dort die neunmalkluge Noemie kennen, die an ihren Rollstuhl gefesselt ist. Im Heim entdeckt man sein Boxtalent, weswegen er für eine Wohltätigkeitsveranstaltung in den Ring steigt - und selbstredend als Held aus dem Ring geht. Alle seine Gegner hat er in Nullkommanichts platt gemacht. Durch die erzielte Medienaufmerksamkeit gelangt das Heim zu neuen Gönnern und Liberio kann sogar, zusammen mit Noemie, eine Bibliothek dort einrichten.

Die Geschichte verläuft in absehbaren Bahnen sowohl, was die äusserliche Wende (der unterschätzte Underdog kämpft sich zum Erfolg), als auch die innere angeht (die Entwicklung zum moralisch gereiften Charakter, die sich übrigens auch sprachlich durch eine Abnahme der Gossensprache vollzieht), überzeugt aber stets mit plastisch ausgestalteten Szenen und Dialogen. Das Storytelling und die Figurenzeichnung sind handwerklich brillant, so dass die Lektüre spannend bleibt und zunehmend auch emotional berührt. Dabei ist es dem Roman hoch anzurechnen, dass er das ganz grosse Happy End vermeidet und Liborio die angehimmelte Aireen nicht für sich gewinnen kann. Sie heiratet einen anderen. Stattdessen kündigt sich eine Romanze zur gehbehinderten Noemie an - ein ungleiches Paar: wie Don Quijote und Sancho Pansa, so der letzte intertextuelle Wink am Ende des Romans.

Seit Erscheinen des international gefeierten und preisgekrönten Debüts, ist kein Zweitling der Autorin erschienen. In einem Text für die Neue Zürcher Zeitung vergleicht sie sich mit ihrem Landsmann Juan Rulfo und mit Harper Lee - beide sind nach ihren Erstlingswerken literarisch verstummt, haben jedoch Bleibendes hinterlassen. Man könnte auch J.D. Salinger nennen, mit dessen Holden Cauffield der Kämpe Liborio mehr als nur eine Gemeinsamkeit teilt. Ohne sich direkt in diese Fluchtlinie zu stellen, hinterfragt die Autorin den Sinn des Weiterschreibens, zumindest Weiterpublizierens, unter erhöhtem Erwartungsdruck, aber auch in einer Zeit, wo sich das Schreiben durch die Flut nicht nur an Gedrucktem, sondern auch durch unzählige Foren und Blogs, wie diesem hier des Lesefrüchtchens, selbst entwertet. Was ist der Sinn des Schreibens, wenn es keinen Spass mehr macht, wenn es zur Pflicht wird? Das nennt man Selbstbewusstsein: Landet mit 19 Jahren einen "fokkin" Beststeller und sagt dann: Das war's mit der Schreiberei, mehr ist nicht zu wollen.

Aura Xilonen: Gringo Champ. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. München: Carl Hanser Verlag, 2019.